Rundfunk:

„Schau es dir an, wann es dir gefällt“

von am 20.08.2015 in Allgemein, Archiv, Digitale Medien, Internet, Interviews, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

<h4>Rundfunk:</h4>„Schau es dir an, wann es dir gefällt“
Dr. Christoph Hauser, Fernsehdirektor des SWR I © SWR/Sonja Bell

Beim SWR Fernsehen gilt jetzt online first – und der Sender plant neue Serien

20.08.15 Interview mit Dr. Christoph Hauser, Fernsehdirektor des SWR

Vor knapp zehn Jahren hat der Axel Springer Verlag „online first“ für die Zeitungsverlage ausgerufen. Jetzt folgt auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk diesem Schlachtruf. Das SWR Fernsehen macht einen weiteren Schritt in die digitale Zukunft: Seit Mitte Juni sind alle Sendungen ab 18.15 Uhr bereits einen Tag zuvor online in der SWR Mediathek abrufbar. Davon ausgenommen sind Live-Sendungen und solche Sendungen, die aus Jugendschutzgründen, bzw. aus Produktionsgründen noch nicht bereitgestellt werden können. Der Saarländische Rundfunk wird seine Angebote in gleicher Weise online stellen. Zur Nutzung der SWR-Mediathek, dem Erreichen jüngerer Zielgruppen und weiteren Vorhaben des SWR-Fernsehens, Fragen den Dr. Christoph Hauser, Fernsehdirektor der ARD-Anstalt.

medienpolitik.net: Herr Hauser, bei Ihnen gilt jetzt „online first“. Ist das ein weiterer Schritt zum Abschied vom linearen Fernsehen?

Dr. Christoph Hauser: Nein. Es ist ein kleiner Schritt, um den neuen Vertriebsweg für das SWR Fernsehen über das Internet zu stärken und auszubauen. So wie in den 80er Jahren das Kabel und Satellit als neue TV-Verbreitungswege stetig hinzukamen, wächst heute die Bedeutung des Fernsehkonsums über das Internet. Nur der große Unterschied ist, dass die Zuschauer die Fernsehsendungen über das Internet „zeitsouverän“ nutzen können. Wann immer sie wollen. Die Losung „online first“ verstehen wir als Zielvorgabe, auf die wir nun Schritt für Schritt hin arbeiten.

medienpolitik.net: Was versprechen Sie sich davon, schließlich gab und gibt es ja die Mediathek, in der man sich die Programme hinterher ansehen konnte und kann?

Dr. Christoph Hauser: Wir bieten den Zuschauern die Möglichkeit, interessante Sendungen schon früher zu sehen und nicht unbedingt auf die lineare Ausstrahlung zum Beispiel nach 23:00 Uhr warten zu müssen. Wir bauen letztendlich die Wahl-Möglichkeit für unsere Zuschauer aus: Schau es Dir an, wann es Dir gefällt.

medienpolitik.net: Hat die neue Regelung Auswirkungen auf die Sieben-Tage-Einstellfrist?

Dr. Christoph Hauser: Wie lange unsere Angebote im Netz bereitgestellt werden dürfen, hängt von den Rahmenbedingungen der Telemedienkonzepte ab und ist darin genau beschrieben. Daraus ergeben sich unterschiedliche Verweildauern, und für uns die Pflicht zu depublizieren. Diese Vorgaben halten wir selbstverständlich auch weiterhin ein. Eine Auswirkung ist in der Praxis aber nicht erkennbar, da die Verweildauer-Fristen in den Telemedienkonzepten meist erst mit linearer Ausstrahlung beschrieben werden.

medienpolitik.net: Sie sagen: „Damit stärken wir letztlich das SWR Fernsehen und seine Verbreitung insgesamt – ob linear oder on-demand“. Wer eine Sendung vorher ansieht, sieht sie doch bei der linearen Ausstrahlung nicht noch einmal?

Dr. Christoph Hauser: Viele Zuschauer sehen manche Sendungen auch gerne ein zweites Mal. Primär geht es jedoch darum, über das Netz auch neue Zielgruppen für das SWR Fernsehen zu erreichen.

medienpolitik.net: Welche Rolle spielt heute die on-demand-Nutzung für die Angebote des SWR insgesamt, auch mobil?

