„Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen näher ans Publikum rücken“

Deutschlandradio will unterschiedlichen Meinungen und Positionen mehr Platz geben
05.10.2020. Interview mit Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios
Deutschlandradio lässt die Hörerinnen und Nutzer von Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova entscheiden, welches Thema der nationale Hörfunk in seiner „Denkfabrik“ im kommenden Jahr ganz besonders in den Blick nehmen soll. Fünf Themen stehen zur Auswahl. Im Rahmen der „Denkfabrik“ werden seit vergangenem Jahr die großen Fragen der Zeit diskutiert – in freier und fairer Debatte, in innovativen Formaten und mit besonderen Kooperationspartnern. Den Auftakt machte die „Denkfabrik“ im vergangenen Jahr 2019 mit den Schwerpunktthemen: „Sind wir in guter Verfassung?“ (70 Jahre Grundgesetz) und „#ÜberMorgen“ (Klimawandel und Nachhaltigkeit). Im aktuellen Jahr diskutiert die „Denkfabrik“ das Thema „Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert euch!“. An der Auswahl dieses Themas hatten sich vor einem Jahr etwa 17.000 Interessierte beteiligt. „Unser Auftrag ist es“, so Deutschland-Radio-Intendant Stefan Raue gegenüber medienpolitik.net, „vielfältige Meinungen darzustellen – mehrheitsfähige und andere, so dass die Bürgerinnen und Bürger sich ihre eigene Meinung bilden können.“
medienpolitik.net: Herr Raue, Deutschlandradio lässt Hörerinnen und Nutzer über „Denkfabrik-Thema 2021“ abstimmen. Was ist die Deutschlandradio-Denkfabrik?
Raue: In der „Denkfabrik“ wollen wir den großen Themen der Zeit Raum geben, wollen sie in freier und fairer Debatte diskutieren, insbesondere im Austausch mit unseren Hörerinnen und Nutzern. Und, ganz wichtig: auf Augenhöhe. Nicht die Welt ex cathedra erklären, sondern in durchaus kontroverser, aber immer respektvoller Auseinandersetzung die Fragen behandeln, die die Gesellschaft derzeit beschäftigen und die unsere Zukunft prägen werden. Denn genau das ist der Auftrag, den der Gesetzgeber uns ins Stammbuch geschrieben hat: Deutschlandradio soll eine freie, individuelle und öffentliche Meinungsbildung fördern und zur gesamtgesellschaftlichen Integration beitragen. In Zeiten zunehmend fragmentierter Öffentlichkeiten erscheint das wichtiger denn je. Wir wollen mit der Denkfabrik auch innovative Wege aufzeigen, wie wir an Themen herangehen – und wir wollen uns die besten Kooperationspartner an die Seite holen. In diesem Jahr, in dem das Thema „Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert Euch!“ im Mittelpunkt der Denkfabrik steht, haben wir uns beispielsweise mit dem Botanischen Garten, der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Jungen Akademie zusammengetan, um „Natur. Nach Humboldt“ zu diskutieren: Im Februar konnte man so im Großen Tropenhaus des Botanischen Gartens in einer Klanginstallation wandeln, die Töne und die indigenen und lateinischen Namen der Pflanzen zusammenwob. Das war großartig!
medienpolitik.net: Was hat Sie auf diese Idee gebracht?
Raue: Schon vor meiner Zeit als Intendant von Deutschlandradio habe ich den Sender so wahrgenommen, dass er einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert für die Diskussion über das gesamte öffentlich-rechtliche System erbringt. Der nationale Hörfunk erschien mir als der richtige Ort, um jenseits der Akademien und Exzellenzinstitute Themen zu diskutieren, die die Menschen intensiv beschäftigen, weil es um grundlegende Fragen geht. So habe ich es dem Hörfunkrat bei meiner Bewerbung geschildert. Und aus diesen Gedanken ist dann die „Denkfabrik“ entstanden.
medienpolitik.net: Im Rahmen der Denkfabrik werden seit vergangenem Jahr große Fragen der Zeit diskutiert. 17.000 Hörer hatten sich bei der Auswahl des Themas 2020 beteiligt. Gabe es auch Begründungen für eine solche Beteiligung?
