„Die Giganten des Streamingmarkts brechen mit den Traditionen Hollywoods“

Die Corona-Krise könnte eine Zäsur für die Filmwirtschaft darstellen
25.05.2020. Interview mit Gabriel Mohr, Medienexperte bei der Strategieberatung Arthur D. Little
Der große Streaming-Erfolg des Animationsfilms „Trolls World Tour“ könnte eine Zäsur für die Unterhaltungsindustrie darstellen. Binnen drei Wochen hat der Film Universal Pictures mehr Umsatz beschert als der Vorgänger, welcher fünf Monate in den US-Kinos zu sehen war. Aufgrund des Lockdowns und geschlossener Kinosäle haben die Studios eigene Pläne für das Streaming getestet. Das überzeugende Resultat könnte die Branche maßgeblich verändern. NBC Universal kündigte bereits an, nach überstandener Krise einige Filme parallel zum Kinostart in Streamingdiensten anbieten zu wollen. Für die ohnehin bereits angeschlagenen Kinobetreiber könnte ein Machtkampf mit den Produktionsfirmen gefährlich werden. Langfristig werden große Blockbuster wohl auch weiterhin auf der großen Leinwand zu sehen sein. „Die Giganten des Streamingmarkts brechen mit den Traditionen Hollywoods“, erläutert Gabriel Mohr, von der Strategieberatung Arthur D. Little. Verbraucherumfragen zeigten, dass nur noch 20 Prozent der Menschen einen Film zum ersten Mal auf der großen Leinwand sehen wollten, betont der Medienexperte. Die großen Blockbuster würden aber auch weiterhin ein großes Publikum im Kino finden. Die Premiere als Event habe mit Sicherheit eine Zukunft.
medienpolitik.net: Herr Mohr, der Animationsfilm „Trolls World Tour“ hat per Streaming binnen drei Wochen Universal Pictures mehr Umsatz beschert als der Vorgänger, der fünf Monate in den US-Kinos zu sehen war. Über welche Plattformen wurde der Film gestreamt?
Mohr: “Trolls World Tour” kam wohl für viele Plattformen – aber natürlich auch viele Eltern – gerade zur rechten Zeit: war man doch aufgrund von Homeoffice und geschlossenen Kindergärten und Schulen für Abwechslung bzw. Ablenkung äußerst dankbar. Der Film war je nach Land auf einer Vielzahl von Plattformen verfügbar. Prime Video, Vudu, Google Play, FandangoNow, YouTube, xFinity sowie iTunes zeigten den Film in den Staaten. In Europa gehörten Prime Video, iTunes, Microsoft Stores, Sky Store, Google Play, YouTube, BT TV Film Store, Apple TV, Chili, Google Play, Rakuten TV, Tim Vision sowie Mediaset Play zu den Plattformen, die den Film anboten. Mit Preisen zwischen 15 und 20 Euro je nach Land war das Angebot nicht unbedingt ein Schnäppchen.
medienpolitik.net: In der Corona-Krise ist das Streaming, auch weil viele zuhause waren, deutlich gewachsen. Lohnt sich eine Präferenz für das Streaming ohne Kinopremiere auch noch bei einer Normalisierung der Situation?
Mohr: Ich glaube, hier muss man je nach Film unterscheiden. Jüngste Marktentwicklungen deuten darauf hin, dass das traditionelle 90-Tage-Fenster in vielen Fällen deutlich verkürzt werden muss. Netflix und Amazon haben in der Vergangenheit regelmäßig nur ganz vereinzelt und parallel zum Streamingangebot Filme in den Kinos präsentiert. Selbst Disney hat im Zuge der Coronakrise und des Starts von Disney+ eine Einzelfallprüfung angekündigt. Die Giganten des Streamingmarkts brechen mit den Traditionen Hollywoods. Verbraucherumfragen legen auch nahe, dass die Kinopremiere nur noch in Ausnahmefällen die Zuschauerpräferenz darstellt – kaum 20 Prozent wollen den Film zum ersten Mal auf der großen Leinwand sehen. Viele präferieren Streaming. Der gigantische Erfolg von „Trolls“ 2 ist aber natürlich in weiten Teilen der Sondersituation zu verdanken. Die großen Blockbuster finden auch weiterhin ein großes Publikum im Kino. Die Premiere als Event hat mit Sicherheit eine Zukunft. Zuletzt hielten sich ja Gerüchte, dass Amazon an einer Übernahme von AMC Interesse haben könnte. Vielleicht wird das Kino mittelfristig tatsächlich zu einer Portfolioergänzung der Content-Riesen?