Dr. Christoph Hauser: Die SWR Mediathek ist seit Jahren ein besonders dynamisch wachsender Teil der SWR-Webangebote. Wenn wir uns die vergangenen Jahre ansehen, beobachten wir sehr deutlich, dass die On-Demand-Nutzung stetig zunimmt. Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass Nutzerinnen und Nutzer bis zur Ausstrahlung einer Fernseh-Sendung warten möchten, wenn sie auch jetzt gerade Zeit und Lust haben, ein Video zu sehen. Unsere Nachrichtensendung „Landesschau aktuell“ stellt daher seit einiger Zeit bereits Nachrichten-Beiträge dann online, wenn sie fertig sind oder produziert Web-Versionen einer Geschichte.
Einen außergewöhnlichen Anstieg beobachten wir auch bei der mobilen Nutzung über Smartphones und Tablets. Allgemein findet in Deutschland bei den großen Webseiten inzwischen ca. ein Drittel aller Zugriffe mobil statt – das ist auch beim SWR nicht anders. Die SWR Mediathek war deshalb nicht zufällig die erste Mediathek, die über eine für mobile Endgeräte optimierte Version verfügte. Bereits seit einem Jahr sind auch alle Webseiten des SWR Fernsehens und die SWR Mediathek durchgehend responsiv, passen sich der jeweiligen Bildschirmgröße an und sind somit auf mit jedem Endgerät optimal nutzbar.

medienpolitik.net: Verschiedene ARD-Anstalten haben auf dem Weg zu multimedialen Häusern – auch durch strukturelle Veränderungen – Fortschritte gemacht. Wie weit ist hier der SWR?

Dr. Christoph Hauser: Auch für uns ist das ein wichtiges Thema. Multimedialität ist dabei kein Selbstzweck, sondern wir verfolgen das Ziel, unsere publizistischen Angebote noch attraktiver für das Publikum zu machen und Themen in noch vielfältigerer Form umzusetzen. Welche Strukturen wir dafür wie verändern müssen, das erarbeiten wir gerade. Aber klar ist, wir wollen das auf Themenbereiche bezogene Arbeiten stärken. Die klassische Trennung von Fernsehen und Hörfunk wird an geeigneten Punkten aufgebrochen. Und Online ist eben auch weit mehr als nur ein weiterer Ausspielweg für lineare Produkte. Mit dem Sport und der Abteilung Recht & Justiz haben wir sogar schon zwei trimedial strukturierte Bereiche, anhand derer wir alle Aspekte für multimediales Arbeiten analysieren, daraus dann für weitere Bereiche Modelle konzipieren und Rahmenbedingungen anpassen. Wir fangen also nicht bei null an. Das zeigen im Übrigen auch unsere trimedialen Newsrooms oder die verschiedensten multimedialen Projekte wie etwa „Tatort+“ oder „Klinikcheck Südwest“.

medienpolitik.net: Sie haben in diesem Jahr mit „Elser“ an die große künstlerische Tradition von Fernsehfilmen des SWR angeknüpft. Der SWR hatte 2014 ein Defizit. Sind damit solche hochwertigen Fernsehfilme gefährdet?

Dr. Christoph Hauser: Nein. Wir werden auch weiterhin künstlerisch anspruchsvolle Fernsehfilme produzieren oder beauftragen – gerade hat die UFA für uns einen solchen Film abgedreht, über den jüdischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der nach Krieg und Emigration nach Deutschland zurückkehrte und sein berufliches Leben dem Auffinden von Nazi-Tätern widmete. Im September gibt es Daniel Harrichs „Meister des Todes“ im Ersten zu sehen, begleitet von einer Dokumentation, die auch aus dem SWR kommt. Thema ist illegaler Waffenhandel. Die beiden genannten Beispiele markieren ganz gut, was uns wichtig ist: Relevante Stoffe, seien sie aus der näheren Vergangenheit oder aus der Gegenwart, hochwertig und wahrhaftig zu erzählen. Themen und Geschichten, die so noch nicht bekannt sind, die uns jedoch etwas angehen oder angehen müssen. Die Regie beim Fritz-Bauer-Film „Der General“ führte Stephan Wagner, die Rolle des Fritz Bauer hat der großartige Ulrich Noethen übernommen. Bauer kann, in seiner Beharrlichkeit und seinem Engagement, mit Fug und Recht ein Held der Zeitgeschichte genannt werden. Wie auch Georg Elser. „Elser“ ist im Übrigen eine Kinoproduktion, die also erst nach der Kinoauswertung ins Erste kommt. Der SWR wird auch in finanziell schwierigen Zeiten weiterhin Kinofilme koproduzieren. Denn Kinofilme sind Kulturgut. Sie, nachdem sie im Kino nicht mehr laufen, einem größeren Publikum zugänglich zu machen, gehört nach meiner Überzeugung zum Kultur- und Bildungsauftrag.

medienpolitik.net: Ein Drittel der Primetime füllen ARD und ZDF mit Krimis. Auch der SWR leistet dazu seinen Beitrag. Ist unsere Gesellschaft so kriminell, dass dieses Genres einen so hohen Teil ausmacht?