Raue: Zunächst einmal muss ich unseren Hörerinnen und Nutzern zu ihrer Weitsicht oder ihrem Instinkt gratulieren. Sie haben mit „Eine Welt 2.0 – Dekolonisiert Euch!“ ein Thema gewählt, das manche zunächst kurios fanden, dann aber mit der Diskussion um Achille Mbembe und der Black Lives Matter-Bewegung, wie auch mit der Diskussion um das Humboldt Forum und um die Umbenennung von Straßen, feststellen mussten, wie aktuell das Thema ist. Mich hat auch beeindruckt, in welcher Tiefe sich unser Publikum mit den vorgeschlagenen Themen auseinandergesetzt hat. Das gab es oft nicht nur ein Kreuz beim ausgewählten Thema, da gab es ergänzend seitenfüllende Hinweise und Bemerkungen. Die wir als Anregung an die Redaktionen weitergeleitet haben. Übrigens auch zu den drei Themen, die es dann nicht wurden.
„Unsere staatsvertragliche Aufgabe ist es, die Meinungsbildung zu fördern, individuell und kollektiv.“
medienpolitik.net: Worauf führen Sie das große Interesse zurück?
Raue: Im ersten Jahr haben uns 1200 Hörerinnen und Nutzer auf unsere Frage geantwortet, im zweiten Jahr der Denkfabrik waren es fast 17.000. Das hat mich sehr beeindruckt. Und gefreut. Dass so viele Menschen sich beteiligt haben, dass sie Deutschlandradio mit seinen Programmen offensichtlich für einen Ort halten, mit dem in Kontakt zu treten es sich lohnt. Und dass sie offensichtlich überzeugt sind, dass wir Orte schaffen können, um über dieses Thema zu debattieren. Das ist schon ein großes Kompliment, aber zugleich auch eine ziemliche Herausforderung, weil wir diese Erwartungen auch erfüllen müssen und wollen. Wir wissen – nicht erst seit dem Urteil des BVerfG im Jahr 2018 -, dass wir näher an unsere Hörerinnen und Nutzer heranrücken, mehr mit ihnen in den direkten Austausch treten müssen. Die Denkfabrik zeigt, dass das nicht nur theoretischen Überlegungen sind. Ganz offensichtlich besteht dieses Bedürfnis auch bei unseren Hörerinnen und Nutzern. Eins möchte ich allerdings unterstreichen: Was unsere Hörerinnen beschäftigt, ist uns wichtig, es beeinflusst die Programmgestaltung. Das heißt aber nicht, dass wir die Programmentscheidung abgeben, auch in der Denkfabrik nicht. Am Ende, bevor das Thema festgelegt wird, steht immer eine publizistische Entscheidung des Hauses.
medienpolitik.net: Sie geben fünf Themen vor. Können die Hörer auch Vorschläge machen?
Raue: Im ersten Jahr haben wir einfach gefragt, welche Themen wir nach Ansicht unserer Hörerinnen und Nutzer mehr bearbeiten sollten oder noch nicht ausreichend auf dem Schirm haben. Diese Themen haben wir anschließend in einem aufwändigen Verfahren sortiert, und am Ende für 2019 zwei Themen identifiziert: #ÜberMorgen. Klimawandel. Nachhaltigkeit. Und: Sind wir in guter Verfassung? 70 Jahre Grundgesetz. In der Evaluierung des guten ersten Jahres der Denkfabrik haben wir festgestellt, dass es einfacher ist, sich auf ein einziges Thema zu konzentrieren. Und wir haben uns stärker auf die Fachexpertise im Haus gestützt, denn die einzelnen Redaktionen und die Intendanz erhalten über das ganze Jahr hinweg Anregungen von Hörerinnen und Hörern. Sie sind in die Überlegungen mit eingeflossen. Wir haben dann für die Denkfabrik 2020 in einem internen Prozess vier Themen identifiziert, die wir dem Publikum zur Auswahl gestellt haben. So sind wir auch diesmal, bei der Themenfindung für 2021, vorgegangen.
