Das Gespräch mit den Kritikern führen
von Helmut Hartung am 24.01.2019 in Archiv, Medienordnung, Medienpolitik, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk, Social Media

„Es geht um Demokratie“ ist der programmliche Leitgedanke des MDR in diesem Jahr
24.01.2019. Von Prof. Dr. Karola Wille, Intendantin des MDR
2019 wird kein Jahr wie jedes andere werden. Es ist ein ereignisreiches Jahr und stellt Weichen: Am 6. Februar überträgt der Mitteldeutsche Rundfunk für das Erste Deutsche Fernsehen den Festakt anlässlich „100 Jahre Weimarer Nationalversammlung“. Am Abend folgt im gleichen Nationaltheater anlässlich 100 Jahre Bauhaus die öffentliche Premiere unseres Films „Lotte am Bauhaus“. Und es geht mit Ereignissen weiter: 70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre friedliche Revolution. Und: Es stehen zahlreiche Wahlen an: Auch in unserem Sendegebiet und in Europa. Alle diese Ereignisse verbindet ein Thema: „Es geht um Demokratie“.
„Es geht um Demokratie“ ist deshalb der programmliche Leitgedanke des MDR in diesem Jahr. Wir sind überzeugt, dass es heute mehr denn je Gründe genug gibt, darüber ins Gespräch zu kommen. Um sich über die Werte unserer demokratischen Gesellschaft auszutauschen und über das, was wir in dieser uns bewegenden Zeit tun können für den demokratischen Diskurs und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Von vielen in diesem Jahr bewegenden Neujahrsansprachen ist mir ein Satz von Papst Franziskus besonders in Erinnerung geblieben: „Die Welt wird immer vernetzter und dabei immer uneiniger“. Ein einfacher Satz und doch stecken in ihm Ursache und Wirkung zugleich. Die Digitalisierung betrifft heute die ganze Menschheit und sie betrifft zugleich in ihren disruptiven Auswirkungen unser aller Zusammenleben. 4 Milliarden Menschen, die Hälfte der Menschheit, sind heute im Internet unterwegs – 2 Milliarden weltweit bei Facebook – eine in der Geschichte in ihrer Dynamik einmalige Zeitenwende. Sie hat mittlerweile alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst, auch unsere individuelle und gesellschaftliche Kommunikation, die Meinungsbildung in unserer Demokratie. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beschreibt in seinem Buch „Die große Gereiztheit“ die Erregungsmuster des digitalen Zeitalters. Diese Erregungsmuster verschieben auch die Grenzen des Sagbaren und Konsensfähigen. Die „Mediendemokratie“ wird, nach Pörksen, zu einer „Empörungsdemokratie“.
Auch dies erklärt die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft, die an Vehemenz auch in unserem Land gewonnen haben. Was passiert, wenn Gesellschaften auseinanderdriften, wenn eine Seite mit der anderen Seite kaum noch reden kann, das erleben wir bereits und zwar mitten in Europa. Und in unserem eigenen Land, so Bundespräsident Steinmeier am Tag der Deutschen Einheit, sind neue Mauern zwischen unseren Lebenswelten entstanden: Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut, oder die Mauern rund um die Echokammern im Internet.
Nicht nur Wahlkämpfe in jüngster Zeit haben gezeigt, dass Internetmedien eine immer stärkere Rolle für die Meinungs- und Willensbildung gewonnen haben. Allerdings vermitteln soziale Netzwerke nicht zwischen den verschiedenen Lebenssphären in der Gesellschaft, weil ihre Steuerungsalgorithmen Vielfalt und Zusammenhänge nicht unterstützen. Die Vielfalt der Argumente und Perspektiven wird ausgeblendet – eigene Positionen werden dagegen immer weiter bestärkt. Und die Dinge, die uns am meisten voneinander trennen, erhalten die meiste Aufmerksamkeit. Datenmonopole können in dieser Welt zu Deutungsmonopolen werden.