„Jüngste Marktentwicklungen deuten darauf hin, dass das traditionelle 90-Tage-Fenster in vielen Fällen deutlich verkürzt werden muss.“
medienpolitik.net: Universal Pictures verfügt bisher über keine eigene Plattform. Wäre nach dem Vorbild von Disney+ ein Universal+ denkbar?
Mohr: NBC Universal gehört zu Comcast. Das Unternehmen ist ein Kabelnetzgigant aus den USA, besitzt aber auch Filmstudios und Freizeitparks sowie Sky. Die Pläne für den eigenen Streamingdienst Peacock sind bereits Realität. Auch wenn der Service derzeit nur den Kabelkunden zur Verfügung steht. In den USA erfolgt der breite Start wohl am 15. Juli, wobei in der Krise Verzögerungen nicht ausgeschlossen scheinen. Peacock gesellt sich ab Sommer zu einem ohnehin breiten Angebot: Disney Plus, Apple TV Plus, Warner Medias HBO Max sind die Herausforderer der Platzhirsche Netflix und Amazon. Comcast hat eine Reihe von großen Namen in der eigenen Bibliothek, die eher ein älteres Publikum ansprechen. Man scheint gewillt, mit günstigen Preisen schnell Marktanteile zu gewinnen.
medienpolitik.net: In der Corona-Krise haben mehrere Studios Kinofilme über Streaming-Plattformen gezeigt. Ist diese Entwicklung – wenn alle Kinos wieder geöffnet haben – zurückzudrehen?
Mohr: Die Produktionsfirmen haben für 2020 noch diverse Blockbuster in Planung. Die Beibehaltung der klassischen Vertriebswege ist aufgrund des Umsatzpotentials hier wohl doch verlockend. Ob es gelingt, diese Entwicklung umzukehren und die traditionellen Vertriebskanäle zu erhalten, hängt weitgehend von der Dauer der Pandemie und letztlich davon ab, ob die Produktion und Verbreitung von Inhalten, insbesondere in den Theatern, weiterhin gestört wird. Wenn Filmproduzenten und Studios geschlossen bleiben und ernsthafte finanzielle Probleme bekommen, ist zu erwarten, dass mehr von ihnen ihre Filme digital uraufführen werden, um ihr Geschäft am Leben zu erhalten. Für Kinobetreiber ist die Situation derzeit absolut verheerend. Aktuell wird diskutiert, ob ein Restart im Sommer möglich ist. Kinos müssen sich aber langfristig überlegen, wie sie ihren Besuchern ein verbessertes Erlebnis bieten können. 3D war hier ein Trend. Aber es wird mehr brauchen.
medienpolitik.net: Ist das nur ein Phänomen in den USA und ist hier eine vergleichbare Entwicklung zu erwarten?
Mohr: Die USA haben eine SVOD-Durchdringung von 39.2 Prozent. Damit führt man den Trend weltweit an. Mit 29.0 Prozent gehört Deutschland aber auch zu den Streamingvorreitern. Ich gehe davon aus, dass diese strategischen Entwicklungen in den USA entschieden werden, sich dann aber auch in Europa ausbreiten. Allerdings sehen wir innerhalb von Europa länderspezifische Präferenzen in puncto Kinonutzung. Außerdem dürften viele Märkte in Europa deutlich preissensibler sein, sodass ich nicht glaube, dass sich Preise im Bereich von 20 Euro für Filme wie „Trolls“ langfristig halten lassen.
