Das Nachdenken über Werte ins Programm integrieren

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die Werte der liberalen Demokratie
15.06.2020. Von Prof. Dr. Christoph Neuberger, Freie Universität Berlin, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
Im Mittelpunkt der Diskussion über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk steht die Frage nach seinem Auftrag. Dafür stecken die Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrags einen weiten Rahmen ab, den die Anstalten autonom ausfüllen können und sollten. Das Verständnis des Auftrags, das sie dabei entwickeln, müssen sie im öffentlichen Diskurs begründen und legitimieren. Wie könnte eine überzeugende Argumentation an dieser Stelle aussehen? Wie lässt sich der Auftrag theoretisch näher bestimmen und begründen?
Eine Möglichkeit besteht darin, die weitgehend konsentierten Werte der liberalen Demokratie als Maßstab heranzuziehen. Die Kernidee der Demokratie als Herrschaft des Volkes verbindet zentral die beiden Werte Freiheit und Gleichheit. Weitere Werte lassen sich von normativen Demokratie- und Öffentlichkeitsmodellen ableiten wie Vielfalt, Machtbegrenzung, Kritik und Kontrolle, Informationsqualität, Diskursqualität, Integration und Sicherheit. (Weitere Werte könnten ergänzt werden wie Schutz vor Diskriminierung, Toleranz, Solidarität, Nachhaltigkeit und Wohlstand.)
Auch wenn es Interpretationsunterschiede für sie gibt, so besitzen diese Werte dennoch einen klaren Bedeutungskern, sodass sie sich als normative Vorgaben für Programmgestaltung und Qualitätsmessung eignen. Was ist mit diesen Werten gefordert?
- Der in der liberalen Tradition betonte Wert Freiheit kann durch Staaten, Unternehmen und andere gesellschaftliche Kräfte eingeschränkt werden. Dabei lassen sich die individuelle Kommunikations- und Rezeptionsfreiheit sowie die institutionelle Medienfreiheit unterscheiden.
- Der Wert Gleichheit, der für die demokratische bzw. republikanische Tradition zentral ist, fordert, dass alle Gruppen der Gesellschaft die gleiche Chance haben, sich am politischen Prozess und auch an Aktivitäten in anderen Teilsystemen (Inklusion) zu beteiligen.
- Anders als im Fall der Gleichheit, welche die Beteiligungschancen betrachtet, wird bei Vielfalt das Ergebnis, nämlich die inhaltliche Vielfalt des Medienangebots in den Blick genommen. Sie ist ebenfalls für die demokratische Meinungsbildung notwendig. Daran soll prinzipiell jede/r Sprecher/in teilnehmen können. Kein Thema, keine Meinung soll ausgeschlossen werden.
- Meinungsmacht ist die Fähigkeit zur absichtsvollen Beeinflussung der individuellen und öffentlichen Meinungsbildung. In der Demokratie wird eine Ungleichverteilung und Konzentration von Meinungsmacht als problematisch angesehen. Im Internet verlagert sich Meinungsmacht weg von den Medien und hin zu nicht-publizistischen Akteuren mit politischer Relevanz, darunter auch Staaten, sowie zu digitalen Intermediären wie Google und Facebook.
- Staatliche Macht und die Macht Dritter bedürfen nach dem liberalen Demokratiemodell der Kritik und Kontrolle, um sie zu begrenzen. Dafür muss Transparenz über das Handeln der Mächtigen hergestellt werden, etwa durch investigative Recherche.
- Die Informationsqualität bezieht sich in erster Linie auf die journalistische Berichterstattung und damit auf professionelle Normen wie Wahrheit, Aktualität, Unabhängigkeit, Recherche, die Trennung von Nachricht und Meinung sowie von redaktionellem Teil und Werbung.
- Die Diskursqualität lässt sich mit Hilfe deliberativer Kriterien wie Rationalität, Respekt und Kohärenz bestimmen.
- Integration betrifft die Struktur der Öffentlichkeit, nämlich den Grad ihrer Vernetzung oder Auflösung, der auf die gesamte Gesellschaft ausstrahlen kann. Hier stellen sich Fragen wie: Bleiben politisch Gleichgesinnte und an bestimmten Themen Interessierte unter sich (Echokammern)? Stehen sich Gruppen unversöhnlich gegenüber (Polarisierung)?
- Mit Sicherheit ist der Schutz von Individuen und Gesellschaft vor negativen Auswirkungen gemeint, deren Ursache außerhalb, aber auch in der öffentlichen Kommunikation liegen kann. Zudem bedarf die Kommunikation selbst des Schutzes. Mit dem Internet verbindet sich eine Reihe von Sicherheitsrisiken, z.B. Cybermobbing und die mögliche Verletzung der Privatsphäre.
