„Disney+ wird den Wettbewerb neu entfachen“

von am 25.03.2020 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Infrastruktur, Internet, Livestream, Medienwirtschaft, Netzpolitik, Plattformen und Aggregatoren

„Disney+ wird den Wettbewerb neu entfachen“
Dr. Florian Kerkau, Geschäftsführer Goldmedia Custom Research GmbH

Der Start von Disney+ in Deutschland wird nicht zulasten von Netflix gehen

25.03.2020. Interview mit Dr. Florian Kerkau, Geschäftsführer Goldmedia Custom Research GmbH

Die Corona-Krise verändert das Mediennutzungsverhalten. Nach Informationen der Marktforschungsplattform Appinio gaben 45 Prozent der Umfrageteilnehmer an, in ihrer Freizeit wieder mehr TV zu sehen. 35 Prozent der Befragten nutzen das Streaming über VoD-Plattformen stärker. 44 Prozent surft deutlich mehr im Internet. Damit das Netz aufgrund der verstärkten Nutzung vor allem von Bewegtbildangeboten nicht zusammenbricht, haben große Streaming-Plattformen europaweit die Qualität ihrer Videos vermindert, um weniger Datenmengen zu beanspruchen. In dieser Boomzeit für Video-on-Demand-Anbieter ist gestern, wie geplant, die neue Plattform Disney+ in Deutschland freigeschaltet worden. Obwohl der Streaming-Dienst erst im November 2019 in den USA startete, ist Disney+ im vergangenen Jahr bereits auf Platz 8 der am meisten heruntergeladenen Video-Streaming-Apps (iOS und Google Play) gelandet. Im Dezember wurde die App weltweit auf Platz 6 der Apps mit den höchsten Verbraucherausgaben der Non-Gaming-Apps gerankt. Nach Einschätzung von Dr. Florian Kerkau, Geschäftsführer Goldmedia Custom Research GmbH, sei das Interesse an dem neuen Dienst sehr groß. Einen Nachteil für Netflix sieht er nicht: Zwei Drittel der potenziellen Disney+-Kunden wollen den Dienst zusätzlich zu ihren bestehenden Abonnements beziehen.

medienpolitik.net: Herr Kerkau, gestern ist Disney+ in Deutschland. Welche Chance hat dieses Angebot, sich gegen die „etablierten“ VoD-Plattformen wie Netflix oder Amazon zu behaupten?

Kerkau: Die langfristige Ankündigung des Deutschlandstarts von Disney+ hat viel Interesse geweckt. Über unsere Analyseplattform VoD-Raings.com haben wir aktuell eine Marktforschung zu dem Thema durchgeführt. Insgesamt 54 Prozent der VoD-Nutzer haben bereits vom Start des neuen Streamingangebots gehört. Immerhin rund 34 Prozent wollen den Dienst direkt ab Start nutzen oder abonnieren. Disney+ wird den Wettbewerb neu entfachen, das ist schon jetzt deutlich zu spüren. Nach unserer Erhebung gaben immerhin 3,7 Mio. VoD-Fans in Deutschland an, Disney+ nach dem Start Ende März nutzen zu wollen– und dies obwohl der Dienst noch gar kein Marketing gemacht hat. Mehr Angebote werden künftig aber auch zu mehr Nutzerwanderungen führen: Denn deutsche VoD-User abonnieren durchschnittlich nur zwei Streamingdienste und wollen dafür maximal rund 20 Euro ausgeben. Exklusive Inhalte werden noch wichtiger.

medienpolitik.net: Wird es voraussichtlich zu einer Markterweiterung kommen oder wird z.B. Netflix Abonnenten verlieren?

Kerkau: Konkurrenzkampf zwischen Disney+ und Netflix könnte ausbleiben. Die meisten potenziellen Disney+-Kunden wollen den Dienst zusätzlich zu ihren bestehenden Abonnements beziehen (67 Prozent) und lediglich ein Drittel der möglichen neuen Nutzer plant, einen anderen Dienst dafür zu kündigen (33 Prozent). Von einer Nutzerwanderung am stärksten betroffen wäre jedoch nicht Netflix, wie häufig prophezeit. Lediglich 6 Prozent der Netflix-User überlegen, den Dienst für Disney+ zu verlassen. Dagegen wäre Sky Ticket weit stärker beeinflusst: 15,8 Prozent erwägen eine Abwanderung. Die geplante Integration von Disney+ auf der Plattform Sky Q, wie auch schon bei Netflix geschehen, erscheint vor diesem Hintergrund als gute Maßnahme. Momentan ist der Presse hingegen zu entnehmen, dass die Telekom Disney+ auf ihrer Plattform anbieten wird. Da müssen wir mal abwarten, wer hier zum Zuge kommt. Auf der anderen Seite scheint aber auch Disney auf Vertriebspartner angewiesen zu sein. In allen Ländern sucht Disney nach Möglichkeiten und Partnern für einen schnellen Marktzugang. Die fehlenden Lizenzgelder der bei z.B. Netflix abgezogenen Titel scheinen doch einen gewissen Schmerz zu verursachen.

„Die spannende Frage für die Zukunft ist, wie viele Streamingdienste die Zuschauer parallel abonnieren und welche Summe sie dafür im Monat ausgeben werden.“

medienpolitik.net: Mit welchen Inhalten vor allem, könnte sich Disney Abonnenten sichern?

