„Wir müssen dort hingehen, wo die Menschen sind“

ARD erreicht in der Corona-Krise über soziale Netzwerke viele junge Nutzer
20.03.2020. Interview mit Jürgen Ebenau, Hauptabteilungsleiter Online des SWR, Leiter ARD Partnermanagement Social Media
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk baut angesichts der Coronavirus-Epidemie seine Präsenz in sozialen Netzwerken aus und erzielt damit auch eine hohe Nutzung, vor allem bei Informationssendungen wieder „Tagesschau“. Jetzt zahlt sich aus, dass ARD, ZDF und Deutschlandradio ihre Angebote über soziale Netzwerke seit Mai vergangenen Jahres, mit der Umsetzung des Telemedienstaatsvertrages systematisch ausgebaut haben. So sind 6,6 Milliarden Video-Streams im vergangenen Jahr von offiziellen Accounts der ARD bei YouTube und Facebook abgerufen worden. Zudem nutzen User mehr als 22 Millionen Facebook- und 10,4 Millionen YouTube-Abos von ARD-Angeboten. Bei Facebook, Twitter, YouTube und Instagram wurde mehr als 300 Millionen Mal mit Kommentaren, Shares oder Likes auf die Inhalte reagiert. Mit 2,6 Millionen Followern ist die „Tagesschau“ auf Twitter der meistgefolgte deutsche News-Kanal. Auch auf Instagram liegt die „Tagesschau“ mit rund 1,4 Millionen Fans an der Spitze.
medienpolitik.net: Herr Ebenau, auf welchen sozialen Netzwerken ist die ARD mit ihren Inhalten oder Sendungen vertreten?
Ebenau: Die ARD distribuiert ihre Inhalte dort, wo sie Menschen in deren Lebenswirklichkeit erreicht, daher auch über die sozialen Netzwerke. Hier spielen die großen Plattformen wie YouTube, Facebook und Instagram eine wichtige Rolle. Aber auch andere bzw. kleinere Plattformen wie Twitter, Snapchat oder TikTok können, je nach angestrebter Zielgruppe, sinnvolle Ausspielwege für ARD-Inhalte sein. Nach §11d (4) Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (RStV) umfasst der Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auch Telemedien außerhalb des dafür jeweils eingerichteten eigenen Portals. Aufgrund des sich ständig verändernden Nutzungsverhalten muss die ARD ihre Aktivitäten auf Drittplattformen aber natürlich ständig evaluieren und anpassen.
medienpolitik.net: Unter welchen Gesichtspunkten werden diese „Plattformen“ ausgesucht?
Ebenau: Nach redaktionellen Erwägungen: Passen unsere Inhalte und Themen auf diese Plattform? Ist die Bespielung der Plattform für die Erfüllung des Rundfunkauftrages möglich und sinnvoll? Erreichen wir hier Menschen mit öffentlich-rechtlichen Inhalten, die unsere Angebote auf eigenen Plattformen oder auf den klassischen Ausspielwegen Fernsehen und Radio nur selten oder gar nicht wahrnehmen? Da sich die Plattformen hinsichtlich Zielgruppe und Funktionalität sehr stark unterscheiden, ist nicht jedes soziale Netzwerk auch automatisch als weitere Ausspielfläche für jedes ARD-Angebot geeignet. Wir schauen im Vorfeld sehr genau, für welche Zielgruppen wir welche Angebote auf welchen Plattformen anbieten wollen.
medienpolitik.net: „funk“ und der WDR sind auch auf TikTok vertreten, das einem chinesischen Betreiber gehört und bei dem auch Zensur geübt wird. Sind hier öffentlich-rechtliche Inhalte nicht auch der Regulierungswillkür ausgesetzt?
