Rundfunk:

„Der Rundfunkbeitrag ist gerecht“

von am 04.06.2018 in Allgemein, Archiv, Interviews, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

<h4>Rundfunk:</h4>„Der Rundfunkbeitrag ist gerecht“
Lutz Marmor, Intendant des NDR

ARD-Themenwoche 2018 steht unter der Leitfrage „Ist das gerecht?“

04.06.18 Interview mit Lutz Marmor, Intendant des NDR

Gerechtigkeit und Chancengleichheit in unserer Gesellschaft ist das Thema der ARD-Themenwoche 2018. Unter der Leitfrage „Ist das gerecht?“ werden sich vom 11. bis zum 17. November alle Fernseh- und Radioprogramme der ARD sowie die Online-Angebote der gesamten Senderfamilie mit dem Thema beschäftigen und zur Diskussion einladen. Geplant sind Beiträge in allen Genres – von dokumentarisch bis fiktional, von informativ und investigativ bis unterhaltsam und spielerisch. Federführer ist in diesem Jahr der Norddeutsche Rundfunk. Für NDR-Intendant Lutz Marmor ist auch der Rundfunkbeitrag gerecht, da er auf dem Solidargedanken basiere: „Alle tragen mit einem vergleichsweise moderaten Betrag dazu bei, dass jede und jeder Zugang zu einem vielfältigen und qualitativ hochwertigen Medienangebot im Radio, im Fernsehen und im Netz hat.“

medienpolitik.net: Herr Marmor, die ARD-Themenwoche steht in diesem Jahr unter dem Motto „Ist das gerecht?“ Weshalb dieses Motto?

Lutz Marmor: Menschen streben nach Gerechtigkeit. Wir berichten tagtäglich über Entwicklungen, bei denen die Frage „Ist das gerecht?“ eine zentrale Rolle spielt. Dabei gibt es durchaus oft unterschiedliche Auffassungen darüber, was gerecht ist und was nicht – eine ideale Voraussetzung für einen öffentlichen Diskurs. Diesen wollen wir mit Fakten, unterschiedlichen Blickpunkten und einer Themenpalette anregen, die von Chancengleichheit in Deutschland bis hin zu fairem Welthandel reicht.
Wir möchten die Frage „Ist das gerecht?“ eine Woche lang im Fernsehen, im Hörfunk und online in den Fokus stellen, weil die Diskussion essenziell ist für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Grundlagen für öffentliche Debatten schaffen – das gehört zum Kern unseres öffentlich-rechtlichen Auftrags.

medienpolitik.net: Ist der Rundfunkbeitrag gerecht?

Lutz Marmor: Ich finde uneingeschränkt ja. Er basiert auf dem Solidargedanken: Alle tragen mit einem vergleichsweise moderaten Betrag dazu bei, dass jede und jeder Zugang zu einem vielfältigen und qualitativ hochwertigen Medienangebot im Radio, im Fernsehen und im Netz hat. Wer wirtschaftlich nicht in der Lage ist, den Rundfunkbeitrag zu zahlen, kann sich befreien lassen. Ein solcher Solidargedanke tut der Gesellschaft gut.

medienpolitik.net: Der ehemalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz hatte seinen Wahlkampf unter das Motto „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ gestellt. Hat Sie dieser Slogan inspiriert?

Lutz Marmor: Wir haben dieses Thema intern schon weit vor der Bundestagswahl festgelegt. Die Frage nach Gerechtigkeit hat zum Beispiel schon Platon, Aristoteles und Cicero bewegt. Das ist ein grundlegendes Menschheitsthema, das gerade heute wieder besonders aktuell ist.

medienpolitik.net: In welchen Genres und Programmen wird sich dieses Thema wiederfinden?