Dr. Christoph Hauser: Das Erste hat in der Primetime nur zwei Regelplätze in der Woche für Krimis, den Sonntag und den Donnerstag – beim ZDF ist der Anteil durchaus höher. Wie viel künstlerische Varianz, bei gleichzeitiger thematischer Relevanz, im Genre Krimi möglich ist, können wir Sonntag für Sonntag beim „Tatort“ im Ersten bewundern. Und das Tolle ist, dass das Publikum auch anspruchsvolle Erzählweisen akzeptiert. Und warum Krimis bei deutschen Zuschauer Krimis so beliebt sind? Ich vermute zwei Motive: Krimis bieten die Möglichkeit, die eigenen Sorgen zu vergessen, sich einer Handlung zu überlassen, die eine andere Geschichte erzählt als die eigene. Gleichzeitig haben Krimis eine zuverlässige Dramaturgie: In aller Regel wird am Ende der Täter gefasst – das hinterlässt mich trotz allen Unglücks, das dem Genre geschuldet, Bestandteil der Geschichte ist, am Ende beruhigt.

medienpolitik.net: Sie drehen gegenwärtig „Plötzlich Apokalypse“, eine regionale Serie aus der Pfalz. War hier „Dahoam is dahoam“ vom Bayerischen Rundfunk das Vorbild?

Dr. Christoph Hauser: „Dahoam is dohoam“ ist eine sogenannte Daily und wird in entsprechender Produktionsökonomie nahezu ausschließlich im Studio produziert. Die pfälzische Serie, die derzeit im Auftrag des SWR gedreht wird – sie heißt übrigens jetzt „Pälzisch im Abgang“ – ist eine in sich abgeschlossene Comedy-Serie in sechs Folgen und wird mit entsprechend höherem Produktionsaufwand in der Pfalz, vor allem in Bad Dürkheim, gedreht. Die Gegend und ihr Flair spielen hier eine größere Rolle. Im Übrigen ist „Pälzisch im Abgang“ ein Seriendebüt des Regisseurs Matthias Schmidt, wir senden sie als Special im Rahmen unserer Reihe „Debüt im Dritten“, die diesen Herbst dreißig Jahre alt wird und es talentierten Nachwuchsautoren und -regisseuren ermöglicht, ihre eigene filmische Handschrift zu entwickeln und einem größeren Fernsehpublikum vorzustellen. Auch die MFG, die Filmförderung Baden-Württemberg, hat „Pälzisch im Abgang“ gefördert.

medienpolitik.net: Warum entstehen insgesamt so wenige regionale Serien für die Dritten? Diese schaffen doch sicher eine starke Bindung an den Sender?

Dr. Christoph Hauser: Das stimmt, deshalb haben wir hier auch eine kleine Tradition begründet: 2013 ging die schwäbische Mundartserie „Die Kirche bleibt im Dorf“ in ihrer ersten Staffel an den Start und wurde ein großer Erfolg, vor allem bei jüngeren Zuschauern. Inzwischen lief eine weitere Staffel mit ähnlichem Erfolg. Wir bringen die dritte Staffel am 19. und 26. Oktober 2015 im SWR Fernsehen – ausgestrahlt werden jeweils drei Folgen hintereinander, beginnend um 20:15 Uhr. Die Serie ist schon Kult geworden; sie verbindet Bestandteile der klassischen Heimatserie mit modernem Erzählen, ist schräg und anarchisch. Und „Pälzisch im Abgang“ soll genau hier anknüpfen.

medienpolitik.net: Sie lassen mit „Emma nach Mitternacht“ und „Huck“ zwei Serien für das Erste produzieren. Im Moment schwappt anscheinend die Serienwelle über das Fernsehen in Deutschland. Ist der SWR daran beteiligt?

