„Wir müssen Brücken bauen, wenn die Gräben tiefer werden“

von am 21.05.2020 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Kreativwirtschaft, Medienordnung, Medienpolitik, Medienwirtschaft, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

„Wir müssen Brücken bauen, wenn die Gräben tiefer werden“
Prof. Dr. Karola Wille, Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks, MDR

MDR verantwortet das neue ARD-Kulturportal und will damit ein innovatives digitales Angebot schaffen

22.05.2020. Interview mit Prof. Dr. Karola Wille, Intendantin des MDR

Die ARD wird ein digitales und innovatives Kulturangebot in Mitteldeutschland aufbauen. Unter Federführung des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), der die Idee des gemeinsamen Kulturangebots entwickelt hat, wird die Redaktion die Aufgabe haben, Konzerte, Ausstellungen und weitere Kulturerlebnisse aus den einzelnen Sendegebieten der ARD zu bündeln. Ziel ist es, diese Inhalte für die Menschen in ganz Deutschland besser auffindbar und zugänglich zu machen. Die Angebote werden auch über die ARD Audiothek und die ARD Mediathek verbreitet. Mit diesem neuen ARD-Gemeinschaftsangebot mit Sitz in Mitteldeutschland, will der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch um Sympathie bei Landtagsabgeordneten aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werben, die sich bisher gegen eine Erhöhung des Rundfunkbeitrages aussprechen.Weil wir festgestellt haben, dass Gräben tiefer wurden, die Gesellschaft sich polarisiert“, erläutert Karola Wille in einem medienpolitik.net-Gespräch, müssen öffentlich-rechtliche Sender Brücken bauen und die Vielfalt der verfügbaren Informationen, vorhandenen Meinungen, Erfahrungen und Verhaltensmuster abbilden. „Dies muss einhergehen“, so die MDR-Intendantin, „mit einer anderen Beziehung zum Publikum, mehr Nähe, mehr Abgleichen mit direkten Erfahrungen der Menschen, mehr Dialog.“

medienpolitik.net: Frau Wille, die ARD-Intendanten haben sich auf eine weitere Gemeinschaftseinrichtung geeinigt – mit Sitz in Mitteldeutschland. Was soll das gemeinsame Kulturangebot leisten?

Wille: Wir diskutieren in der ARD seit mehreren Jahren über eine weitere Gemeinschaftseinrichtung beim MDR, damit Ostdeutschland sich auch in den ARD-Strukturen stärker wieder findet. Seit Anfang 2019 hat sich die ARD außerdem intensiv mit der Aufbereitung ihrer kulturellen Inhalte befasst und ich freue mich sehr, dass es uns nun sogar gemeinsam mit ZDF und Deutschlandradio gelingt, ein digitales, innovatives und vernetztes öffentlich-rechtliches Kulturangebot mit Sitz in Mitteldeutschland auf den Weg zu bringen. Kaum eine Region in Europa hat solch eine Vielfalt und Dichte von Kunst und Kultur zu bieten: Von Bach bis Bauhaus, von Goethe bis Wave-Gotik-Treffen – Mitteldeutschland ist ein wunderbarer Ort, um Brücken zu schlagen, zu verbinden, neugierig zu machen, und all dies im dreißigsten Jahr der deutschen Einheit. Ob man gemeinsam zuhört oder miteinander singt, sich an Theater erfreut oder an einem Kunstwerk reibt – Kultur sorgt für Zusammenhalt und wirkt identitätsstiftend.

