Netzpolitik:
„Das Urteil wird das Internet nachhaltig verändern“

Die Prüfkriterien, die der EuGH an Google weitergereicht hat, sind unkonturiert
25.06.14 Interview mit Prof. Dr. Thomas Hoeren, Direktor des Instituts für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (ITM)
Der Suchmaschinenbetreiber Google kann dazu verpflichtet werden, Verweise auf Webseiten mit sensiblen persönlichen Daten aus seiner Ergebnisliste zu streichen. Das hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg entschieden. Ein solches Recht leite sich aus der EU-Datenschutzrichtlinie ab. Das Gericht befand, wenn Google „das Internet automatisch, kontinuierlich und systematisch auf die dort veröffentlichten Informationen durchforstet, ‚erhebt‘ der Suchmaschinenbetreiber personenbezogene Daten, die er dann mit seinen Indexierprogrammen ‚ausliest‘, ‚speichert‘ und ‚organisiert‘, auf seinen Servern ‚aufbewahrt‘ und gegebenenfalls in Form von Ergebnislisten an seine Nutzer ‚weitergibt‘ und diesen ‚bereitstellt‘“. Alle diese Vorgänge seien in der Datenschutzrichtlinie ausdrücklich genannt. Deshalb seien sie als „Verarbeitung“ einzustufen. Dabei komme es nicht darauf an, ob Google zwischen anderen Informationen und personenbezogenen Daten unterscheidet.
medienpolitik.net: Herr Hoeren, ist das EuGH-Urteil, dass Google künftig personenbezogene Suchergebnisse löschen muss, der erste Schritt in Richtung Internet-Zensur, wie es der Gründer des Online-Lexikons Wikipedia, Jimmy Wales, behauptet?
Thomas Hoeren: Das EuGH-Urteil ist kein Schritt in Richtung in Internetzensur. Der Begriff der Internetzensur passt einfach nicht. Zensur sind staatliche Vorabkontrollen von Texten. Hier geht es ganz einfach darum, dass de facto der Umfang der von Google bereitgestellten Links geringer werden wird. Vieles wird herausgestrichen werden, was man früher noch lesen konnte. Zum Teil ist dies in Ordnung und auch rechtlich geboten, wenn man vor allem daran denkt, dass völlig überalterte Informationen zur Diskreditierung der Betroffenen beitragen können. Zum Teil wird allerdings auch sicherlich Vieles gestrichen, was man – etwa bei der Beurteilung von Personen des öffentlichen Lebens – hätte wissen sollen. Das nun gerade Google (und wie bei der Zensur nicht der Staat) hier die Sense anlegt, ist eher bedenklich. Denn die Prüfkriterien, die der EuGH an Google weitergereicht hat, sind äußerst unkonturiert.
medienpolitik.net: Schadet dieses Urteil der Internet-Ökonomie?
Thomas Hoeren: Das Urteil ist gerade aufgrund seiner Ungenauigkeit eine Bedrohung für die Internetökonomie. Keiner versteht mehr nach dem EuGH-Urteil, was von wem und wie gesperrt werden müsste. Dabei ist die Diskussion darüber, dass das Urteil ein Google-Urteil sei, verfehlt. Das Urteil betrifft alle Suchmaschinen und alle Metapersonalisierungsdienste. Insofern ist es auch ein Problem für junge Internetunternehmen, die sich mit deutlich vermehrten Anfragen nach Löschungen von Links herumschlagen müssen. Erstaunlich ist dabei, dass der EuGH die Grundrechte solcher Unternehmen ebenso wenig berücksichtigt hat wie die Frage der Reichweite der Pressefreiheit.
medienpolitik.net: Welche Bedeutung hat dieses Urteil für das Internet insgesamt? Ist es das Ende der grenzenlosen Freiheit des Internets? Wird das Internet jetzt doch „vergessen“ lernen?
