Medienwissenschaft:

„Mainstreamthemen werden bevorzugt“

von am 21.03.2016 in Allgemein, Archiv, Digitale Medien, Internet, Interviews, Journalismus, Medienethik, Medienkompetenz, Medienwissenschaft, Plattformen und Aggregatoren, Social Media

<h4>Medienwissenschaft:</h4> „Mainstreamthemen werden bevorzugt“
Dr. Juliane Lischka, Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich

Soziale Medien übernehmen zunehmend die Gatekeeper-Funktion des Journalismus

21.03.16 Interview mit Dr. Juliane Lischka, Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich

In der aktuellen Diskussion über die Glaubwürdigkeit der Medien und der Funktion und Rolle der Journalisten ist ein wichtiges Thema die Interaktion zwischen Medienmachern, den Nutzern und den Inhalten, den diese auf Social-Media-Plattformen teilen oder selbst generieren. Unbestritten nimmt der Einfluss sozialer Medien auf die Themenauswahl des Journalismus zu. Dr. Juliane Lischka von der Universität Zürich vertritt sogar die These, dass die großen Plattformen wie Facebook zusehends die Gatekeeper-Funktion des Journalismus übernehmen und verändern. Die Nachrichten würden dabei allerdings tendenziell weicher. Das Agenda-Setting auf sozialen Netzwerken werde stark durch „soft content“ bestimmt.

medienpolitik.net: Frau Lischka, inwieweit sind soziale Medien wie Facebook oder Twitter Nachrichtenmedien bzw. Informationsmedien? Leisten soziale Medien einen wichtigen Beitrag zur Meinungsbildung bei politischen Ereignissen?

Dr. Juliane Lischka: Soziale Medien sind durch ihre Unterhaltungs- oder Zeitvertreibsfunktion eher für die Informationsvermittlung als für aktive Informationssuche geeignet. Etwa knapp jeder Vierte nutzt Social Media, vor allem Facebook, vereinzelt Twitter, als Informationsquelle oder Ausgangspunkt für Nachrichtensuche. Aber sehr wenige sehen sie als wichtigsten oder vertrauenswürdigsten Nachrichtenkanal, so der aktuelle Digital News Report des Reuters Institutes. Allerdings sind soziale Medien als Nachrichtenquelle für die Jüngeren, also unter 30jährigen, sehr viel wichtiger. Gleichzeitig sind Online-Nachrichten für die Jüngeren der grössere Bestandteil in ihrem Medienrepertoire. Daher sollte der Stellenwert von Social Media für die Meinungsbildung nicht übermächtig sein. Gleichzeitig bietet Facebook durch die Möglichkeit, Themen zu diskutieren und zu kommentieren, eine Ergänzungsleistung zu Medienberichterstattung. Zudem können Themen durch Sharing oder gemeinsam benutzte Hashtags massiv an Popularität gewinnen. Dadurch verbreiten sich Kampagnen wie „Refugees Welcome“, „Pray for Paris“, die „ALS Ice Bucket Challenge“ oder „Love wins“, die dann wiederum von Medien aufgegriffen werden. Diese Ergänzungsleistungen und Dynamiken zwischen sozialen Medien und Medienberichterstattung können entscheidend für die politische Meinungsbildung sein.

medienpolitik.net: Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Themenauswahl für Journalisten? Es gibt doch heute auch einen großen Informationsfluss über e-mail, Pressemeldungen oder das Internet.

Dr. Juliane Lischka: Sicher orientieren sich Journalistinnen und Journalisten an Themen in sozialen Medien, um am Puls der Zeit zu sein. Die Beobachtungsinstanz Social Media besteht aus vielen Augen, die relevant für Berichterstattung und die Gewichtung von Themen sein können. Nachrichten werden nicht mehr nur das, was über Pressemitteilungen oder Nachrichtenagenturen kommuniziert wird, sondern können von „Produsern“ oder „Prosumern“ stammen und über soziale Medien verbreitet werden. User können zur Informationsquelle werden, die zur „richtigen“ Zeit am „richtigen“ Ort sind und tweeten, posten, liveleaken oder persicopen. Das hat die Beziehung zwischen Journalisten und dem Publikum nachhaltig geändert. Dadurch wird Twitter als Aufmerksamkeitssystem für Journalisten bezeichnet, das zur Recherche genutzt wird.

medienpolitik.net: Warum spielen soziale Medien eine immer größere Rolle für die Themenauswahl?

Dr. Juliane Lischka: Durch ihre Omnipräsenz und wachsende User-Zahlen einerseits sowie die vergleichsweise weniger aufwändige Recherche in sozialen Medien andererseits spielen sie eine größere Rolle. Hinzu kommt, dass Nachrichtenmedien für ihr Online-Geschäftsmodell auf Traffic auf ihrer eigenen Website angewiesen sind. Teile dieses Traffics stammen aus Social Media, allen voran Facebook. Um diesen Facebook-Traffic zu maximieren, muss die Reichweite innerhalb von Facebook maximiert werden. Dazu müssen Inhalte gepostet werden, mit denen die Facebook-Fans höchstwahrscheinlich interagieren. Bei hohen Interaktionsraten kann man sicher sein, dass ein Post auf dem News Feed vieler Fans angezeigt wird. Das beeinflusst letztendlich die Themenauswahl, zumindest aber die Themenaufbereitung von Facebook-Posts.

medienpolitik.net: Entsteht da einen neue Art von Gefälligkeitsjournalismus? Wo bleibt die (weitgehend) objektive Sicht der Journalisten, das Auswählen von Themen nach gesellschaftlicher Relevanz, die Kontrollmöglichkeit der Quellen?