„Ich plädiere sehr dafür, dass wir den Versuch unternehmen, den Meinungen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, ohne gleich den Stab über sie zu brechen.“
medienpolitik.net: Welchen Raum nimmt das ausgewählte Thema in den Programmen ein?
Raue: Alle Redaktionen können Vorschläge machen, keine muss mitmachen. Das ist wichtig für die Akzeptanz des Projektes im Haus. Und selbstverständlich. Viele sind inzwischen dabei, prüfen das Thema auf Relevanz für ihren Bereich. Da gibt es dann beispielsweise „Wurfsendungen“ (das kürzeste Hörspielformat der Welt), eine Sendereihe der Sportredaktion, neue Formate werden entwickelt: 2019, als wir uns mit dem Thema „Klimawandel“ beschäftigt haben, hat die Redaktion „Umwelt und Verbraucher“ des Deutschlandfunks Hörerinnen und Hörer zu Wanderungen in Regionen eingeladen, die vom Klimawandel gekennzeichnet sind, begleitet von Experten. Aber auch die anderen Gewerke des Hauses sind dabei. So hat die Abteilung Kommunikation und Marketing damals die Pappbecher aus der Kantine verbannt, das war ehrlich gesagt längst überfällig. In diesem Jahr wollten wir bewusst den Schwerpunkt auf Veranstaltungen mit dem Publikum legen, wollten etwa in Hannover mit der Volkswagenstiftung und in Leipzig mit dem Zeitgenössischen Forum Diskussionen durchführen. Dann kam Corona, und wir mussten vor allem auf die seit Jahrzehnten etablierten Call-In-Sendungen und digitale Formate ausweichen. Das wird hoffentlich kommendes Jahr wieder anders.
medienpolitik.net: „Denkfabrik“ hat sicher auch mit Nachdenken zu tun, mit unfertigen Überlegungen. Müssen die öffentlich-rechtlichen Medien stärker zu Denkfabriken werden, um gesellschaftlich relevant zu bleiben?
Raue: Sie müssen jedenfalls transparenter machen, wie sie arbeiten, erklären, weshalb bestimmte Themen gewählt werden, wie sie bearbeitet werden und warum sie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Gesellschaft leisten. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen auch in der digitalen Welt ihren Auftrag erfüllen. Und dabei näher ans Publikum rücken.
medienpolitik.net: Eines der für 2021 vorgeschlagenen Themen lautet: „Eine gerechte Welt, oder alles Klasse?“ Wie kontrovers werden, die ausgewählten Themen behandelt? Inwieweit kommen auch Meinungen, die nicht mehrheitsfähig sind, zur Geltung?
Raue: Wir bemühen uns, das für die Denkfabrik ausgewählte Thema aus unterschiedlicher Sicht zu betrachten. Gerade in diesem Jahr war es angesichts des Themas „Dekolonisiert Euch!“ natürlich ganz wichtig, Perspektivwechsel vorzunehmen und nicht in der europäischen Perspektive zu verharren. Postkoloniale Denkerinnen kamen mit unterschiedlichsten Perspektiven zu Wort. So kritisierte die indische Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan Europas Selbstverständnis als „zivilisierende Kraft“, die Philosophin Nadia Yala Kisukidi zeichnete die Spuren nach, die der Kolonialismus in unserem Denken hinterlassen hat. Für die Denkfabrik gilt, was für unser Programm grundsätzlich gilt: Unser Auftrag ist es, vielfältige Meinungen darzustellen – mehrheitsfähige und andere, so dass die Bürgerinnen und Bürger sich ihre eigene Meinung bilden können.
medienpolitik.net: Bei kontroversen Themen und Debatten, ich denke zum Beispiel an einen Kommentar zur Aufnahme aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria, gibt es meist eine Welle von Meinungen über soziale Netzwerke. Wie stark beeinflussen Sie solche Kommentare bei der Programmgestaltung?
