Desinformation ist kein Kavaliersdelikt

von am 14.10.2020 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Gesellschaftspolitik, Internet, Kommunikationswissenschaft, Medienordnung, Medienpolitik, Medienrecht, Medienregulierung, Medienwissenschaft

Desinformation ist kein Kavaliersdelikt

Medienanstalten veröffentlichen Gutachten zur Desinformation

14.10.2020. Während der Corona-Krise hat sich das Phänomen der Desinformation im Internet spürbar verstärkt. Die Sorge darüber geht von der Irreführung in Gesundheitsthemen bis zur Frage, ob die Legitimität von Wahlen durch Desinformation in Frage gestellt werden könnte. Doch wie lassen sich einzelne Phänomene der Desinformation kategorisieren und wie begegnet man falschen und bewusst irreführenden Informationen im Netz? Die Medienanstalten stellen in ihrem jetzt veröffentlichten Gutachten „Typen von Desinformation und Misinformation“ eine kommunikationswissenschaftliche Systematisierung der Begrifflichkeiten sowie konkrete rechtswissenschaftliche Handlungsempfehlungen vor. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung darf als Kernelement der Demokratie auch beim Kampf gegen Desinformation nicht eingeschränkt werden. Das Thema verlangt jetzt wie kein zweites einen öffentlichen Diskurs zur Stärkung der kommunikativen Basis unserer demokratischen Gesellschaft,“ resümiert Professor Dr. Werner Schwaderlapp, Vorsitzender der Gremienvorsitzendenkonferenz (GVK) der Medienanstalten den Beschluss der GVK-Versammlung zum Thema Desinformation.

Das Gutachten entwickelt eine Matrix zur Abbildung der sieben dominierenden Ausprägungen von Desinformation und deren Risiken für Gesellschaft und Demokratie. Damit Plattformen und Intermediäre im Kampf gegen Desinformation die Vielfalt der Meinung berücksichtigen und damit das gesellschaftliche Meinungsspektrum abgebildet wird, empfehlen die Gutachter die Schaffung klarer gesetzlicher Rahmenbindungen und Voraussetzungen zum Einsatz präventiver oder repressiver Instrumente. Mit dem Medienstaatsvertrag haben die Länder bereits wichtige Regelungen in diesem Feld geschaffen wie etwa zur Transparenz über die Funktionsweise von Algorithmen bei Medienintermediären oder zur Einhaltung von Sorgfaltspflichten auch bei geschäftsmäßig angebotenen Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Informationsangeboten.

„Geltendes Recht muss konsequent durchgesetzt werden. Gleichzeitig gilt es jetzt, gemeinsam Lösungen zu finden, wie Regulierungslücken geschlossen und damit ein effektives Vorgehen gegen Desinformation im Internet auf nationaler und auf europäischer Ebene sichergestellt  werden können, ohne die Meinungsfreiheit einzuschränken“, ergänzt Dr. Wolfgang Kreißig, Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Medienanstalten und verweist auf die von der EU-Kommission lancierten Initiativen des European Digital Services Act und des European Democracy Action Plans. Mit der Vorlage des Gutachtens durch die Medienanstalten solle ein Impuls zu einer lösungsorientierten Debatte zum Thema Desinformation geleistet werden.

Zusammenfassung des rechtswissenschaftlichen Teils:

Jede rechtliche Reaktion auf Desinformation stellt auch eine (potenzielle) Beschränkung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung und Meinungsverbreitung dar. Auch wenn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unzweifelhaft erwiesen oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen bereits nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind, gilt eine Vermutung zugunsten des Schutzes von Tatsachenbehauptungen. Die Anwendung von Instrumenten gegen Desinformation darf weder staatlichen noch privaten Institutionen die Macht darüber erteilen, den Meinungsbildungsprozess in ihrem Sinne zu steuern. Zugleich begründet die objektivrechtliche Dimension der Kommunikationsgrundrechte aber auch die Pflicht des Staates, den Meinungsbildungsprozess vor (zu viel und gefährlicher) Desinformation zu schützen. Die deutsche Rechtsordnung reagiert mit einer Reihe von präventiv und repressiv wirkenden Instrumentengruppen auf Phänomene von Desinformation: Präventive Instrumente bewirken die Entfernung einer Äußerung, bewirken die Korrektur einer Äußerung oder statuieren Transparenzpflichten für bestimmte Äußerungen. Gerade Transparenzregelungen werden sich gegenüber eingriffsintensiveren Maßnahmen oftmals als verhältnismäßiges Mittel der Wahl im Umgang mit Desinformation erweisen, da sie die Bürger bei ihrer individuellen Meinungsbildung unterstützen, ohne Äußerungen zu verändern oder gar zu unterdrücken. Repressive Instrumente bewirken die Ahndung einer Äußerung als Straftat oder Ordnungswidrigkeit und bestimmen eine Äußerung als Grund für das Leisten von Schadenersatz. Daneben haben sowohl private Unternehmen – allen voran die Betreiber von Intermediären – als auch andere Rechtsgemeinschaften weitere Instrumente entwickelt, zu denen beispielsweise die Reduzierung der Sichtbarkeit von Inhalten sowie der Einsatz von sogenannten Faktencheckern zählen.

„Die Anwendung von Instrumenten gegen Desinformation darf weder staatlichen noch privaten Institutionen die Macht darüber erteilen, den Meinungsbildungsprozess in ihrem Sinne zu steuern.“

Zur Beaufsichtigung der Einhaltung von Regeln gegen Desinformation sind grundsätzlich die staatsfern ausgestalteten Medienanstalten berufen, sofern nicht im Bereich der journalistisch-redaktionell gestalteten Telemedienangebote gemäß der neuen Aufsichtsarchitektur des Medienstaatsvertrags eine Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle vorrangig zuständig ist. Allerdings erweist sich die neue Aufsichtsarchitektur als unzureichend, besonders da weder für die Medienanstalten noch für Rezipienten ersichtlich ist, welcher Aufsichtsinstanz ein Angebot unterliegt. Hier besteht Bedarf zur Nachjustierung der Regelungen durch den Gesetzgeber.

Der Medienstaatsvertrag (MStV) lässt das Recht der Medienintermediäre zur Aufstellung eigener Zugangs- und Ordnungskriterien weitgehend unberührt. Daher können diese Intermediäre auch desinformative Inhalte nach eigenen Vorstellungen sanktionieren, sofern hierin kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des § 94 MStV zu sehen ist. Gesteht man damit den Medienintermediären grundsätzlich zu, dass sie in Ausübung ihrer Grundrechtspositionen und eines daraus resultierenden „virtuellen Hausrechts“ gegen (auch rechtmäßige) Desinformation vorgehen dürfen, so sollten ihre Einzelfallentscheidungen aber wenigstens gesetzlich umhegt werden, um ihr Potenzial zur Beeinflussung des Meinungsbildungsprozesses zu bändigen: Dazu sollten den Netzwerkbetreibern strukturelle und prozedurale Vorgaben für die Ausübung von Sanktionen gegen Desinformation auferlegt werden. Auf (relativ) konkrete inhaltliche Vorgaben sollte aber weitgehend verzichtet werden, um das privatrechtliche Sanktionsregime nicht wiederum staatlicherseits vorzuprägen. Die kommunikationswissenschaftliche Unterteilung von Desinformation in sieben Typen kann für die Auslegung gesetzlicher Vorschriften zur Einhaltung journalistischer Sorgfaltspflichten fruchtbar gemacht werden: Ungenaue Berichterstattung stellt in der Regel noch keinen Verstoß dar, während ab einer Verbreitung unabsichtlich irreführender Inhalte ein Verstoß indiziert ist. Im Falle absichtlicher Falschinformation dürften die Beurteilungsspielräume der Aufsichtsinstanzen regelmäßig auf Null reduziert sein.