Das, was die englischsprachige Welt den „common sense“ nennt, geht im unregulierten Filterblasen-Kosmos der Trolle, der Verschwörungsapologeten und Hater in Schmähungen verloren. Und es scheint, als ob uns auch der Geltungsanspruch der Wahrheit durch belegbare und weithin akzeptierbare Tatsachen – ein Theorem, das über zweihundert Jahre seit der Aufklärung unumstößlich schien, verloren geht. Mit der social media Revolution ist uns auf jeden Fall die Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien abhandengekommen. Jeder kann selbst produzieren, kommunizieren, in kürzester Zeit millionenfach Verschwörungstheorien verbreiten und das Geschäft mit der Desinformation betreiben. Manche sprechen von einer Deregulierung des Wahrheitsmarktes – vergleichbar der Deregulierung der Finanzmärkte, mindestens ähnlich gefährlich. Die neuen Gatekeeper sind heute vor allem die Algorithmenwelten der Internetplattformen.
Internetnetze sind somit ambivalent, man kann dort aufgefangen werden, man kann sich in ihnen aber auch verfangen. Zu jeder Zeit, an jedem Ort. Es wird immer schwieriger einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu befördern und öffentliche Meinung zu generieren. Demokratie ist allerdings auf gelingende Kommunikation auf lebendige, auf funktionierende demokratische Öffentlichkeit angewiesen. Und damit auch auf Medien, die die Fakten recherchieren, Wahrheiten herausfinden, die Vielfalt der Meinungen abbilden, den gesellschaftlichen Diskurs befördern und Gesamtöffentlichkeit herstellen.
Allerdings erleben wir in Europa auch eine zum Teil erschütternde Veränderung der Medienfreiheitsrechte und damit auch der demokratischen Kultur. Mitten in Europa – auch bei unseren unmittelbaren Nachbarn – müssen uns die Einschränkungen der Freiheitsrechte beunruhigen. Auch hier in unserem Sendegebiet werden unsere Journalistinnen und Journalisten verbal und körperlich angegriffen. Das schmerzt uns in dieser Region ganz besonders, denn vor 30 Jahren war die Sehnsucht nach Freiheit in vorderster Linie auch eine Sehnsucht nach Medienfreiheit, frei von staatlicher Bevormundung und frei von Verzerrung der Wirklichkeit. Weltweit wird die Lage der Presse- und Meinungsfreiheit von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ nur noch in 16 Ländern als „gut“ eingestuft. Deutschland ist eines davon und unser aller Auftrag ist es, dafür Sorge zu tragen, dass das so bleibt. Denn es gibt ein unauflösbares Band zwischen freiem, nur der Wahrheit verpflichtetem Journalismus und der Freiheit in einer Demokratie. Auch das Bundesverfassungsgericht, hat uns jüngst mahnende Worte mit Blick auf Gefährdungen für unsere öffentliche Kommunikation und die Meinungs- und Willensbildung mit auf den Weg gegeben.
Die Filterung in Suchmaschinen, teils werbefinanziert, teils klickabhängig, die weitere Konzentration und Monopolisierung als Folge der globalen Netzwerk- und Plattformökonomie und die Gefahr, mit Hilfe von Algorithmen gleichgerichtete Meinungen zu verstärken, haben nach Auffassung unseres höchsten Gerichtes Folgen: Es wird schwieriger, Fakten und Meinungen, Inhalt und Werbung zu trennen. Zudem gibt es immer mehr Unsicherheit hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von Quellen und Wertungen. Und entgegen manchen Erwartungen, die öffentlich-rechtliche Medien für überholt halten, wächst nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er hat angesichts dieser Entwicklungen ein die Vielfalt sicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden. Diese verfassungsrechtliche Verantwortung ist das eine, sie muss zugleich aber einhergehen mit einer starken Verankerung in der Gesellschaft.
Das heißt für uns: Jeden Tag sorgfältig recherchieren, Fakten und Meinungen auseinander halten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darstellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund rücken. Wir haben für alle Bürgerinnen und Bürger ein Qualitätsanbieter zu sein – beim Informieren, beim Bilden, beim Unterhalten. Dieser Verantwortung stellen wir uns aus Überzeugung. Deshalb müssen wir uns immer wieder fragen: Wie befördern wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, bauen Brücken der Verständigung und sichern das gemeinsame Wertefundament? Wie organisieren wir Gesamtöffentlichkeit, wie verhindern wir das weitere Auseinanderdriften der Gesellschaft in Teilöffentlichkeiten? Diese Fragen müssen wir uns in den heutigen Zeiten alle stellen – nicht nur die Medien. Diese Fragen sollten deshalb auch der Ausgangspunkt für die Diskussionen um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein. 82 % der Menschen in Deutschland ab 14 Jahren nutzen täglich Angebote von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erreicht also regelmäßig fast die gesamte Bevölkerung – auch die jüngere Generation.
