Der öffentlich-rechtliche Grundgedanke ist ein Entwicklungsprojekt

von am 18.12.2020 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Filmwirtschaft, Kreativwirtschaft, Kulturpolitik, Medienordnung, Medienpolitik, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

Der öffentlich-rechtliche Grundgedanke ist ein Entwicklungsprojekt
Thorolf Lipp, Dokumentarfilmer, Inhaber der Arcadia Filmproduktion, Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG Dok)

Zeit für ein neues öffentlich-rechtliches Produktions- und Verwertungsmodell

18.12.2020. Von Thorolf Lipp, Dokumentarfilmer, Inhaber der Arcadia Filmproduktion, Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG Dok)

Das bestehende öffentlich-rechtliche System ist in seiner Gesamtheit nicht schnell genug reformierbar, um den dringenden Erfordernissen unserer unter Stress stehenden Demokratie gerecht zu werden. Hunderte Beiträge im Feuilleton, ein nicht unerheblicher Teil der Bürger*innen, aber auch diverse wissenschaftliche Gutachten monieren seit Jahren, dass die ö/r Anstalten in vielen Bereichen den vom Gesetzgeber vorgesehenen Funktionsauftrag nicht adäquat erfüllen (zuletzt z.B. BMF 2014; Wolf 2019../../../Users/Thorolf/AppData/Local/Temp/161007-gutachten-doerr-holznagel-picot-100-1.pdf; Gersdorf 2019). Der Umgang der Anstalten mit den Ressourcen ist in vielerlei Hinsicht kritikabel. Diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichtes mit Aufforderung zu Korrekturen (z.B.  2007;  2014; 2018) sind weitgehend folgenlos verhallt. Auch das Grimme Institut konstatiert eine Flut von „Immer mehr vom immer Gleichen“ und rügt regelmäßig den nivellierenden Einfluss der Redaktionen auf das Programm. Reformen des Gesamtapparates sind dringend nötig, werden aber seit 2016 weitgehend ergebnislos in einer Arbeitsgruppe verschleppt.

Unmut macht sich inzwischen auch in der politischen Klasse breit, Sachsen-Anhalt hat der Gebührenerhöhung nicht zugestimmt. Die Gründe dafür, mögen mit dem eigentlichen Reformstau nicht allzuviel zu tun haben, der Umstand zeigt aber: Die ö/r Anstalten sind nicht länger sakrosankt. Inzwischen dürfte jedermann klar geworden sein: Einen Umbau des Systems, eine teilweise Schärfung des Funktionsauftrages, kann es nur im Rahmen einer größeren gesellschaftlichen Debatte geben die in einem eindeutigen politischen Willen zu wirklichen Veränderung und Priorisierungen resultiert. Für diese dringend nötige öffentliche Debatte will der hier skizzierte Vorschlag eine ganz konkrete Anregung geben.

Trotz vieler Defizite plädieren wir unmissverständlich dafür, die ö/r Idee zu erhalten. Angesichts der Größe des Apparates, der langfristigen tariflichen Verpflichtungen gegenüber Mitarbeiter*innen und seiner unbestreitbaren Bedeutung als Teil der vierten Gewalt im Staat ist aber absehbar, dass Reformen des Gesamtapparates sich noch lange hinziehen werden. Soviel Zeit haben wir nicht. Wenn man will, dass es auch in zehn Jahren noch so etwas wie eine diskursfähige demokratische Öffentlichkeit geben soll, dann bieten nur Teil-Lösungen Auswege aus dem Dilemma. Die Politik muss jetzt den Mut haben, sehr schnell einzelne Aufgabenbereiche des ö/r Mediensystems gänzlich neu zu denken und institutionell neu aufzustellen, damit ein echter Neustart zumindest partiell möglich wird. Die dafür notwendigen Mittel sollen aufkommensneutral aus den bestehenden Beitragseinnahmen generiert werden. Anders gesagt: Die Anstalten müssen schrumpfen, damit aus den freiwerdenden Geldern etwas Neues entstehen kann, das dem Willen des Gesetzgebers und den Bedürfnissen der Gesellschaft im digitalen Zeitalter deutlich besser entspricht als der Status Quo, der beides nicht ideal erfüllt. Anders als die Reformideen von Lutz Hachmeister bezieht sich unser erstmals im Januar 2020 in einem Konzeptpapier von Sandra Trostel, Thorolf Lipp, Paul Klimpel und Susanne Dzeik formulierter Reformvorschlag ausschließlich auf eine Verbesserung der Bedingungen für das dokumentarische Genre. Warum? Weil den dokumentarischen Bewegtbildmedien für das Funktionieren unserer demokratischen Ordnung eine ganz besonders wichtige Rolle zuteilwird. Unsere Idee heißt folgerichtig „Docs for Democracy“, denn darum geht es: eine demokratisch organisierte, selbstverwaltete Bewegtbildproduktion aus und für alle Teile der Gesellschaft, die einen Beitrag zum Gelingen des demokratischen Prozesses leistet und in Teilen andere Qualitäten haben muss, als das derzeitige Angebotsspektrum der ö/r Anstalten.

