Ein verfassungsrechtlich heißes Eisen

Entwurf des Jugendschutzgesetzes stößt auf einhellige Kritik
21.02.2020. Von Rechtsanwalt Felix Hilgert, LL.M. und Rechtsanwalt Philipp Sümmermann, LL.M. (Osborne Clarke, Köln)
Eine Reform des deutschen Jugendmedienschutzes ist dringend nötig, in diesem Punkt stimmen Politik und Verbände überein. Allerdings endet die Einigkeit in der aktuellen Debatte um den Entwurf des Bundesfamilienministeriums bereits mit dieser Feststellung. In den vergangenen Wochen wurde bereits öffentlich teils deutliche Kritik am aktuellen Entwurf laut, etwa von Experten wie Prof. Dr. Marc Liesching im Beck-Blog oder auch von Videospieleanwalt Dr. Andreas Lober in der F.A.Z. vom 26. Februar. Wir haben das laufende Anhörungsverfahren daher zum Anlass genommen, zahlreiche Stellungnahmen zur Reform auszuwerten und die darin breit geäußerte Kritik zu systematisieren. Da das Familienministerium anders als bisher üblich die eingegangenen Stellungnahmen online nicht zur Verfügung stellt, konnten dafür jedoch nur diejenigen einbezogen werden, die an anderer Stelle bislang öffentlich verfügbar sind bzw. uns anderweitig vorlagen.
Bereits seit einiger Zeit trommelt Familienministerin Dr. Franziska Giffey für ein neues „Jugendmedienschutzgesetz“ (JuschG), wie sie die angedachte Reform des Jugendschutzgesetzes so regelmäßig wie irreführend bezeichnet. Dabei wagt sich der Bund an ein verfassungsrechtlich heißes Eisen. Aufgrund der Länderkompetenz für den Rundfunk haben diese bislang auch den Jugendmedienschutz im Online-Breich größtenteils eigenständig geregelt. Das Ergebnis ist ein zweispuriges System, wonach für einen Film auf einer DVD gänzlich andere Regelungen und Zuständigkeiten bestehen als für den gleichen Inhalt als Online-Video. Nun tastet sich der Bund zumindest an den Online-Bereich heran.
Damit war Streit zwischen Bund und Ländern vorprogrammiert, was sich auch an den Stellungnahmen zeigt. Der Bund rüttele mit diesem Entwurf „an den Grundsäulen der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern sowie Staatsverträgen der Länder als akzeptierte legislative Kooperationsform“, so Dr. Stephan Dreyer und Prof. Dr. Wolfgang Schulz vom Hans-Bredow-Institut. Der Entwurf verletze „nicht nur den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Staatsferne der Medienaufsicht, sondern auch die Kompetenzordnung des Grundgesetzes“, schreiben auch die Medienanstalten.
Trotz der verfassungsrechtlichen Schelte: Durch nahezu alle Stellungnahmen zieht sich der Wunsch nach einer kohärenten Regelung des Jugendmedienschutzes. Die von allen Obersten Landesjugendbehörden (OLJB) bis auf Bayern gemeinsam herausgegebene Stellungnahme fasst zusammen, was viele der Beteiligten befürchten: „Solange es kein einheitliches Regelungswerk zum Jugendmedienschutz gibt, sind Systembrüche, Regelungslücken und gegebenenfalls -dopplungen unvermeidbar.“
Der Schwerpunkt, der nun geführten Diskussionen, liegt auf vier Regelungen des neuen Entwurfs: § 10a JuSchG-E definiert Schutzziele des Kinder- und Jugendmedienschutzes, § 10b möchte unter anderem den für Alterskennzeichen maßgeblichen Begriff der Entwicklungsbeeinträchtigung um Interaktionsrisiken erweitern, § 14a sieht Kennzeichnungspflichten für bestimmte Film- und Spielplattformen vor und § 24a legt Diensteanbietern verpflichtend Vorsorgemaßnahmen auf.