Übrigens ist Fernsehen nicht tot. Täglich schauen die Menschen im Schnitt 220 Minuten Fernsehen – in unserem Sendegebiet ca. 260 Minuten! Und 37 Millionen Menschen hören bundesweit täglich Radio. Allerdings sind die Menschen mittlerweile auch rund 200 Minuten am Tag im Internet unterwegs. Wir bringen nach wie vor Menschen und Meinungen zusammen und schaffen Voraussetzungen für einen offenen gesamtgesellschaftlichen Diskurs in einem für jeden zugänglichen gemeinsamen gemeinwohlorientierten Kommunikationsraum.
Wir wissen aber auch, dass wir uns angesichts des dynamischen Wandels der Medienwelt verändern müssen. Wir entwickeln deshalb den MDR in einem tiefgreifenden Impulsprozess zu einem Multimediahaus. Ziel ist es, für alle Bürgerinnen und Bürger auch mit neuen innovativen Angeboten ein verlässlicher und relevanter Qualitätsanbieter auf allen relevanten Plattformen zu sein. Dabei müssen wir konsequent auf die Technologien von heute und auf unsere traditionellen journalistischen Werte setzen. Wir freuen uns über das hohe Vertrauen, dass uns eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Mitteldeutschland nach wie vor entgegenbringt. Nach dem aktuellen Nutzermonitor des MDR vertrauen 90 Prozent dem MDR. Gleichwohl überhören wir nicht die kritischen Stimmen.
Wir alle in den Medien haben in den zurückliegenden Jahren zu wenig Auskunft gegeben über das, was wir tun und darüber, wie wir es tun. Diese Rechenschaft sind wir aber vor allem pflichtig gegenüber den Menschen, die unseren gemeinsamen, freien Rundfunk solidarisch finanzieren. Dazu gehört auch, die eigenen Qualitätsstandards transparenter zu machen, diese ständig zu überprüfen und uns auch einer öffentlichen Debatte darüber zu stellen und auch mit Fehlern offen umzugehen.
Und zu diesem Anspruch gehört auch, transparent und wirtschaftlich mit den uns anvertrauten Geldern umzugehen. Wir sind mit den Ländern der Überzeugung, dass wir gut beraten sind, nachhaltig Beitragsakzeptanz in der Gesellschaft zu sichern. Aber ebenso sind wir davon überzeugt, dass in einer Zeit, in der die Gesellschaft weiter auseinanderdriftet, ein vielfältiges Angebot, mit dem wir differenziert und differenzierend alle Menschen erreichen können, von hohem Wert für unsere Demokratie ist. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen für ihre Meinungsbildung starke und freie Qualitätsmedien. Und die Demokratie braucht aufgeklärte und gut informierte Bürgerinnen und Bürger.
Durch ihre föderale Struktur ist die ARD und ist die Dreiländeranstalt MDR mit ihren Landesfunkhäusern und Regionalstudios nahe bei den Menschen und ihren Lebenswelten. Regionalität ist die DNA des MDR. Wir geben der Region und ihren Bürgerinnen und Bürgern eine unverwechselbare Stimme und wir tragen zur Identitätsfindung bei. Dazu gehört auch, dass wir die ostdeutsche Geschichte differenziert erzählen und die vielen Facetten der ostdeutschen Lebenswirklichkeit heute zum festen Bestandteil unseres bundesdeutschen „Wir“ in den Angeboten der ARD werden. Wir brauchen allerdings noch mehr Dialog, müssen das Gespräch mit den Kritikern führen, ihnen zuhören und die richtigen Ableitungen für unsere Angebote treffen. Und wir haben erkannt, wie wichtig es ist, dass wir uns als gemeinsamer freier Rundfunk noch mehr öffnen. „Wir sind deins“ ist für uns ein Anspruch, den wir selbst an uns stellen und ein Versprechen gegenüber den Menschen hier in Mitteldeutschland.
Vom irischen Autor und Spötter Oscar Wilde, der immer nur mit dem Besten zufrieden war, stammt die Erkenntnis: „Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert“.
Aus der Rede von Prof. Dr. Karola Wille zum Jahresauftakt des MDR am 21.01.2019