0,77 Prozent – das ist die Wahrheit

ARD und ZDF behaupten insbesondere gegenüber der Politik gerne, dass das dokumentarische Genre zu den zentralen Kernkompetenzen des ö/r Systems zählt. Das ist ganz offenkundig eine Lebenslüge, denn die Zahlen erzählen eine ganz andere Geschichte: Die Gesamtausgaben der ARD für alle dokumentarischen Auftragsproduktionen zwischen 15 und 90+ Minuten betrugen 2018 gerade einmal 0,77% der kumulierten Gesamteinnahmen (57,93 Mio. von ca. 6500 Mio., ARD-Produzentenbericht 2018). Heruntergerechnet sind das etwa 34 Minuten neuproduziertes dokumentarisches Programm ab 15 Minuten Länge pro ARD-Sender und Tag. Beim ZDF liegt dieser Wert bei 2,13%, ist aber immer noch sehr niedrig, verglichen mit den Kosten anderer Programmbereiche bzw. der Systemkosten. (ZDF-Einnahmen 2018: 2.193,4 Mio.; „Beschaffungsaufwand für Auftrags- und Koproduktionen“ 2018, Bereich Dokumentationen/Reportagen: 46,6 Mio.)Angesichts der Krise in der unsere fragile Demokratie steckt, ist dieser Anteil geradezu lächerlich niedrig und steht schlicht im diametralen Gegensatz zum Auftrag des Systems. Aber es kommt noch schlimmer: Hass, Lüge, Verschwörungstheorien und Propaganda sind frei verfügbar, weil deren Verfasser die von diesen Geschichten ausgehende Deutungsmacht gezielt für ihre Interessen nutzen. Viele ö/r Inhalte hingegen werden, weil das ö/r System vor etwa Dreißig Jahren in Richtung eines neoliberalen Produktionsmodells abgebogen ist, hinter Bezahlschranken versteckt oder verschwinden nach kurzer Auswertung im Archiv. Wer einmal versucht, einen in den letzten Jahren mit öffentlichen Geldern (teil-) finanzierten und gesellschaftlich breit diskutierten Dokumentarfilm kostenlos anzusehen, wird in den ö/r Mediatheken kaum fündig werden: Filme wie More than Honey (2012), Overgames (2016), Elternschule (2017), System Error (2018), Er_Sie_Ich (2018), Kulenkampffs Schuhe (2018) oder Heimat ist ein Raum aus Zeit (2019 sind aufgrund urheberrechtlicher Schranken und der Usergewohnheiten de facto aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden.

Das Gegenteil sollte der Fall sein: ein funktionierendes ö/r System müsste den Output an hochqualitativen, glaubwürdigen und frei verfügbaren dokumentarischen Inhalten dramatisch steigern. Diese Produktionen müssen unter guten wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen entstehen, um ein wirklich verlässliches Gegengewicht zu Hass, Lüge, Verschwörungstheorien und Propaganda zu bieten. Allerdings muss sich die Suche nach der Wahrheit auch finanziell lohnen, die genaue, gründliche Dokumentarist*in darf nicht länger die Dumme sein. Dokumentarisch arbeitende Filmemacher*innen verfügen über ein hohes Maß an intrinsischer Motivation. Ihr Beruf ist Berufung, denn anders wäre das unsichere berufliche Umfeld bei miserabler Bezahlung nicht zu ertragen. Dokumentarist*innen werden ausgebildet, eine komplexe und widersprüchliche Wirklichkeit differenziert abzubilden. Sie zeichnen sich durch große Neugier auf die Welt aus und wollen Ihren Protagonisten mit Respekt begegnen. Sie wissen um die Verantwortung, die sie ihnen gegenüber haben. Sie arbeiten aber auch investigativ und mit kritischer Distanz, wenn es erforderlich ist. Dass ausgerechnet Dokumentarist*innen die schlechtbezahltesten Branchenteilnehmer*innen sind, wirft kein gutes Bild auf das ö/r System wie auf unsere Gesellschaft insgesamt.

Immer noch mehr Doku, oder was?