„Vielleicht wird das Kino mittelfristig zu einer Portfolioergänzung der Content-Riesen.“
medienpolitik.net: Müssen wir uns darauf einstellen, dass künftig ein immer geringerer Teil der Blockbuster seine Premiere im Kino erlebt?
Mohr: Straight-to-streaming kann bei vielen Filmen für Studios ökonomisch sinnvoll sein. Auch die Konkurrenz im Streaminggeschäft erfordert natürlich, mit exklusiven Inhalten – am besten vorab – aufwarten zu können. „Trolls“ 2 taugt aber aufgrund der Sondersituation nicht unbedingt als Benchmark. Leute waren zuhause, das Medienecho war relativ groß. All dies waren Erfolgstreiber. Außerdem war der Film natürlich sehr familienfreundlich und Sofa geeignet. Bei anderen Genres ist das anders. Action-, Horror- oder Kunstfilme sind häufig auf die große Leinwand zugeschnitten. Die großen Kinobetreiber haben auch schon mit Konsequenzen gedroht für den Fall, dass Studios eine eigene Form der Rosinenpickerei betreiben. Hier ist der Machtkampf gerade erst eröffnet. Ich glaube aber nicht, dass das Kino als Medium verschwindet.
medienpolitik.net: Wie müssen die Kinos auf diese Entwicklung reagieren?
Mohr: Kinos werden sich im Event-Business positionieren und bleiben eine Alternative zum gewöhnlichen Streaming zuhause. Sie können mit Produzenten von Inhalten zusammenarbeiten und sich darauf spezialisieren, Zeltstangen-Events für große Blockbuster-Filme oder Eröffnungsfolgen erfolgreicher Fernsehsendungen zu kreieren. Hier stünde nicht bloß der Film im Fokus, sondern auch Merchandising-Artikel, das Gemeinschaftserlebnis gegebenenfalls sogar zusätzliche Folgen von Sendungen. Darüber hinaus können sich Kinos von Streaming-Diensten abheben, indem sie 3D- und VR-Erlebnisse anbieten. Bewegliche Sitze, Geruchseindrücke etc. werden ja schon erprobt und unterstreichen den Eventcharakter. Andererseits können sich Kinos, insbesondere kleinere Veranstaltungsorte, auf die Zusammenarbeit mit kleineren Produktionsfirmen konzentrieren, die nicht über die gleichen Streaming-Kanäle wie große Studios verfügen, und sich auf die Vorführung von Nischeninhalten konzentrieren.
„Pay per View oder Abos generieren planbare Einnahmen und senken langfristig Marketingkosten.“
medienpolitik.net: Was bedeutet das für die Content-Produzenten?
Mohr: Da die Studios nur einen Anteil von 40-60 Prozent der Einnahmen aus den Kinokassen erhalten, sehen wir, dass immer mehr Produzenten eigene Streaming-Dienste integrieren und auf den Markt bringen. Pay per View oder Abos generieren planbare Einnahmen und senken langfristig Marketingkosten. Produzenten von Inhalten, die keine eigenen Streaming-Plattformen lancieren können oder wollen, können über Kooperationen mit Streamingdiensten attraktive Einnahmen generieren. Wir erwarten jedoch, dass die Produzenten von Inhalten weiterhin bestrebt sein werden, gute Beziehungen zu den Kinos zu unterhalten, um Zuschauer zu erreichen, die das Kinoerlebnis bevorzugen. Darüber hinaus kann eine enge Zusammenarbeit mit den Kinos und eine Abstimmung der Marketingaktivitäten nicht nur koexistieren, sondern sogar den Online-Verkehr steigern und gleichzeitig die Zahl der Kinobesucher durch Co-Werbung erhöhen.