Raue: Unsere staatsvertragliche Aufgabe ist es, die Meinungsbildung zu fördern, individuell und kollektiv. Dafür bilden wir vielerlei Meinungen ab. Die eine Grenze haben: das Grundgesetz. Auf dessen Boden müssen sie stehen, dann darf der/die einzelne sie mitunter für schwer erträglich halten und darf sie kritisieren, in den sozialen Medien, bei unserem Hörerservice. Und das müssen wiederum wir aushalten. Ich plädiere sehr dafür, dass wir den Versuch unternehmen, den Meinungen auf den Grund zu gehen und sie zu verstehen, ohne gleich den Stab über sie zu brechen.
„Unser Auftrag ist es, vielfältige Meinungen darzustellen – mehrheitsfähige und andere, so dass die Bürgerinnen und Bürger sich ihre eigene Meinung bilden können.“
medienpolitik.net: Existieren bei Deutschlandradio weitere Formate, bei denen die Hörer unmittelbar mitwirken können?
Raue: Call-In-Sendungen gehören nicht nur bei uns seit Jahrzehnten zum festen Repertoire. Die Spannbreite der Sendungen reicht von Verbraucher- über Gesundheitsthemen, bis hin zur Diskussion über Tagespolitik. Dinosaurier der Radiogeschichte könnte man sagen, aber trotz aller technologischen Entwicklungen quicklebendig. Da stehen die Telefone nicht still. Durch Social Media ist der Austausch noch direkter geworden. Aber auch unsere Podcasts bieten eine gute Gelegenheit, mit Hörerinnen und Hörern ins Gespräch zu kommen, durch die persönlichere Ansprechhaltung der Podcasts auf eine weniger formalisierte Weise – zum Beispiel in unserem neuen Podcast „Nach Redaktionsschluss“ aus der @mediasres-Redaktion. Die Redaktion lädt Hörerinnen und Hörer ein, die sich bei ihr gemeldet haben und redet mit ihnen über ihre Kritik, ihre Fragen, ihren Ärger, ihre Anmerkungen zum Thema Journalismus. In gekürzter Form gibt es die Sendung dann freitags auch im Radio.
medienpolitik.net: Auch andere öffentlich-rechtliche Sender beziehen Hörer oder Zuschauer stärker bei der Ideenfindung für Programme ein. Ist das eine Reaktion auf die aktuelle Debatte über Akzeptanz und Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?
Raue: Da müssen sie dort nachfragen. Aber ich weiß aus vielen Diskussionen mit Intendanten und Mitarbeitern anderer Sender, dass die Debatte um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks uns natürlich alle beschäftigt. Für Deutschlandradio gilt: Es muss uns gelingen, den gesamtgesellschaftlichen „Integrationsauftrag“, der übrigens explizit in unserem Staatsvertrag genannt ist, zu aktualisieren, d.h. die Frage zu beantworten, wie wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land stärken können. Das soll im nationalen Hörfunk geschehen durch mehr Dialog mit dem Publikum, durch ein Mehr an Vernetzung und Partizipation.
medienpolitik.net: Bei der zweiten Media Analyse des Jahres 2020 (ma 2020 Audio II) haben alle drei Programme von Deutschlandradio neue Rekordwerte erreicht. Sie unterscheiden sich mit Ihren Angeboten vom üblichen Formatradio. Erreichen Sie mehr Hörer trotz oder wegen der Unterschiede?
Raue: Erstens: Wir haben uns sehr über die guten Werte gefreut. Und sind zweitens ein bisschen stolz darauf, dass die letzte Media Analyse uns bescheinigt, bei den Jüngeren, bei den Frauen und bei den formal weniger hoch Gebildeten hinzugewonnen zu haben. Weil das bedeutet, dass wir unsere Basis verbreitern. Und wir müssen natürlich ein besonderes Auge auf denjenigen haben, die uns nonlinear nutzen. Übrigens auch Ältere. Dafür müssen wir immer wieder Neues ausprobieren – Drittplattformen, neue Formate wie Daily Drive auf Spotify -, müssen auch auf Social Media unterwegs sein und auf Instagram. Mit dem gleichen Markenkern und mit dem gleichen Qualitätsanspruch wie On Air.