Aus der rechtlichen Betrachtung der einzelnen Typen von Desinformation ergeben sich im Einzelnen folgende Handlungsempfehlungen an den Gesetzgeber:

  • Die Transparenz der Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle im Sinne des § 19 Abs. 3 S. 1 MStV ist durch gesetzliche Pflichten zu erhöhen. Die Selbstkontrolleinrichtungen müssen die ihrer Kontrolle unterliegenden Anbieter in geeigneter Weise offenlegen. Zugleich sind die Anbieter journalistisch-redaktionell gestalteter Telemedienangebote im Sinne des § 19 Abs. 1 MStV zu verpflichten, die für sie zuständige Aufsichtsinstanz im Impressum zu benennen.
  • Durch eine Ergänzung der Anerkennungsanforderungen in § 19 Abs. 4 MStV sollte den Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle aufgegeben werden, ihre Mitglieder zur Veröffentlichung von Rügen nach dem Vorbild der Selbstkontrolle des Deutschen Presserates zu verpflichten.
  • Der Einsatz präventiver oder repressiver Instrumente durch Intermediäre mit herausgehobener Bedeutung sollte gesetzlich näher geregelt werden. Der Gesetzgeber sollte den Intermediären strukturelle und prozedurale Vorgaben für die Entscheidung im Einzelfall aufgeben. Die Medienanstalten sollten mit der Überwachung der Einhaltung dieser Regeln beauftragt werden.
  • Der Gesetzgeber sollte Kennzeichnungspflichten für entgeltliche politische Werbung in Sozialen Netzwerken einführen; die Kennzeichnung soll auch erhalten bleiben, wenn der Inhalt von Nutzern geteilt wird. Im Falle von Microtargeting könnte der Gesetzgeber zusätzlich vorschreiben, dass den Nutzern Umstand und Grund für die Adressierung der Werbung anzuzeigen sind.
  • Politischen Parteien sollte der Einsatz von Social Bots untersagt werden. Soziale Netzwerke sollten durch eine Ergänzung des § 93 Abs. 4 MStV zur Überwachung dieser Maßgabe verpflichtet werden.
  • Der Gesetzgeber sollte die Betreiber von Medienintermediären gesetzlich verpflichten, einenInhalt binnen 24 Stunden nach Erhalt einer Beschwerde zu löschen oder zu sperren, welcher die Rechte journalistisch-redaktionell gestalteter Angebote in offensichtlicher Weise verletzt und dadurch geeignet ist, die Nutzer über die tatsächliche Herkunft des Inhalts in die Irre zu führen.
  • Um sämtliche (pseudo-)journalistische Formate erfassen zu können, sollte in § 19 Abs. 1 S. 2 MStV auf die Voraussetzung einer geschäftsmäßigen Erbringung verzichtet werden. Stattdessen sollte die Vorschrift für alle auf Dauer angelegten Angebote gelten.
  • Nach dem Vorbild des § 53 Abs. 3 MStV sollte inländischen wie ausländischen staatlichen Stellen auch das Anbieten journalistisch-redaktioneller Telemedien untersagt werden. Für inländische staatliche Stellen sollte ergänzt werden, dass solche Telemedienangebote zulässig sind, die der Information der Öffentlichkeit über relevante Vorgänge aus dem Aufgabenbereich einer staatlichen Stelle dienen.
  • Der Gesetzgeber sollte die Impressumspflichten für Rundfunkveranstalter, Presseverleger undAnbieter journalistisch-redaktionell gestalteter Telemedien erweitern. Die Anbieter sollten darin ihren wirtschaftlichen Eigentümer und ggf. weitere Anteilseigner mit besonderem Einflusspotenzial hinsichtlich der Angebotsgestaltung offenlegen.
  • Inländischen wie ausländischen staatlichen Stellen sollte der Einsatz von Social Bots untersagt werden. Soziale Netzwerke sollten durch eine Ergänzung des § 93 Abs. 4 MStV zur Überwachung dieser Maßgabe verpflichtet werden.
  • Allgemeine Faktencheck-Institutionen wie die EU East StratCom Task Force sollten staatsfernausgestaltet werden.

Das Gutachten wurde erstellt von Dr. Judith Möller, Assistant Professor Faculty of Social and Behavioural Sciences, Universität Amsterdam, Dr. Frederik Ferreau, Institut für Medienrecht und Kommunikationsrecht, Universität Köln, und Dr. Michael Hameleers, Researcher Faculty of Social and Behavioural Sciences, Universität Amsterdam. Im Rahmen der Medientage München wird das Gutachten am 26.10.2020 in einer Panel-Diskussion öffentlich diskutiert.

https://www.die-medienanstalten.de/fileadmin/user_upload/die_medienanstalten/Publikationen/Weitere_Veroeffentlichungen/GVK_Gutachten_final_WEB_bf.pdf

Print article