Muss guter Journalismus am Spielfeldrand bleiben?

von am 08.10.2020 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Gesellschaftspolitik, Journalismus, Medienrecht, Medienwissenschaft

Muss guter Journalismus am Spielfeldrand bleiben?
Dr. Ortlieb Fliedner, Rechtsanwalt

Zur Kritik an der Kooperation des „Stern“ mit Fridays for Future

08.10.2020. Von Dr. Ortlieb Fliedner, Rechtsanwalt

In ihrer Ausgabe vom 1. Oktober 2020 stellt die ZEIT (41/2020) eine gewichtige Frage: Ist das noch Journalismus? Anlass für diese Frage ist eine als „Tabubruch“ kritisierte Ausgabe des „Stern“ (Nr. 40, 24.9.2020). Für diese Ausgabe war der Stern eine Kooperation mit Fridays for Future eingegangen. Junge Klimaaktivisten waren an der Themenauswahl und der Recherche des Hefts beteiligt worden. In einem Interview mit dem Co-Chefredakteur und der Chefredakteurin des Digitalangebots des „Stern“ wird diese Frage durchdekliniert. „Zeit“: „Es ist das erste Mal in 72 Jahren ‚Stern‘, dass Außenstehende erklärtermaßen Einfluss auf die Entstehung des Hefts nehmen konnten. Die Bewegung, über die Sie darin auch berichten, hat mitgearbeitet: Die Aktivisten erzählen, sie hätten bei der Auswahl von Themen und Gesprächspartnern geholfen, sie hätten teilweise die Texte vor Andruck noch einmal lesen können. Ist das unabhängiger Journalismus?“

Man hört beim Lesen dieser Frage geradezu den schreienden Vorwurf: Da hat sich der Stern mit den Aktivisten von Fridays for Future gemein gemacht. Und das, so haben Journalistinnen und Journalisten in der Ausbildung an der Uni, der Journalistenschule oder im Volontariat gelernt, gehört sich nicht.

Sich nicht gemein machen – das Mantra vieler Journalisten

Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache, dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört. So steht es auf der Umschlag-Rückseite der Autobiografie ‚Journalistenleben‘ des Hanns Joachim Friedrich. Der erste Teil des Satzes ist auch das Motto des nach Friedrich benannten Preises für guten Journalismus, der alljährlich verliehen wird. Für viele Journalistinnen und Journalisten ist dieser Satz zum Mantra ihres Berufs geworden. Dieses Mantra zieht sich wie ein roter Faden durch die Fragen der Interviewer.

Als Sternredakteur Gless zaghaft fragt, ob es bei den vielen Krisen in der Welt ausreiche, nur vom Spielfeldrand zu reportieren und man darüber sprechen müsse, ob die Journalisten nicht auch aufs Spielfeld gehen müssten, fragt die „Zeit“: „Es gibt eine Vertrauenskrise der Medien, auch weil ihnen ein Teil der Bevölkerung vorwirft, parteiisch und voreingenommen zu sein. Spricht das nicht dagegen?“

Die Wirklichkeit des Journalismus

Wer aufs Spielfeld geht, sich engagiert und nicht am Rand bleibt, d.h. sich mit einer Sache ‚gemein‘ macht, ist demnach parteiisch und voreingenommen? Ist das nun Naivität – eine der Interviewer ist eine noch junge Journalistin – oder bewusste Vorspiegelung eines Journalismus, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt?Es gibt überzeugende Studien, die sehr deutlich machen, wie gerade in den maßgeblichen Medien der Mainstream vorherrscht und offen oder verdeckt Partei genommen wird.

Man lese nur die beiden viel diskutierten Studien des Kommunikationswissenschaftlers Uwe Krüger „Meinungsmacht“ (2013) und „Mainstream“ (2016). Dort wird beschrieben, wie eng Spitzenjournalisten mit den politischen und gesellschaftlichen Eliten verbunden sind und sich diese Verbundenheit in der Berichterstattung wiederspiegelt. Es finde ein Tauschgeschäft statt: Information gegen Publizität. Der Journalist bekomme Information und verschaffe im Gegenzug seiner Quelle oder deren Anliegen Öffentlichkeit. Eine solche Nähe untergrabe aber die demokratische Funktion der Medien. Als Beispiel seien Beiträge der Wirtschaftsredaktionen genannt, die sich ganz überwiegend an den Interessen der Wirtschaft und der Arbeitgeber orientieren.

„Auf Grund dieses Tendenzschutzes ist eine einseitige Berichterstattung in der Presse verfassungsrechtlich zulässig.“

Für die parteiische Berichterstattung durch den Mainstream-Journalismus möge der Hinweis auf die nachgewiesene Einseitigkeit der Darstellung der Krise in der Ukraine genügen. Beispiele für die Voreingenommenheit bei der Beurteilung von Politikern sind die monatelange Jagd aller maßgeblichen Presseerzeugnisse auf den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff oder das Hochschreiben und Fallenlassen des SPD-Kanzlerkandidaten Steinbrück. Manchmal wird hinterher Reue gezeigt und werden Krokodilstränen vergossen. Geändert wird dieses Verhalten jedoch nicht.