Dr. Juliane Lischka: Objektivität und gesellschaftliche Relevanz bleiben als klassische journalistische Werte wichtig. Auch auf sozialen Medien sind Fakten, Hintergrund und Meinung, Kontroverse, soziale Tragweite, was klassische Nachrichtenwerte sind, weitgehend abgebildet – wobei ein Schwerpunkt je nach Medium auf Emotionalität oder Überraschung liegen kann. Diesen Schwerpunkt auf Nachrichten, die mit Gefühlen oder Kuriosem verknüpft sind, könnte man als Folge vom oder als Gefälligkeiten gegenüber dem Facebook-Algorithmus bezeichnen.

medienpolitik.net: Welche Themen greifen Journalisten vor allem auf?

Dr. Juliane Lischka: Alles, was den Tag über wichtig ist, findet sich meist auch auf Facebook. Die Frage ist dann aber, welche Themen vom Publikum aufgenommen werden und sich durch Sharing weiter distribuieren. Dadurch werden virale Mainstreamthemen bevorzugt auf Facebook verbreitet als Spezialthemen, die weniger User-Interaktion aufweisen.

medienpolitik.net: In den sozialen Medien finden sich zunehmend radikale Meinungen und Standpunkte, vernetzen sich darüber rechte gesellschaftliche Randgruppen. Welchen Einfluss hat das auf die journalistische Berichterstattung der klassischen Medien? Beeinflusst das nicht auch die Berichterstattung der Journalisten?

Dr. Juliane Lischka: Sicherlich vereinfacht sich die potenzielle Sichtbarkeit von radikalen Meinungen in sozialen Medien. Zudem werden interaktionsfördernde Eigenschaften von polarisierenden Themen vom Facebook-Algorithmus belohnt. Damit vergrössert sich ihre Sichtbarkeit und eine Minderheit wird überproportional dargestellt. Unabhängig davon spielt Polarisierung je nach redaktioneller Linie eine unterschiedlich große Rolle für Medien und ihre Berichterstattung. Vermutlich würden Tabloids polarisierende Standpunkte eher aufnehmen, wenn es die Publikumsmeinung zumindest teilweise widerspiegelt. Aber auch generell sind kontroverse Themen ein klassischer Nachrichtenfaktor – neben vielen anderen. Andererseits können radikale Meinungen aber auch zu Tabuthemen werden, die journalistisch nicht mehr bearbeitet werden können, ohne dadurch „abgestempelt“ oder in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Damit behielten gesellschaftliche Randgruppen die Interpretationshoheit über “ihre“ Themen. Sowohl eine überproportionale Darstellung von radikalen Meinungen als auch eine fehlende öffentliche Diskussion dieser wären gesellschaftlich gefährlich.

medienpolitik.net: Sie vertreten die These, dass die großen Plattformen wie Facebook zusehends die Gatekeeper-Funktion des Journalismus übernehmen. Woran zeigt sich das?

Dr. Juliane Lischka: Facebook schreibt in seinem Geschäftsbericht 2015, dass ihre höchste Priorität ist, nützliche und interaktionsfördernde Produkte anzubieten, die es den Userinnen und Usern ermöglicht, sich zu vernetzen und Inhalte zu teilen. Von Zeit zu Zeit passt Facebook laut eigenem Geschäftsbericht seinen News Feed Algorithmus an, um Usern nur relevante Inhalte anzuzeigen. Der Algorithmus ist damit ein Interaktions-Gatekeeper des News Feeds für den User. Dieser technische Hintergrund entscheidet über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit und wird im Zusammenhang mit dem Ziel der User-Interaktion zu einer zusätzlichen Distributions-Hürde. Dadurch kann der Algorithmus zu einem Aspekt werden, der Nachrichtenaufbereitung, -gewichtung und auch die -selektion verändert, solange User-Interaktivität der Schlüssel zur Distribution bleibt. Wenn sich Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Nachrichtenauswahl indirekt oder direkt von den Anforderungen des Algorithmus leiten lassen, werden verstärkt interaktionsfördernde Themen Eingang ins Facebook-Profil der Nachrichtenmedien finden.

medienpolitik.net: Wie wird das den Journalismus verändern?

Dr. Juliane Lischka: Social Media stellt ein Publikum für den Journalismus bereit, was von Medienorganisationen nicht ignoriert werden kann. Das verändert Fähigkeiten, die von Journalistinnen und Journalisten neben den klassischen Fähigkeiten des Recherchierens und Schreibens gefordert werden. Der Erfolg von Journalismus ist online auf allen Ebenen quantitativ messbar. Beispielweise berichten Social Media Redakteurinnen und Redakteure, dass ein Gespür für diverse Social Media Publika und ihre kanalspezifische Ansprache, das Verständnis von Social Media Kennzahlen, das logistische Erreichen von Zielgruppen innerhalb von sozialen Medien und neue Erzählformate wichtiger werden.
Grundsätzlich bleiben Innovationsfähigkeit und Technologieadaptation zentrale Erfolgsfaktoren für Medienunternehmen, die sich zunehmend aus ihrer Starrheit lösen müssen. Und das wird die journalistischen Prozesse weiter verändern. Vorteile hat man als Medienorganisation, wenn man mit digitalen Formen experimentiert, sein Publikum anhand von Online-Nutzungszahlen kennt und diverse Distributions-Kanäle massgeschneidert bespielen kann. Eine Organisations- und Redaktionskultur, die offen für Neuerungen ist, ist dafür unbedingt notwendig. Das bedeutet auch, nach wenig erfolgreichen Experimenten motiviert zu bleiben. Nur wer Fehler macht, kann aus ihnen lernen.

Der Beitrag wurde in der promedia-Ausgabe Nr. 3/2016 erstveröffentlicht.

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