Thomas Hoeren: Das Urteil wird das Internet nachhaltig verändern. Dies gilt nicht nur in Hinblick auf die nunmehr vorzunehmenden Streichungen von Links durch Google. Das Urteil wird auch zu einer verstärkten Geolokalisierung führen. Schon jetzt ist klar, dass Google das Urteil restriktiv auslegt und nur auf Google-Europa bezieht. Nutzer aus den USA werden den vollen Dienst bekommen, Nutzer aus Europa nur den „zensierten“ Teil. Viele Dienste, die früher auf Google und die dortige Verfügbarkeit von Informationen gesetzt haben, werden nicht mehr tätig sein können. Zum Teil ist es wieder rechtlich geboten, wenn man etwa an Dienste wie „Rotten Neighbour“ denkt. Zum Teil werden aber auch sinnvolle Dienste Probleme bekommen (siehe oben). Das Ende der grenzenlosen Freiheit des Internets ist es jedenfalls nicht. Denn das Internet war nie grenzenlos frei. Und das Internet wird jetzt auch nicht das Vergessen lernen. Denn ein Grundrecht auf Vergessen im Internet hat der EuGH überhaupt nicht angesprochen.
medienpolitik.net: Selbst wenn ein Link gelöscht ist, können sich die Informationen inzwischen auf anderen Servern befinden. Kann man Google dafür haftbar machen, wenn trotz Löschankündigung die Information weiter im Netz zu finden ist?
Thomas Hoeren: Google ist nicht haftbar, wenn Informationen weiter im Netz zu finden sind. Google kann überhaupt nur Links streichen, und das auch nur innerhalb des Machbereichs von Google. Sind die Informationen über andere Suchmaschinen auffindbar, trifft das Google nicht. Auch ändert das EuGH-Urteil nichts daran, dass die Primärinformation als solches weiter im Internet abrufbar ist.
medienpolitik.net: Welche Konsequenzen hat das EuGH-Urteil für die deutsche Rechtsordnung in Bezug auf das Internet? Sollte ein Anspruch auf „Löschen“ im TMG verankert werden?
Thomas Hoeren: Das EuGH-Urteil hat weite Konsequenzen für die deutsche Rechtsordnung. Meines Erachtens gehen sie über das Datenschutzrecht hinaus. Denn die Grenze zwischen Datenschutzrecht und Presserecht ist schwer zu ziehen. Allgemein wird bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen nunmehr ein Anspruch auf Löschen bestehen, was die Erreichbarkeit über Suchmaschinen angeht. Im Übrigen ist ein Anspruch auf Löschung schon immer im deutschen Datenschutzrecht existent gewesen. Sind Informationen aufgrund der fehlenden Zweckbindung nicht mehr notwendig oder überaltert, sehen jetzt schon das Telemediengesetz und ergänzend das BDSG einen Anspruch auf Löschung dieser Informationen vor. Das Neue ist eben nur, dass dieser Anspruch auf Löschung nicht nur gegen die unmittelbaren Dienstanbieter geltend gemacht werden kann, sondern jetzt auch gegenüber einer Suchmaschine, die eigentlich nur über die USA tätig wird.
medienpolitik.net: Was hat das Gericht zu dieser Entscheidung veranlasst?
Thomas Hoeren: Das Gericht hat meines Erachtens datenschutzrechtlich vollkommen korrekt argumentiert. Sieht man sich die EU-Datenschutzrichtlinie an, unterliegt Google als Dienstanbieter dem Grundsatz der Löschung veralteter Informationen. Allerdings hat das Gericht meines Erachtens außer Acht gelassen, dass die Pressefreiheit auch bei Diensten wie Google zum Tragen kommt. Das Gericht sah vor allem die Gefahr, dass Google eine Profilbildung ermöglicht und damit spezifische Gefahren für den Betroffenen realisiert. Wahrscheinlich ist das der spannendste Teil der Entscheidung, nämlich die Hinweise des Gerichts auf die unkontrollierbaren Profilmöglichkeiten über Google. Das Gericht unterscheidet hier zwischen öffentlichen Daten und Daten, die einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Auswertung öffentlich zugänglicher Daten sei generell für den EuGH ein Ärgernis und hat den EuGH zu diesen weitreichenden Sätzen veranlasst, die dann auch die Auswertung von Big Data-Daten oder Social Media-Auswertungen betreffen.
medienpolitik.net: War das Urteil auch eine – indirekte – Reaktion auf die NSA-Affäre, die die Öffentlichkeit stärker für den Umgang persönlichen Informationen sensibilisiert hat?