Der Tendenzschutz lässt parteiische Berichterstattung ausdrücklich zu

Wie sehr das Mantra des neutralen Journalismus an der Wirklichkeit vorbeigeht, zeigt ein Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der Presse: Zur Pressefreiheit gehört auch der Tendenzschutz. Das bedeutet, dass der Verleger für seine Zeitung oder Zeitschrift eine publizistische Tendenz festlegen und diese gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, also den Journalistinnen und Journalisten, auch durchsetzen kann. Dieser Tendenzschutz wird unmittelbar aus Art. 5 GG hergeleitet und ist in einfachen Gesetzen wie dem Betriebsverfassungsgesetz konkretisiert. So kann ein Presseunternehmen seine redaktionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter z.B. nach Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften oder politischen Präferenzen auswählen und ihnen nach Wegfall solcher Voraussetzungen sogar kündigen.

Auf Grund des Tendenzschutzes können Verleger oder Herausgeber also durchaus darauf hinwirken, dass eine bestimmte Sichtweise in den journalistischen Beiträgen zum Ausdruck kommt. Journalisten, die sich nicht dem Risiko der Kündigung aussetzen wollen, müssen dementsprechend im Sinne der Tendenz des Verlegers parteiisch und voreingenommen sein. Redaktionsstatute, die den Journalisten eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit ermöglichen würden, haben sich in den Presseunternehmen nicht durchsetzen können.

Auf Grund dieses Tendenzschutzes ist eine einseitige Berichterstattung in der Presse verfassungsrechtlich zulässig. Beispielsweise sind sogar Presseorgane geschützt, die im Rahmen der Meinungsfreiheit rechtsextremes Gedankengut verbreiten und demokratieschädliches Verhalten fördern. Sowohl auf Grund der rechtlichen Rahmenbedingungen wie auch dem tatsächlichen Erscheinungsbild kann im Pressebereich kaum von einem neutralen und unabhängigen Journalismus gesprochen werden.

Der Vertrauensverlust hat andere Ursachen

Die Ursachen für den Vertrauensverlust können daher nicht darin gesehen werden, dass ein Magazin für eine Ausgabe eine Kooperation mit Aktivisten einer Bewegung eingeht, wie dies offensichtlich die „Zeit“ sieht. Vielmehr dürfte ein Grund darin liegen, dass die Einflüsse, denen Journalisten unterliegen und die in ihren Beiträgen ihren Niederschlag finden, intransparent sind. Misstrauen erzeugt ebenfalls die Tatsache, dass bestimmte Themen vom Mainstream-Journalismus so homogen behandelt werden, dass vorhandene Gegenpositionen oder Alternativen nicht mehr wahrgenommen werden können. Eine weitere mögliche Ursache des Vertrauensverlustes besteht darin, dass in den letzten Jahren im Pressewesen eine starke Konzentration erfolgt ist. In vielen Gegenden hat die örtliche Zeitung ein Monopol und auch bei der überregionalen Presse sind die Konzentrationstendenzen deutlich erkennbar. Die mehrfache Schließung oder Zusammenlegung von Redaktion sowie ihre Ausdünnung kommen hinzu. Sie fördern nicht nur den Mainstream-Journalismus, da eine eigene Recherche zeitlich kaum noch möglich ist. Sie bewirken auch, dass immer mehr Beiträge gar nicht mehr selbst geschrieben werden, sondern aus dem PR-Bereich und den Lobby-Organisationen direkt übernommen werden.

Auch in der Presse sollte die Vielfalt der Meinungen abgebildet werden

Die durch die Verlagerung von Kommunikation und Werbung ins Internet schwieriger gewordene Situation der gedruckten Presse lässt sich wohl kaum noch zurückdrehen. Verloren gegangenes Vertrauen kann aber nicht dadurch zurückgewonnen werden, dass man sich auf die Schimäre eines neutralen und unabhängigen Journalismus beruft. Vertrauen könnte vielleicht dadurch wieder zurückgewonnen werden, dass in den Medien alle relevanten gesellschaftlichen Meinungen zu Wort kommen und nicht nur die, die auf Grund ihrer Tendenz oder der intransparenten Einflüsse genehm sind.

Im Rundfunk, insbesondere in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ist dies eine gesetzliche Verpflichtung. Presseorgane und Presseverbände, die maßgeblich die öffentliche Meinung beeinflussen können, sollten eine Diskussion darüber beginnen, ob nicht auch in ihren Erzeugnissen das breite gesellschaftliche Meinungsspektrum abgebildet werden sollte. Dies könnte zum einen eine vertrauensbildende Maßnahme sein und zudem die Demokratie insgesamt, deren Lebenselixier eine breite öffentliche Diskussion ist, stärken.

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