§ 10a JuSchG-E: Schutzziele des Kinder- und Jugendmedienschutzes
Äußerst kritisch positionieren sich die meisten Stellungnahmen zu den neuen Schutzzielen in § 10a JuSchG-E. Vier Ziele des Kinder- und Jugendmedienschutzes möchte der Entwurf kodifizieren: den Schutz vor entwicklungsbeeinträchtigenden Medien (Nr. 1), den Schutz vor jugendgefährdenden Medien (Nr 2), den Schutz der persönlichen Integrität von Kindern und Jugendlichen (Nr. 3) und die Förderung von Orientierung bei der Mediennutzung und Medienerziehung (Nr. 4).
Insbesondere stoßen sich die Beteiligten an der Art, wie der neue Begriff „Schutz der persönlichen Integrität“ Einzug in das legislative Gefüge findet. So kritisiert unter anderem die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia, dass § 10a Nr. 3 JuSchG-E „zwischen den entwicklungsbeeinträchtigenden Medien und dem Schutz der persönlichen Integrität unterscheidet“, während „§ 10b JuSchG-E diese wieder miteinander vermengt.“ Google warnt, dass der Entwurf hier „straf- und datenschutzrechtliche Aspekte mit Gedanken aus Verhaltenskodizes wie z.B. Verhinderung exzessiver Nutzung“ vermenge. Dies führe „nicht nur zu Rechtsunsicherheit, sondern zu weiteren Diskrepanzen mit den Vorgaben des JMStV.“ Das Deutsche Kinderhilfswerk begrüßt den Begriff der schützenswerten „persönlichen Integrität“ aus pädagogischer Sicht, schränkt aber ein, die „juristische Funktionalität des Terminus [sei] für [sie] nicht abschließend bestimmbar bzw. muss sich unter Umständen in der Praxis erweisen.“ Die Medienanstalten sehen die Vermittlung von Medienkompetenz bei den Ländern und daher im § 10a Nr. 4 fehl am Platz. Sie warnen vor einer „signifikanten Rechtsunsicherheit bei Stakeholdern und Anbietern.“
§ 10b JuSchG-E: Begriff der Entwicklungsbeeinträchtigung
Der neue § 10b JuSchG-E weitet den Begriff der Entwicklungsbeeinträchtigung aus. Insbesondere soll es künftig möglich sein, Interaktionsrisiken in die Bewertung einfließen zu lassen.
Der Bitkom hält es für „nicht sinnvoll, diese dynamischen Risiken im Rahmen der Alterseinstufungen von Inhalten zu berücksichtigen. Der game – Verband der deutschen Games-Branche warnt, dass sich der Gesamtmarkt „über die Plattformen pauschal in das Kennzeichen ,keine Altersfreigabe’ [flüchten könnte] (Race to the top). Dies würde zu einem Wegfall der bewährten und Eltern wohlbekannten Alters-Differenzierung führen.“ Die Obersten Landesjugendbehörden begrüßen die Aufnahme von Risiken für die persönliche Integrität. Sie fordern aber, „die Verfahren so zu gestalten, dass die hohe Orientierungsfunktion und das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauen in die Aussagekraft der etablierten Alterskennzeichen gewahrt bleibt. Entsprechend können die so genannten Interaktionsrisiken bei der Entscheidung über Altersfreigaben eine Rolle spielen, sie müssen es jedenfalls nicht – und in vielen Fällen scheint es auch nicht das geeignetste Instrument zu sein.“ Obwohl das Deutsche Kinderhilfswerk die Initiative begrüßt, hinterfragt man auch hier die genaue Ausgestaltung. Der Deutsche Bundesjugendring äußert Irritation darüber, „dass die exzessive Mediennutzung auf eine Ebene mit Interaktionsrisiken, Datenschutz und Kaufmöglichkeiten gestellt wird“. Zugleich kritisiert er aber, dass die Definition der Entwicklungsbeeinträchtigung „deutlich kürzer“ als die des JMStV sei.
§ 14a JuSchG-E: Vorlage- und Kennzeichnungspflicht für Film- und Spielplattformen
Eine Vorlage- und Kennzeichnungspflicht implementiert § 14a JuSchG-E für Film- und Spielplattformen, die als Diensteanbieter Programme in einem Gesamtangebot zusammenfassen. Hierbei dürfen nur Kennzeichen der anerkannten Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle oder von anerkannten automatisierten Bewertungssystemen zum Einsatz kommen.
