„Das Netz entfaltet eine ungeheure Wirkmacht“
von Helmut Hartung am 17.07.2019 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Internet, Journalismus, Medienpolitik, Medienregulierung, Netzpolitik, Netzpolitik, Regulierung, Social Media

Jugendliche haben weiterhin Vertrauen in Glaubwürdigkeit und Objektivität klassischer Medien
17.07.2019. Interview mit Dr. Frauke Gerlach, Direktorin des Grimme Instituts
Die Verleihung des Grimme Online Award, Ende Juni in Köln, wollte mit ihren Preisträgerinnen und Preisträgern ein Zeichen für die Kraft der Netz-Communities setzen. Im Gegensatz zur oftmals eher gemeinschaftszersetzenden Kommunikationskultur im Netz, lenkte die Preisverleihung den Blick auf die hochwertigen und demokratieförderlichen Angebote im Netz – vor allem jenseits der großen Medienmarken. Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach, betonte die Herausforderungen des Internets für Politik und Gesellschaft: „Das Netz hat die kommunikativen Spielregeln der Politik unwiderruflich geändert.“ Neben der Straße habe jede gesellschaftliche Bewegung mit den sozialen Medien ein wirkmächtiges Instrument: „Dies befruchtet den demokratischen Diskurs. Aber wir sind auch mit Hass und Hetze konfrontiert, die in Gewalt münden kann“, so Gerlach weiter. Darauf müsse sich die Politik und die Gesellschaft in jeder Hinsicht einstellen, um zu fordern: „Wir brauchen gemeinsame, neue Spielregeln, auch wehrhafte.“
medienpolitik.net: Frau Gerlach, richtig oder falsch: Das Netz hat die politischen Spielregeln unwiderruflich verändert.
Gerlach: „Wenn wir den Zusatz die kommunikativen Spielregeln hinzuführen, würde ich sagen: Richtig.“
medienpolitik.net: Macht Ihnen das Angst oder freut Sie das?
Gerlach: Beides. Zum einen freut mich ein kritischer politischer Dialog. Ich bin ein Kind der 80er Jahre, der neuen sozialen Bewegung, geprägt davon, dass die Straße ein wichtiger Ort ist, um Inhalte zu reflektieren. Ein sichtbarer öffentlicher Ort der Bürgerinnen und Bürger, um der Politik, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern die Meinung sagen. Dies ist für eine Demokratie von zentraler Bedeutung. Mit dem Netz, den sozialen Medien gibt es jetzt ein Medium das den Diskurs mit einer Wirkmacht befeuern kann, die unglaublich ist. Dies ist Teil eines demokratischen Transformationsprozesses und aus meiner Sicht ein guter, ein produktiver Prozess. Es macht aber auch zugleich Angst, weil wir eben Hass, Hetze sehen, die zu Gewalt motiviert und aufruft. Die Gewalt geht von konkreten Bedrohungen von Politikerinnen und Politikern bis zu dem Mordversuch an der Oberbürgermeisterin von Köln, Frau Reker und ganz aktuell der Mord an dem Regierungspräsidenten Lübcke. Ja, das macht auch Angst und zielt schlussendlich auf die Destabilisierung unserer Demokratie. Das Netz unterstützt nicht nur den produktiven Diskurs, sondern fördert eben auch die Gewalt. Es ist Gewalt gegen Menschen, körperliche wie seelische Gewalt durch Hetze und Hass. Zudem sehen wir den gewalttätigen Rechtsradikalismus, dem wir uns entschieden entgegenstellen müssen.
medienpolitik.net: Wir erleben sehr viele Diskussionen im Netz darüber, welchen Einfluss darauf genommen werden kann. Und es gibt auch einige Politiker, die das glaube ich, noch nicht so richtig verstanden haben. Wie viel Ignoranz oder Arroganz offenbart hier die Politik?
Gerlach: Weder das Eine noch das Andere. Ich glaube, dass man die Mechanismen des Netzes im Grundsatz schon verstanden hat. Aber was ich eben gerade angesprochen habe: Die Wirkmacht des Netzes wird immer noch unterschätzt. Sie ist von den Akteuren nicht kausal steuerbar, aber wenn verschiedene Faktoren, wie der richtige Zeitpunkt, Bekanntheit eines Influencers, wie Rezo, die Berichterstattung der reichweitenstarken Medien über diese Kommunikation etc. zusammenkommen, dann entfaltet sich ungeheure Wirkmacht. Es gibt die Wirkmacht der Straße und es gibt die Wirkmacht des Netzes. Hierauf muss sich die Politik einstellen.
„Es gibt die Wirkmacht der Straße und es gibt die Wirkmacht des Netzes. Hierauf muss sich die Politik einstellen.“
medienpolitik.net: Eine Studie des Grimme-Forschungskollegs zeigt, dass sich bei Informationen und politischen, gesellschaftlichen Themen Jugendliche vor allem bei YouTube schlau machen. Haben die klassischen Medien den Zug verpasst?
Gerlach: Die gute Nachricht für die klassischen Medien ist erst einmal, dass die Jugendlichen großes Vertrauen in deren Glaubwürdigkeit und Objektivität haben. Dieses Vertrauen zahlt voll auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und auf die Tageszeitungen ein. Dies ist ein Ergebnis der Studie, die sich im Schwerpunkt mit der Fähigkeit junger Zielgruppen zur medienkritischen Auseinandersetzung mit YouTube beschäftigt. Der Wermutstropfen für die klassischen Medien ist, dass sie von dieser Zielgruppe nicht oder wenig gesehen werden. Jugendliche informieren sich bei YouTuberinnen und YouTubern über das Weltgeschehen und politische Ereignisse, interessieren sich für deren Kommentare. Der Grund: es ist unterhaltsamer und macht es mehr Spaß, weil dort auch die Freundinnen und Freunde unterwegs sind – man unterhält sich gemeinsam darüber. Mit den Schritten, die von den öffentlich-rechtlichen Sendern mit „funk“ gemacht wird, sehen wir, dass die Jugend erreicht werden kann. Insofern wirkt „funk“ als Scharnier zwischen dem traditionellen Fernsehen und dem, was auf YouTube passiert. Diese gesamte Entwicklung im Netz beeinflusst auch die Entwicklung der Inhalte im „klassischen“ Fernsehen. Und auch bei Tageszeitungen gibt es Bewegung und durchaus auch gute Nachrichten für die Reichweite. Es ist mühsam, aber diese Mühsal ist wichtig, weil wir demokratiestärkende Qualitätsmedien für den politischen Meinungsbildungsprozess brauchen, genauso wie unabhängige Journalistinnen und Journalisten.