Ebenau: Was die besonders bei sehr jungen Menschen beliebte Plattform TikTok betrifft, befinden sich ARD wie auch Funk in einer Testphase. Wir wollen hier aber keinesfalls einfach nur einen Hype ausnutzen, um Reichweite bei den jüngeren Zielgruppen zu machen. Wir haben in der ARD schon das Ziel, unserem eigenen Anspruch als Anbieter von öffentlich-rechtlichen Inhalten mit hohem Qualitätsmaßstab gerecht zu werden. So berichtet die „Tagesschau“ auf TikTok regelmäßig über ernsthafte und relevante Themen wie die Flüchtlingspolitik der EU oder die Corona-Krise. Eine Zensur von ARD-Inhalten auf TikTok hat unseres Wissens noch nicht stattgefunden. Wir beobachten den Umgang mit unseren Inhalten aber sehr genau. Sollte der Zeitpunkt kommen, an dem für uns der Eindruck einer Zensur unseres Contents besteht, würden wir die Aktivitäten auf TikTok einstellen – und dies natürlich auch öffentlich machen.
medienpolitik.net: Inwieweit ist den Nutzern auch immer klar, dass es sich bei den Inhalten um öffentlich-rechtliche Angebote handelt, also um Angebote die sie auch mit ihrem Rundfunkbeitrag finanziert haben?
Ebenau: Daran arbeiten wir kontinuierlich. Wir nutzen Möglichkeiten der jeweiligen Plattform, um den Absender ARD sichtbar zu machen. Aber wir wollen das noch konsequenter und einheitlicher angehen, auch im Sinne einer stärkeren Vernetzung der ARD-Angebote. Bisweilen helfen uns bei der Kenntlichmachung unserer Inhalte auch die Plattformbetreiber selbst. So blendet YouTube unter Videos von Informationsformaten seit einiger Zeit ein Hinweisbanner ein, das auf die Zugehörigkeit des jeweiligen Formats zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk verweist. Etwas anders verhält es sich bei „funk“. Auch wenn die Dachmarke des Content-Netzwerks inzwischen offensiver transportiert wird, stehen bei „funk“ aber nach wie vor die Formate selbst im Vordergrund.
medienpolitik.net: Warum werden neben Informationen und Dokumentationen auch Unterhaltungsangebote auf soziale Netzwerke gestellt?
Ebenau: Auch die Unterhaltung ist Teil unseres Auftrags – und der bezieht sich nicht nur auf die linearen Ausspielwege. In den sozialen Netzwerken haben wir zudem die Möglichkeit, direkt mit der Community in Kontakt zu treten. So erreicht uns auch wertvolles Feedback. Bei „Verstehen Sie Spaß?“ bekommen wir von unserer sehr aktiven YouTube-Community regelmäßig Rückmeldungen zu einzelnen Videos oder Themenanregungen für künftige Pranks. Die Anregungen, Verbesserungsvorschläge und konstruktive Kritik haben durchaus konkrete Auswirkungen auf die Inhalte.
„Während der Zuschauer der 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ im linearen TV im Durchschnitt 63 alt ist, liegt das Durchschnittsalter der User bei Social Media bei 30 Jahren.“
medienpolitik.net: Wenn man die Nutzungszahlen auf sozialen Netzwerken in Relation zur linearen Nutzung betrachtet, wie fällt diese aus? Wie hoch ist die Nutzung z.B. bei Informationen im Verhältnis zur Nutzung der Tagesschau im Ersten oder den Dritten?
Ebenau: Die Nutzungszahlen auf sozialen Netzwerken in Relation zur linearen Nutzung fallen ganz unterschiedlich aus. Natürlich ist die „Tagesschau“ mit senderübergreifend rund 10 Millionen Zuschauern im linearen TV-Programm um 20 Uhr noch immer das Flaggschiff. An solche Werte kommt die Nutzung in den sozialen Netzwerken noch nicht heran, aber auch hier erreicht die Tagesschau längst ein Millionenpublikum. So belegten die Kollegen aus Hamburg im Januar dieses Jahres im Social Media Ranking von Storyclash mit über 12,3 Millionen Interaktionen bei Facebook, Instagram, Twitter und YouTube deutlich den ersten Platz unter den deutschen Medienanbietern, noch vor der BILD. Mit “Verstehen Sie Spaß?” erreichen wir über die linearen Sendungen einige Male pro Jahr für ein paar Stunden ein Millionenpublikum vor den TV-Bildschirmen. In den sozialen Netzwerken generieren wir Monat für Monat allein bei YouTube gut 17 Millionen Aufrufe der Videos des Unterhaltungsklassikers.
medienpolitik.net: Gibt es Zahlen über das Alter der Nutzer? Sind es vor allem die Jüngeren, die die ARD-Inhalte über soziale Netzwerke nutzen?