Das steht natürlich noch unter dem Vorbehalt der Gremien – dann wollen wir 2021 starten, das Ziel ist klar: ein gemeinsames Angebot als digitale Heimat für alle Kulturinteressierten und als bundesweite Bühne für Kulturmacherinnen und -macher. Damit wollen wir unter Federführung des MDR das vorhandene vielfältige Angebot der ARD im Bereich Kultur sichtbar und nutzbar machen und auch die ARD Mediathek und die ARD Audiothek stärken. Unser digitales Gemeinschaftsgebot soll zugleich ein Treiber für Kulturinnovationen werden – für hochwertige, kreative Kulturangebote, neue Formate und Interaktionen -und all dies verlinkt mit einer nutzerfreundlichen Brücke zu Kulturinhalten des ZDF und des Deutschlandradios. In der Corona-Krise haben wir gerade erst gezeigt, was an kreativen ad-hoc Formaten möglich ist. Mit der pandemiegerechten Übertragung der Johannes-Passion aus der Leipziger Thomaskirche etwa haben wir weltweit Gemeinschaftsmomente geschaffen. Diesen besonderen Zusammenhalt zwischen den Menschen wollen wir unbedingt bewahren und ausbauen.

medienpolitik.net: In allen drei Landesparlamenten der MDR-Vertragsländer formiert sich Widerstand gegen eine Erhöhung des Rundfunkbeitrages. Wie erklären Sie sich das?

Wille: Vor drei Jahrzehnten sind die Menschen in Ostdeutschland gegen politisch abhängige Medien und für den freien Zugang zu Informationen auf die Straße gegangen. Medienfreiheit hat gerade deshalb in unseren drei Staatsvertrags-Ländern einen großen Stellenwert.  Zugleich gehören kritische Debatten zur Demokratie. Dem muss sich auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk stellen. Dazu gehört die Frage, ob sich ostdeutsche Lebenswirklichkeiten in den bundesweiten Angeboten genügend differenziert widerspiegeln oder ob die ARD in ihren gemeinschaftlichen Strukturen auch in den ostdeutschen Ländern adäquat verankert ist. Hier hat sich in den letzten Jahren vieles getan. Auch die jetzt unter Vorsitz des WDR angeschobene Verlängerung der Tagesthemen bietet eine große Chance, die vielfältige Lebenswirklichkeit im Osten Deutschlands noch umfangreicher zu vermitteln. Bei all diesen Debatten gilt: die Beitragsfestsetzung muss frei von medienpolitischen Zwecksetzungen erfolgen. Das vom Bundesverfassungsgericht mehrfach bestätigte Verfahren zur Ermittlung und Festsetzung des Rundfunkbeitrags sichert die Freiheit und Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

„Wir wollen unter Federführung des MDR das vorhandene vielfältige Angebot der ARD im Bereich Kultur sichtbar und nutzbar machen und auch die ARD Mediathek und die ARD Audiothek stärken.“

medienpolitik.net: Welche Möglichkeiten sehen Sie als Intendantin des MDR bei den erhöhungsunwilligen Parlamentariern für ein Beitragsplus von 86 Cent zu werben?
Wille: Ich werbe mit unserem Angebot. Wir sind für die Menschen in Mitteldeutschland mit Nachrichten, Hintergründen, Kultur, Bildung und Unterhaltung ein verlässlicher medialer Begleiter.

Ich werbe mit unserem Auftrag und unseren Werten: In Krisenzeiten ist es besonders wichtig, Fakten von Desinformation und Verschwörungstheorien zu unterscheiden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht für unabhängigen Qualitätsjournalismus.

Ich werbe mit dem Reformweg, den wir in der ARD und im MDR konsequent weiter gehen. So haben wir zum Beispiel eine ganze Reihe von Strukturprojekten auf den Weg gebracht und werden allein damit bis 2024 Einsparungen von 311 Millionen Euro erzielen.

Und ich werbe mit unserem Kernversprechen. Wir berichten aus der Region für die Menschen in dieser Region. Das ist es, was die Menschen am MDR schätzen. Dabei treiben wir die digitale Veränderung im Haus voran, um auf den unterschiedlichsten Wegen vielfältige Angebote für Jung und Alt zu machen. Laut unserem jährlichen Nutzermonitor erleben die Befragten den MDR als  „sympathisches Medienhaus“ mit besonderer Regionalkompetenz. Das ist unser Auftrag und unser gemeinwohlorientierter Anspruch.

medienpolitik.net: Könnten Sie die Beurteilung des MDR durch die Nutzer bitte konkretisieren.