Thomas Hoeren: Bezüge zur NSA-Affäre sind meines Erachtens nicht zu sehen. Allerdings wird in den USA, wo ich gerade als Gastprofessor tätig bin, ein Zusammenhang zur NSA-Affäre hergestellt. Viele meiner Kollegen hier in den USA sehen das Urteil auch als eine Art Retourkutsche für die europäischen Beschwerden im Zusammenhang mit dem NSA-Fall. De facto wird das Urteil aber tatsächlich Auswirkungen auf die NSA-Frage haben, da der EuGH ja auch betont, dass europäisches Datenschutzrecht nunmehr auf amerikanische Unternehmen zur Anwendung kommt, sofern diese zum Beispiel eine kommerziell tätige Niederlassung in Europa unterhalten. Auch das ist einer der weiteren Schockfaktoren dieses Urteils, das die amerikanische Öffentlichkeit nunmehr zwingt, europäisches Datenschutzrecht und dessen direkte Anwendbarkeit auf US-Unternehmen wahrzunehmen. Auch verändert sich die Perspektive, was die Supernation USA angeht. Bislang haben wir von den Amerikanern häufig Vorschriften übernehmen oder anwenden müssen, wenn man etwa an die Verwendung von Swift-Bankdaten oder Passagierdaten aus Flugzeugen denkt. Diese Zeiten, in denen die USA ihr Weltrecht diktiert, sind mit dem EuGH-Urteil wohl vorbei.
medienpolitik.net: Ist damit beim EuGH ein Trend festzustellen, dass mehr Wert auf den Schutz persönlicher Informationen und Daten gelegt wird, der der analogen Welt vergleichbar ist?
Thomas Hoeren: Der EuGH prüft eben jetzt genauer die Anwendung des Datenschutzrechts auch im Internet. Das Internet ist kein Ort, in dem personenbezogene Daten generell schutzlos sind. Die frühere Argumentation, das Internet sei ein öffentlicher Raum und damit dort abgelegte Daten frei verfügbar, ist nunmehr vorbei. Der Schutz persönlicher Informationen und Daten ist damit deutlich erhöht.
medienpolitik.net: Lässt sich aus dem Urteil ein Rechtsanspruch auf das Löschen der Informationen ableiten?
Thomas Hoeren: Ein Rechtsanspruch auf das Löschen der Informationen ist nicht Gegenstand des Urteils. So weit ist das Urteil einfach nicht formuliert. Es findet sich dort keine Formulierung in Hinblick auf ein allgemeines „Recht auf Vergessen“. Das Urteil gewährt nur ein Recht gegenüber Google und ähnlich konzipierten kommerziellen Suchmaschinen, die Links auf Primärinformationen löschen zu lassen. Mit dem Löschen der Informationen selbst hat dies nichts zu tun.
medienpolitik.net: Bezieht sich das Urteil auch auf personenbezogene Daten, die Google aus dem Nutzerverhalten ableitet?
Thomas Hoeren: Das Urteil bezieht sich auch auf die Auswertung personenbezogener Daten etwa durch Google. Wenn Links zu löschen sind, ist auch die Auswertung der entsprechenden Links verboten. Allerdings bezieht sich das Urteil wiederum nicht auf die Auswertung von Nutzerdaten im Rahmen von Google Analytics. Insofern ist Google nämlich ohnehin verantwortliche Stelle und damit zur Einhaltung europäischer Datenschutzstandards verpflichtet. Zumindest sind diejenigen, die Google Analytics hier in Europa einsetzen, zur Einhaltung dieser Standards verpflichtet, wie frühere Kontroversen zwischen dem Hamburger Datenschutzbeauftragten und Google selbst zeigen.
medienpolitik.net: Wer kontrolliert das Löschen?
Thomas Hoeren: Die Kontrolle steht der jeweiligen Datenschutzaufsicht zu. Auch hier wird es hier viele Fragen noch zu klären geben. Die Frage ist, welche Datenschutzaufsichtsbehörde für Google-Links zuständig ist. Entscheidend dürfte wohl der Sitz der jeweiligen Zweigniederlassung von Google sein, die kommerziell tätig ist (etwa bei der Akquirierung von Kunden für Google Ad). Dies kann natürlich zu weiteren Problemen führen, da nicht alle Datenschutzaufsichtsbehörden in Europa mit der gleichen Härte vorgehen. Bekannt ist zum Beispiel, dass die irische Datenschutzbehörde allein schon wegen der damit verbundenen Arbeitsplatzprobleme eher zu einer weichen Haltung in Sachen Internetdiensten neigt (wenn man sich etwa die Verfahren in Sachen Facebook ansieht). Insofern ist nach dem Urteil auch noch vieles ungeklärt.
Der Beitrag wurde in der promedia-Ausgabe Nr. 7/2014 erstveröffentlicht.