Ebenau: Bleiben wir bei den beiden Beispielen von eben: Während der Zuschauer der 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ im linearen TV im Durchschnitt 63 alt ist, liegt das Durchschnittsalter der User bei Social Media bei gerade mal 30 Jahren. Die „Tagesschau“ erreicht über die sozialen Plattformen also deutlich jüngere Menschen. Ähnlich sieht es auch bei „Verstehen Sie Spaß?“ aus: Rund 70 Prozent unserer Nutzer auf YouTube sind unter 35 Jahre alt, während das TV-Publikum auch hier im Schnitt deutlich älter ist. Und so verhält es sich bei vielen Formaten und Angeboten, auch etwa bei der regionalen Information.
medienpolitik.net: Reicht es aus, klassische Formate wie „Verstehen Sie Spaß?“ aus der linearen Welt in die sozialen Netzwerke zu stellen oder müssten nicht spezielle Formate entwickelt werden?
Ebenau: Natürlich können klassische Sendungsmarken auch in den sozialen Netzwerken funktionieren. Wichtig ist in erster Linie, dass der Inhalt plattformgerecht ist – und sich, wo es strategisch angebracht ist, die Palette der zugrunde liegenden Marke erweitert. Eine Eins-zu-eins-Übernahme von ganzen Sendungen ist nur in wenigen Fällen sinnvoll. „Verstehen Sie Spaß?“ passt als Prank-Format super auf YouTube, wäre dort aber sicher nicht so erfolgreich, wenn wir ausschließlich die ganze Show hochladen würden. Wir bereiten einzelne Pranks aus der Sendung zielgruppengerecht auf und produzieren parallel auch viele Online-Only-Inhalte. Dazu betreiben wir ein professionelles und engagiertes Community Management. Auch „Quarks“ vom WDR produziert exklusiv Inhalte nur für YouTube – und ist damit sehr erfolgreich. Es werden gezielt Fragen der Community aufgegriffen und wissenschaftlich fundiert für die Zielgruppe beantwortet.
medienpolitik.net: Der ORF hat die Präsenz seiner Angebote auf sozialen Netzwerken stark reduziert, um diese Unternehmen nicht mit kostenlosen öffentlich-rechtlichen Angeboten nicht noch zu stärken. Warum geht die ARD einen anderen Weg?
Ebenau: Die ARD hat sehr wohl auch in den einzelnen Landesrundfunkanstalten die Zahl ihrer Präsenzen in den sozialen Netzwerken kritisch hinterfragt und reduziert. Grundsätzlich sind wir aber der Meinung, dass wir dort hingehen müssen, wo die Menschen sind. Wir sollen der ganzen Gesellschaft ein Angebot machen, also auch all jenen, die unsere klassischen Programme nicht mehr einschalten. Die sozialen Netzwerke sind zudem ein wichtiger Ort, an dem Nutzer unter anderem die Möglichkeit haben, mit uns in Kontakt zu treten, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen oder mit anderen Nutzern die Inhalte der ARD zu diskutieren und kommentieren. Durch unsere Präsenz auf den sozialen Plattformen leisten wir sehr oft auch einen Beitrag zur Versachlichung von Diskussionen. Zudem ist uns daran gelegen, in den Netzwerken selbst kritisch über die Netzwerke zu berichten. Sei es über laxe Datenschutzbestimmungen oder über teils inkohärente Durchsetzung der Community Standards.