Wille: Der MDR hat in seinem Sendegebiet eine sehr hohe Akzeptanz: 93 Prozent der Menschen in Mitteldeutschland nutzen unsere Angebote, gerade bei den jüngeren Altersgruppen konnten wir schon vor Corona – und seitdem noch einmal verstärkt – zulegen. Noch einmal der Nutzermonitor 2019: demnach sagen rund 70 Prozent der Menschen aus Mitteldeutschland: „Der Rundfunkbeitrag sichert ein unabhängiges und anspruchsvolles Medienangebot in Deutschland.“  Auch die gesellschaftliche Relevanz des MDR ist für unser Publikum hoch. Sie ist von 2018 auf 2019 nochmals um 5 Prozentpunkte auf 70 Prozent gestiegen. Und: 88 Prozent der Menschen vertrauen dem MDR.

medienpolitik.net: Der MDR erreicht, wie diese Zahlen zeigen, hohe Akzeptanzwerte in Mitteldeutschland. Sehen Sie darin einen Widerspruch zur ablehnenden Position gegenüber einer Beitragserhöhung?
Wille: Fakt ist: Die große Mehrheit der Menschen in Mitteldeutschland sagt: Die Angebote des MDR in Fernsehen, Radio und Online sind es wert, dass man dafür Rundfunkbeitrag zahlt. Die Menschen in Mitteldeutschland nehmen uns schon vor der Coronazeit und jetzt noch einmal verstärkt als Vertrauensanker wahr. Das ist eine große Verantwortung, der wir uns jeden Tag aufs Neue stellen. 2020 haben wir daher ganz bewusst unter den publizistischen Leitgedanken „miteinander leben“ gestellt. Gerade weil wir festgestellt haben, dass Gräben tiefer wurden, die Gesellschaft sich polarisiert. Mehr denn je müssen öffentlich-rechtliche Sender daher Brücken bauen, müssen die Vielfalt der verfügbaren Informationen, vorhandenen Meinungen, Erfahrungen und Verhaltensmuster abbilden. Dies muss einhergehen mit einer anderen Beziehung zum Publikum, mehr Nähe, mehr Abgleichen mit direkten Erfahrungen der Menschen, mehr Dialog und nicht nur in der Coronazeit zugleich der Stärkung der eigenen Recherchen vor Ort. Wir sind deshalb auch jetzt nah bei den Menschen – mit Abstand.

„Mehr denn je müssen öffentlich-rechtliche Sender Brücken bauen, müssen die Vielfalt der verfügbaren Informationen, vorhandenen Meinungen, Erfahrungen und Verhaltensmuster abbilden.“

medienpolitik.net: Mit welchen Konsequenzen ist die Pandemie für das Programm des MDR und die Programmkosten verbunden?

Wille: Die Coronapandemie hat ganz unterschiedliche Folgen für unser Programm: Wir sind zum Beispiel dem besonderen Informationsbedürfnis vieler Menschen durch zahlreiche Sonderanstrengungen im Nachrichtenbereich nachgekommen – unser Podcast mit dem Virologen Kekulé etwa verzeichnet weiterhin Rekordwerte. Wir haben parallel unsere barrierefreien Programmangebote erweitert, um alle Menschen inklusiv und umfassend mit verlässlichen Informationen zu versorgen. Auch im Kulturbereich sehen wir uns in einer besonderen Verantwortung. Als die Leipziger Buchmesse als eine der ersten Großveranstaltungen abgesagt wurde, haben wir innerhalb weniger Tage gemeinsam mit der ARD eine virtuelle Buchmesse ermöglicht – im Netz, im Radio und im Fernsehen. Als ARD stehen wir mit zahlreichen Sofortmaßnahmen verlässlich an der Seite der vielfältigen Kreativwirtschaft. Wir als MDR haben darüber hinaus zum Beispiel mit Corona Creativ und MDR Shorts mitteldeutschen Produzenten in dieser Zeit eine besondere Bühne gegeben. Und unsere Orchestermusiker und der Chor sind derzeit als besonderer „Musik-Lieferdienst“ überall in Mitteldeutschland mit beeindruckender Resonanz unterwegs. Die Krise ist somit nicht nur ein Beschleuniger für die Digitalisierung, sie befördert auch auf eine besondere Weise Kreativität. Gleichzeitig sind natürlich auch geplante Projekte weggefallen oder mussten verschoben werden – in der Fiktion haben wir zum Beispiel mit „In aller Freundschaft“ gerade wieder zu drehen begonnen.