„Im Internet verlagert sich Meinungsmacht von den Medien zu nicht-publizistischen Akteuren mit politischer Relevanz, darunter auch Staaten, sowie zu digitalen Intermediären wie Google und Facebook.“
Die Öffentlichkeit ist jene Sphäre, in der diese Werte verwirklicht werden sollen. Dabei sollen die Medien zugleich zu ihrer Erfüllung in der Gesamtgesellschaft beitragen – darin besteht ihre „dienende Funktion“. Von ihnen wird also ein positiver Ausstrahlungseffekt erwartet. Dabei legen sie nur begrenzt fest, was als Gemeinwohl gelten soll. In der Demokratie muss diese Frage offengehalten und immer wieder neu durch Meinungsbildung und Mehrheitsentscheid beantwortet werden. Die Werte legen vielmehr die demokratischen Spielregeln dafür fest, wie darüber öffentlich informiert und diskutiert werden soll.
„Wenn der Auftrag wertbezogen ausgefüllt wird, könnte dies zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks führen.“
Zusammen ergeben sie kein geschlossenes System. Ihr Verhältnis zueinander differiert: Teils fördern Werte die Verwirklichung anderer Werte, teils begrenzen sie einander, sodass zwischen ihnen abgewogen werden muss. Welcher Wert den Vorzug erhält, ist eine Frage des Demokratieverständnisses. In der Forschung zur Qualität der Demokratie werden solche Zielkonflikte (trade-offs) benannt. Einige Beispiele dafür:
- Vielfalt ist kein uneingeschränkt erstrebenswertes, stets zu maximierendes Ziel. Sie steht in einem Spannungsverhältnis zu anderen Zielen, etwa zur Beschränkung auf das Relevante (Informationsqualität) oder zur Diskursqualität. Die Vielfalt kann im politischen Prozess zu groß sein, sodass sie die Kapazität zur rationalen Verarbeitung beim einzelnen Rezipienten und jene zur diskursiven Bewältigung in der politischen Öffentlichkeit übersteigt.
- Ein Spannungsverhältnis besteht auch zwischen der Qualität des deliberativen Diskurses, die von Teilnehmer/innen besondere Fähigkeiten und Einstellungen erwartet (etwa zur rationalen Argumentation), sowie seiner Offenheit für alle Bürger/innen. Die partizipative Demokratie gibt hier der Gleichheit den Vorzug gegenüber der Diskursqualität, die dagegen im deliberativen Modell vorrangig ist.
- Die Freiheit steht ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zu anderen Werten, etwa zur Sicherheit, da sie unkontrollierte Räume zulässt. Zugleich trägt sie zur Verwirklichung anderer Werte bei, etwa zum Finden der Wahrheit (Informationsqualität) oder zur Verständigung im Diskurs, für den es keine Beschränkungen geben soll.
- Ein gewisses Maß an Meinungsmacht kann förderlich für die Öffentlichkeit sein. So bedarf es durchsetzungskräftiger redaktioneller Eingriffe, um im öffentlichen Diskurs Rationalität und Respekt zu sichern, wenn z.B. Regelbrecher ausgeschlossen werden.
Diese Beispiele deuten an, dass ein wertbezogener Auftrag der fortlaufenden Aushandlung, Anerkennung und Umsetzung bedarf. Hier geht es nicht um einen Rückfall in einen festen Wertekanon. Dies würde nicht zu einer offenen Gesellschaft und dem Wertepluralismus der Gegenwart passen – aber um einen Minimalkonsens für ein demokratisches, freiheitliches und friedliches Miteinander. Die „Core Values“ der EBU und die Werte der ARD sind ein Schritt in diese Richtung. Das Nachdenken über Werte ist auch ins Programm zu integrieren. So waren ARD-Themenwochen einzelnen Werten wie Toleranz und Gerechtigkeit gewidmet. Dadurch können Gemeinsinn und bürgerschaftliches Engagement gefördert werden. Wenn der Auftrag wertbezogen ausgefüllt wird, könnte dies zu einer differenzierteren Auseinandersetzung mit der Qualität des öffentlich-rechtlichen Rundfunks führen.
Weiterführende Literatur:
Neuberger, Christoph (2020): Funktionale und defekte Öffentlichkeit in der Demokratie – Analyse und Anwendung am Beispiel der Schweiz. Wissenschaftliche Studie im Auftrag des Bundesamtes für Kommunikation BAKOM, Abteilung Medien. https://www.bakom.admin.ch/dam/bakom/de/dokumente/bakom/elektronische_medien/Zahlen%20und%20Fakten/Studien/analyse-und-anwendung-am-beispiel-der-schweiz.pdf.download.pdf/2020_Gut_BAKOM_Funktionale_und_defekte_%C3%96ffentlichkeit_Neuberger.pdf
Zur Person:
Christoph Neuberger ist Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Geschäftsführender Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft, Berlin. Er ist ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).