Der Arbeitskreis der Jugendschutzbeauftragten weist darauf hin, dass dies ihre „Funktion und langjährige Expertise“ aushebele: „Die qualifizierten Bewertungen der Jugendschutzbeauftragten werden […] im JuSchG-E ignoriert. Damit kann der Entwurf seinem selbstgesteckten Ziel eines verlässlichen, kohärenten und konvergenten Jugendschutzes unserer Ansicht nach nicht gerecht werden.“ Auch die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft SPIO und die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft meinen, es müsse die „Möglichkeit einer Anbieterkennzeichnung geschaffen werden, um Wertungswidersprüche und die Ungleichbehandlung der Ausspielwege aufzulösen.“ Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen sieht durch die Regelung „das seit 2003 bestehende, gut funktionierende selbstregulative Jugendsystem geschwächt.“ Ihr zufolge sei „der faktische Jugendschutzeffekt einer Kennzeichnungspflicht nach §14a JuSchG-E […] fraglich, wenn große internationale Unternehmen hiervon nicht betroffen sind und so die kleineren inländischen Anbieter im Wettbewerb weiter geschwächt werden.“ Auch den unklaren Anwendungsbereich kritisieren zahlreiche Verbände.
§ 24a JuSchG-E: Verpflichtung zu Vorsorgemaßnahmen
Anbieter, die nutzergenerierte Inhalte speichern oder bereitstellen, sollen künftig gemäß § 24a JuSchG-E durch strukturelle Vorsorgemaßnahmen dafür Sorge tragen, dass die neuen Schutzziele des Jugendschutzgesetzes gewahrt werden. Die Norm enthält einen ausführlichen Katalog möglicher Maßnahmen.
Die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen sieht bei der Regelung die „grundsätzliche Problematik, dass sich die Vorgaben für Anbieter von Video-Sharing-Diensten im vorliegenden Entwurf und im MStV-E widersprechen.“ „Die Voraussetzungen sind sehr detailliert und lassen kaum Spielraum für die Entwicklung neuer Ansätze“, kritisiert zudem der game. „Damit ist der JuSchG-E […] nicht zukunftssicher und droht in kurzer Zeit bereits wieder veraltet zu sein.“ Die Obersten Landesjugendbehörden fordern etliche Konkretisierungen und Präzisierungen, halten aber generell das strikte Festhalten am Herkunftslandprinzip im Medienbereich/Jugendmedienschutz für nicht mehr zweckdienlich. Zahlreiche Stakeholder, darunter der JusProg, stoßen sich am verwendeten Begriff der Altersverifikation, die im Jugendmedienschutz üblicherweise für technische Beschränkungen zum Zugriff auf jugendgefährdende Inhalte genutzt wird.
Auswertung der Stellungnahmen
Unsere Auswertung zeigt: Der erste Eindruck, der durch die öffentlich teils deutliche Kritik entstanden ist, täuscht nicht: Auch die Stellungnahmen sind überwiegend kritisch und betrachten gleich mehrere Aspekte des Entwurfs als problematisch. Ebenso vielfältig wie die einzelnen Kritikpunkte sind dabei die Akteure, von denen sie stammen. Ob Wissenschaft, Länder, Selbstkontrollen, Verbände der Digitalwirtschaft oder Games-Branche: Sie alle eint der Wunsch nach deutlichen Überarbeitungen des aktuellen Entwurfs. Angesichts dessen wäre es auch aus Sicht der Rechtspraxis wünschenswert, wenn Bund und Länder sich auf ein neues Regelungskonzept aus einem Guss verständigen könnten. Der geäußerten Kritik muss Rechnung getragen werden, auch wenn dies bedeutet, dass das Bundesfamilienministerium zunächst weiter den Dialog suchen muss, anstatt das Gesetz abzuschließen. Schließlich sind sich beim Ziel alle einig: Wir brauchen einen Jugendschutz, der moderner, handhabbarer, konvergenter, rechtssicherer und damit effektiver gestaltet ist.