Lutz Marmor: Das Thema „Ist das gerecht?“ hat viele Facetten. Zum Beispiel Gerechtigkeit bei Arbeit und Einkommen, unter den Geschlechtern, in der Bildung, vor dem Gesetz, unter den Generationen und in einer globalisierten Welt. Im Fernsehen wird z. B. die Dokumentation „Strafe ohne Gnade“ aus der Reihe „Die Story im Ersten“ fragen, warum Gerichtsurteile tendenziell härter werden. In dem „Polizeiruf 110: Für Janina“ aus Rostock wird der Mord an einer jungen Frau neu aufgerollt – was ist, wenn die Justiz irrt? Gesprächssendungen wie „Anne Will“ und „Hart aber fair“ haben das Thema ebenfalls auf der Agenda. Die Dritten Programme setzen mit einem breiten Angebot starke regionale Akzente.
Die ARD-Radiosender beteiligen sich entsprechend ihrer programmlichen Ausrichtung. NDR Info zum Beispiel bringt die ehemaligen Schüler einer Förderschule zusammen und schildert im Feature „Regenbogenmänner“ ihren Lebensweg. Um ungleiche Startchancen beim gesellschaftlichen Aufstieg geht es in dem Hörspiel „1933 war ein schlimmes Jahr“ nach dem gleichnamigen Roman von John Fante.
Online ist u.a. ein datenjournalistisches Projekt geplant. Vor dem Hintergrund der Themenwoche haben wir mit funk, dem Content-Netzwerk von ARD und ZDF, zum ersten Mal ein gemeinsames Ausbildungsprojekt auf den Weg gebracht. Volontärinnen und Volontäre, Mediengestalterinnen und Mediengestalter aus den Rundfunkanstalten und dem ZDF haben Social-Media Formate zum Thema Gerechtigkeit entwickelt. Diese Formate werden in das Online-Programm rund um die Themenwoche einfließen.

medienpolitik.net: Werden die ARD-Journalisten und Programmverantwortlichen entscheiden, was „gerecht“ ist?

Lutz Marmor: Nein, das bleibt Aufgabe jeder einzelnen Zuschauerin und jedes einzelnen Zuschauers. Wir möchten Denkanstöße geben, neue Blickwinkel eröffnen und Diskussionen anstoßen.

medienpolitik.net: Wie pragmatisch oder eher philosophisch setzen sich die Beiträge mit „Gerechtigkeit“ auseinander?

Lutz Marmor: Wir streben eine große Bandbreite an, um viele Menschen mit ihren verschiedenen Interessen anzusprechen. Das Spektrum der Beiträge kann von der Reportage aus einer Grundschule über die praktische Seite der Chancengleichheit bis hin zu philosophischen Grundsatzfragen reichen – je nachdem, welches Programm in welchem Umfeld das Thema aufnimmt.

medienpolitik.net: Eine häufige Darstellung der „Gerechtigkeit“ im westlichen Kulturkreis ist die urteilende Justitia, mit Waage. Inwieweit werden auch juristische Themen oder Fragestellungen, z.B. die Höhe einer Strafe eine Rolle spielen?

Lutz Marmor: Die Frage nach der Gerechtigkeit vor dem Gesetz ist eines unserer sechs Themenfelder. Neben dem NDR „Polizeiruf 110“, in dem das Rostocker Ermittler-Duo König und Bukow mit einem Fehlurteil konfrontiert wird, plant allein Das Erste u. a. eine Dokumentation mit dem Titel „Strafe ohne Gnade“ und eine Reportage über das Phänomen von falschen Geständnissen in der US-amerikanischen Justiz. Dazu kommen in den Dritten Programmen, im Radio und Internet zahlreiche Angebote zur Gerechtigkeit vor dem Gesetz.

medienpolitik.net: Wieweit werden Zuschauer, Hörer, Nutzer an der Debatte dieser Frage beteiligt?