Wir sind derzeit noch dabei, die finanziellen Folgen zu eruieren. Darunter fallen Sonderanstrengungen im Programm oder Kosten durch Drehverschiebungen, aber auch sinkende Erträge bei Beiträgen und Werbeeinnahmen. Die genaue Entwicklung lässt sich noch nicht abschließend bewerten.

medienpolitik.net: Aber es zeichnet sich doch sicher eine Tendenz der Auswirkungen des Lockdown für die Beitragseinnahmen des MDR 2020 und 2021 und für die Werbeinnahmen ab?
Wille: Derzeit ist in Bezug auf die finanzielle Lage der privaten Haushalte und Unternehmen noch nicht endgültig absehbar, welche Wirkungen die Einschränkungen und das „Hochfahren“ verursachen werden. Fest steht: Im Bereich der privaten Haushalte, deren Anteil an den Gesamt-Beitragserträgen ca. 90 Prozent beträgt, wird sich die Zahl der Befreiungen in diesem Jahr weiter erhöhen. Auch Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen des Gemeinwohls, die aufgrund einer behördlichen Anordnung wegen der Corona-Pandemie eine Betriebsstätte schließen mussten, können eine Freistellung von der Rundfunkbeitragspflicht beantragen. Voraussetzung für die Antragstellung ist, dass die Betriebsstätte mindestens drei zusammenhängende volle Kalendermonate geschlossen war. Dies ist abweichend von den gesetzlichen Regelungen – auch rückwirkend möglich. Im Übrigen besteht bei Zahlungsschwierigkeiten aufgrund der Corona-Krise zusätzlich die Möglichkeit, mit dem Beitragsservice Zahlungserleichterungen wie eine Ratenzahlung oder eine Stundung ausstehender Beiträge zu vereinbaren.

Bei den Werbeeinnahmen zeichnet sich bereits jetzt ein deutlicher Abwärtstrend ab. Bis Ende April waren im Vergleich zum selben Stichtag des Vorjahres Werbeumsatzverluste von ca. 20 Prozent zu verzeichnen. Wie stark die Fernseh- und Radiowerbung am Ende des Jahres tatsächlich betroffen sein wird, hängt auch hier von den weiteren Entwicklungen der kommenden Monate ab.

medienpolitik.net: Angenommen, der Beitrag steigt nicht ab 1. Januar 2020. Welche Konsequenzen hätte das für den MDR?
Wille: Wenn es bei 17,50 Euro bliebe, hätte das massive Folgen: Damit wären deutliche Einschnitte auch im Programm nicht zu vermeiden. Schon die von der KEF empfohlene Beitragserhöhung geht allein beim MDR mit Einsparungen im zweistelligen Millionenbereich einher – pro Jahr.  Wir stellen uns dieser Verantwortung, um weiter wirtschaftlich und sparsam mit den Beitragsgeldern umzugehen. Denn: Verlässliche Informationen, Hintergründe, Kultur, gute Unterhaltung, Wissen und Bildung stärken den Zusammenhalt und helfen, die Krise gemeinsam zu bewältigen.

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