Kerkau: Hier hat Disney ja schon einen ziemlich festen Plan. Neben Marvell und Star Wars liegt der Fokus vor allem auf Familienunterhaltung. Eigentlich wie der Disney Channel im klassischen Pay-TV Geschäft. Vielleicht kein Zufall, dass Disney jüngst einen Pay Channel in Deutschland eingestellt hat.

medienpolitik.net: Fiktionale Produktionen bieten die anderen auch. Reicht Exklusivität in diesem Bereich allein aus, um sich eine gute Position im Markt zu sichern?
Kerkau: Etwa die Hälfte der VoD-Abonnenten ist bereit, ihr Nutzungsverhalten den Veränderungen anzupassen. Viele wollen ihre Dienste häufiger wechseln – hin zu dem, der gerade die spannendsten Inhalte bereitstellt. Die Exklusivität von Content spielt dabei eine wichtige Rolle: Für 20,7 Prozent der VoD-Nutzer wäre das ein Wechselgrund. Exklusivität hat aber auch eine Schattenseite. Wenn man gute Titel exklusiv anbietet heißt das eben auch, dass weniger Zuschauer Zugang haben. Hier liegt eine Gefahr für Disney, wenn sich in deren Heimrevier beispielsweise ein anderer Produzent mit ähnlichen Inhalten breit macht und diese über viele Plattformen hinweg anbietet. Das könnte die Marke Disney auch nachhaltig schwächen.

medienpolitik.net: In Deutschland liegt der Durchschnitt von Abos für Streaming-Plattformen bei 1-2 Abos, in den USA bei 3-4. Wird sich das in Deutschland schnell ändern? 

Kerkau: Die spannende Frage für die Zukunft ist, wie viele Streamingdienste die Zuschauer parallel abonnieren und welche Summe sie dafür im Monat ausgeben werden. Mehr als zwei Dienste wollen die meisten Zuschauer in Deutschland derzeit nicht abonnieren, für 75 Prozent sind zwei sogar das Maximum. Durchschnittlich sind die VoD-Nutzer hierzulande bereit, 20,50 Euro monatlich für Videostreaming zu bezahlen.  Wir gehen jedoch davon aus, dass sich diese Zahlen durch ein breiteres Angebot in der Zukunft moderat steigern werden. Aber auch „Password Sharing“ dürfte noch relevanter werden, denn 19,6 Prozent der Nutzer wollen von dieser Möglichkeit in Zukunft häufiger Gebrauch machen. Immerhin 13 Prozent der Abonnenten wären bereit für einen weiteren Service, um ihre Lieblingsinhalte sehen zu können. Auch werbefinanzierte Plattformen werden weiter an Bedeutung gewinnen, denn 11,3 Prozent der Nutzer wollen verstärkt auf solche Angebote ausweichen. Illegales Streaming wird vor allem bei jungen Leuten häufiger als Alternative genannt. Insgesamt 6,4 Prozent der VoD-Nutzer wollen wieder häufiger illegal schauen, wenn die Inhalte, die sie sehen wollen, nicht auf den bereits abonnierten Services zu sehen sind.

„Die Abo-Plattformen führen mit ihrer derzeitigen Distributionspolitik zu starken Verwerfungen in der Bewegtbildnutzung.“

medienpolitik.net: Welche Rolle könnten werbefinanzierte Plattformen künftig spielen?

Kerkau: Die Abo-Plattformen führen mit ihrer derzeitigen Distributionspolitik zu starken Verwerfungen in der Bewegtbildnutzung. Netflix ist durch die Idee groß geworden, dass quasi alles über den Dienst verfügbar war oder werden sollte (so die Idee), also ein Dienst für alles. So etwas hält ein Markt natürlich nicht lange aus und in der Folge haben sich weitere Angebote herausgebildet, die mit unterschiedlichen Rechtepaketen ausgestattet sind. Wer also alles sehen möchte, muss auch alles abonnieren. Und genau hier setzen die AVOD-Anbieter an. Sie möchten eben die Titel anbieten, die auf der Bezahlplattform fehlen, für die man aber kein weiteres Abo abschließen möchte- so zumindest die Theorie.

medienpolitik.net: Das setzt dann aber auch eine größere Transparenz der Plattformanbieter hinsichtlich der Reichweite voraus?
Kerkau: Für die Werbevermarktung wäre das sicher geboten. Hier ergeben sich aber noch weitere Probleme der Publikumsforschung. Während im Free-TV Zuschauerkontakte vermarktet werden, also Personen die Kontakte zu einer Werbung hatten, sind es bei den Streaming-Portalen Titelabrufe. Konkret heißt das, wenn im Free-TV zwei Personen einen Inhalt anschauen, werden gegenüber dem werbetreibenden Unternehmen auch zwei Personen abgerechnet. Anders bei Streaming, wird hier ein Titel vom Streamingserver abgerufen so wird dieser abgerechnet, egal wie viele Personen vor dem Bildschirm sitzen und Kontakt zur Werbung haben. Nach unseren Erhebungen mittels der VoD-Ratings.com verlieren die AVoD-Portale dadurch ca. 30 Prozent ihrer Reichweite.

medienpolitik.net: Sowohl die RTL- als auch die ProSiebenSat.-Gruppe, als auch die Telekom, bauen ihre VoD-Angebote mit exklusiven Inhalten, vor allem Serien, aus. Haben diese Streamingplattformen überhaupt eine Chance gegen die globalen Anbieter?

Kerkau: Die Telekom fährt ganz klar einen Plattformansatz und kann ihre eigene nicht unerhebliche Reichweite auch für die globalen Anbieter nutzbringend vermarkten. Anders sieht es bei den Broadcastern aus. Diese versuchen sich mit ihren klassischen Stärken abzusetzen. Einerseits versuchen sie durch lokale Produktionen näher an die Zuschauer zu kommen und anderseits versuchen die durch das AVoD-Geschäftsmodell den Zugang zum Produkt zu erleichtern. Ob und in welcher Größenordnung das funktioniert wird sich zeigen. Ich sehe eine gute Chance sofern sie ihre Karten geschickt ausspielen.

Print article