Lutz Marmor: Das soll in großem Umfang geschehen. Beim Radio liegt die Einbindung der Hörerinnen und Hörer durch Call-in-Sendungen oder Umfragen ohnehin nahe. Auch Online und bei den Sozialen Medien wollen wir Debatten anstoßen. Im Fernsehen wird es eine direkte Publikumsbeteiligung in der Fiktion geben: In der traditionsreichen ARD-Serie „Großstadtrevier“ können die Zuschauerinnen und Zuschauer darüber abstimmen, welches von zwei möglichen Enden eine Episode haben soll. Dann wird sich zeigen, ob der juristisch richtige Schluss auch dem Gerechtigkeitsempfinden der Teilnehmerinnen und Teilnehmer entspricht.

medienpolitik.net: Welche Rolle werden Online und soziale Netzwerke für die ARD bei diesem Thema spielen?

Lutz Marmor: An dieser Aufgabe arbeiten unsere Online-Kolleginnen und -Kollegen gerade intensiv. Sie planen z. B. ein datenjournalistisches Format und Tools für die direkte Beteiligung von Nutzerinnen und Nutzern. Ein Projekt ist die interaktive Anwendung „Im Namen der User!“: Wer möchte, kann sein Urteil in realen Gerichtsfällen abgeben – und dann vergleichen, wie die echten Richterinnen und Richter, aber auch andere Nutzer entschieden haben. Ich finde die Idee einer Themenwoche, die sich publizistisch mit einem gesellschaftlichen Thema auseinandersetzt, nach wie vor hochaktuell.

medienpolitik.net: Die ARD-Themenwoche gibt es seit 2006. Was konnten sie bewirken?

Lutz Marmor: Die Idee, die publizistische Kraft der ARD für eine Woche zu bündeln und gemeinsam ein gesellschaftlich relevantes Thema in den Mittelpunkt der verschiedenen Programme zu stellen, kam vom NDR. Die erste Themenwoche „Leben – was sonst?“ nahm sich eines oft tabuisierten Themas an, der Volkskrankheit Krebs. Das Publikumsinteresse war überragend, die Resonanz durchweg positiv. Sandra Maischberger, damals Patin der Themenwoche, resümierte, ihre Angst vor Krebs sei zwar nicht ganz verschwunden, aber deutlich kleiner geworden. Wie ihr ging es vielen Zuschauerinnen und Zuschauern. Weitere ARD-Themenwochen haben auf andere Weise Wirkung gezeigt, etwa für gesellschaftliches Engagement geworben, neueste Erkenntnisse zur Ernährung publik gemacht oder eine Debatte zur Zukunft der Arbeit angeregt.

medienpolitik.net: Gingen von Themenwochen auch Ideen und Impulse für das Programm aus? Wirkten sie auch „nachhaltig“?

Lutz Marmor: Der Begriff „Themenwoche“ beschreibt das Konzept: Als Programmschwerpunkt gibt es das Thema sieben Tage lang. Danach bleibt das Thema natürlich wichtig und scheint immer wieder im Programm auf, aber es muss sich die Aufmerksamkeit des Publikums wieder stärker mit anderen Inhalten teilen. Unabhängig davon haben unsere Programme die Erfahrung gemacht, dass auch schwierige Themen ihre Wirkung entfalten, wenn sie ansprechend und zuschauernah aufbereitet werden.

medienpolitik.net: ARD Themenwoche 2017 stand unter der Überschrift „Woran glaubst Du“? Auf welches Interesse stieß diese Frage?

Lutz Marmor: Federführer der ARD-Themenwoche im vergangenen Jahr war der MDR. Meine Kollegin Karola Wille konnte am Ende eine positive Bilanz ziehen und sich über eine bemerkenswerte Resonanz auf mehr als 650 Beiträge im Fernsehen, im Radio und im Internet freuen. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit der Frage „Ist das gerecht?“ erneut auf großes Interesse stoßen werden.

Der Beitrag ist eine Vorveröffentlichung aus der promedia-Ausgabe 06/18.

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