Dr. Christoph Hauser: „Emma nach Mitternacht“ ist keine Serie, sondern eine Film-Reihe um eine Radiopsychologin, gespielt von Katja Riemann – für uns das Nachfolgeformat von „Bloch“ mit Dieter Pfaff, der 2013 verstarb. Wir planen die Produktion von ein bis zwei Filmen im Jahr, „Emma“ wird also in größeren zeitlichen Abständen auf dem Schirm erscheinen. „Huck“ ist eine Detektivserie für den Vorabend, die acht Folgen der ersten Staffel laufen im September.

medienpolitik.net: Was können wir hier noch von Ihnen erwarten?

Dr. Christoph Hauser: Wir haben, gemeinsam mit Produzenten, einige vielversprechende neue Serienprojekte in Entwicklung, für den Vorabend im Ersten, für das SWR-Fernsehen, auch für den ARD-Hauptabend. Weil Serien-Entwicklung eine komplexe Sache ist und wir den Anspruch haben, authentisch und genau zu erzählen, geben wir seit einiger Zeit gezielt mehr Geld für die Recherche und Entwicklung von Serien. Derzeit entstehen zum Beispiel zwei zeitgeschichtliche Serien-Konzepte, die unseres Erachtens sehr gut ins Erste passen würden.

medienpolitik.net: Der Sechsteiler „Weissensee“ wird im Herbst an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Ersten ausgestrahlt. Was halten Sie davon? Sollte das bei Serien jetzt die Regel werden?

Dr. Christoph Hauser: Wir wissen, dass viele Serien-Fans, die sich ihre Serien auf DVD oder im Netz beschaffen, gleich mehrere Folgen hintereinander anschauen wollen. Dem auch in der linearen Platzierung zu entsprechen und zwei Folgen hintereinander anzubieten, empfinde ich daher als einen reizvollen wie zuschauergemäßen Versuch. Bei Arte wird das schon seit längerem so gemacht, zum Beispiel am Donnerstag, wo regelmäßig anspruchsvolle Serien laufen. Ich bin gespannt, wie die ARD-Zuschauer die „Weissensee“-Platzierung annehmen werden.

medienpolitik.net: Man hat den Eindruck, dass Sie 2015 überproportional viele eigenproduzierte Dokumentationen senden. Haben die zahlreichen Beschwerden der Produzenten bei Ihnen gewirkt?

Dr. Christoph Hauser: Dem SWR ist die Pflege der dokumentarischen Genres seit jeher wichtig; wir bringen jährlich verlässlich zahlreiche Dokumentarfilme, Dokumentationen und Reportagen ins Erste ein, engagieren uns bei ARTE und haben einen festen Sendeplatz für investigative Dokus im SWR Fernsehen. Vor einigen Jahren hat der SWR gemeinsam mit der MFG und dem Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart den „Deutschen Dokumentarfilmpreis“ ins Leben gerufen, der alle zwei Jahre in Ludwigsburg vergeben wird. Außerdem setzen wir uns für den Nachwuchs ein. Etwa ermöglichen wir, jungen Filmemachern in der Reihe „Junger Dokumentarfilm“ Ihren Debüt-Film zu realisieren. Von all diesen Produktionen geben wir das weitaus Meiste an Produzenten und ich erlebe die Zusammenarbeit äußerst kooperativ und bereichernd für beide Seiten. Hinzu kommt, dass wir im Ersten, vor allem aber im SWR Fernsehen, eine deutlich flexiblere Programmplanung als noch vor einigen Jahren haben und dadurch etwa Dokumentarfilme stärker sichtbar werden. Kürzlich haben wir am Mittwoch um 20.15 Uhr eine 90-minütige Langzeitbeobachtung von Monika Kirschner ausgestrahlt mit dem Titel „Schmidthachenbach kennt keiner – Ein Dorf kämpft ums Überleben“, eine pars pro toto Geschichte über das Dörfersterben am Beispiel des kleinen Ortes Schmidthachenbach in Rheinland-Pfalz und über seine Bewohner, die das Dorf lebendig halten wollen. Und besonders gespannt bin ich auf eine lange Dokumentation über Wolfgang Schäuble, die am 24.8. im Ersten zu sehen ist, übrigens ab 21.30Uhr.

Der Beitrag wurde in der promedia-Ausgabe Nr. 8/2015 erstveröffentlicht.

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