Der Blick auf die Produktionsrealität weist aber nicht nur mit Blick auf die ökonomischen Rahmenbedingungen und die tatsächliche öffentliche Verfügbarkeit, sondern auch mit Blick auf Inhalte und Formen riesige Lücken auf wie die Studie „Deutschland – Doku Land“ des unabhängigen Medienjournalisten Fritz Wolf als aktuelle Erfassung dokumentarischer Programme zeigt. Aus der Studie geht sehr eindeutig hervor, dass die vom Bundesverfassungsgericht immer wieder eingeforderte Vielfalt zu kurz kommt: Einzelstücke, künstlerische und experimentelle Kinodokumentarfilme, Hintergrund- und Kulturberichterstattung, wirklich differenzierte Auslandsberichterstattung etc. pp. Nicht zuletzt müssten Zukunftsthemen aus Wissenschaft, Forschung, Natur und Umwelt eine viel stärkere Rolle spielen – sie haben aber lediglich einen Anteil von nur etwa 3% an allen nonfiktionalen Produktionen. Philosophie, Religion und Geistes- und Kulturwissenschaften finden so gut wie gar nicht statt. Dabei sind es neben dem Klimawandel vermutlich die kulturellen Konflikte die das 21. Jh. am stärksten prägen werden.

Im Übrigen kommt die Studie von Fritz Wolf zu der Einsicht, dass der Großteil der nonfiktionalen Produktionen, weit mehr als 80%, aus hochformatierten „Dokus“ besteht, die in Form und Inhalt stark normiert sind und daher oft mehr Probleme verursachen, als dass sie zum Gelingen demokratischer Prozesse beitragen würden. Die Situation hat sich damit seit der Vorgängerstudie „Alles Doku, oder was?“ aus dem Jahr 2003 weiter verschärft. Probleme und Herausforderungen werden in der „Doku“ sehr oft anhand von Einzelschicksalen erzählt. Hinzu kommt ein ständiges Überbetonen der Emotionalität mit denen hier versucht wird, dramaturgische Mechanismen des Spielfilms zu kopieren was nicht selten zu einer sehr einseitigen Themen- und Protagonistenwahl führt, wie die Affäre um gecastete Darsteller im WDR beispielhaft gezeigt hat. In der Summe all dieser Filme entsteht ein verzerrtes, viel zu emotionalisiertes, drastisches und letztlich stark fiktionalisiertes Bild der Wirklichkeit. Diese de facto Fiktionalisierung durch extreme Verdichtung, standardisierte Erzählmuster und äußere Formen ist in den letzten 30 Jahren zur dominierenden Konvention des dokumentarischen Erzählens geworden die kaum noch Freiräume übrig lässt für andere Herangehensweisen. Jürgen Kalwa beschreibt das in einem Gespräch mit Deutschlandfunk par excellence. Er führt aus, wie die beiden hochgelobten und preisgekrönten Filme „Searching for Sugarman“ und „Finding Vivian Maier“ in wesentlichen Teilen die Wahrheit zugunsten der vermeintlich besseren Geschichte bewusst verfälschen, weil der Markt nach einer bestimmten Art von Geschichte giert! Das Problem dabei ist, dass solche Geschichten auf unser Wirklichkeitsverständnis zurückwirken und wir uns dann wundern, wenn die Wirklichkeit eben doch komplex und widersprüchlich ist. So wird in der letzten Konsequenz das Bedürfnis nach dem „starken Mann“ genährt, der die Dinge einfacher machen soll als sie tatsächlich sind. Make America great again – aus einer Fiktion ist ein real existierender gesellschaftlicher Graben geworden, der die USA tief entzweit. Und das Problem ist auch nach der Wahl von Joe Biden keineswegs gelöst!

Öffentlich-rechtliche Medien haben zwei Aufgaben: zu spiegeln, was in der Gesellschaft los ist. Und es einzuordnen. Der Unmut eines nicht geringen Teils der Bürger*innen mit dem Status Quo besteht auch in dem Umstand, dass es kaum mehr Beobachtung, dafür aber sehr viel Einordnung gibt. Das damit einhergehende Gefühl führt aber bei den Bürger*innen heute vielfach nicht mehr zur gewünschten Orientierung. Sondern es führt zu einem Gefühl der Entmündigung, das oft eher in Ressentiment umschlägt, statt in konstruktive Debatten zu führen. Ein ö/r Mediensystem muss aber die mündige Bürger*in wollen, ihr etwas zumuten und abverlangen. Und ihr ein Urteil zutrauen.

Für originär filmische Herangehensweisen, die den Bildern selbst Platz einräumt und auf eine offene Form setzt, die der Komplexität des Abgebildeten Rechnung zu tragen versucht, ist auf den gefälligen „Doku“-Sendeplätzen meist aber kein Platz. Besonders beklagenswert ist daher die finanzielle Ausstattung des langen, unformatierten Dokumentarfilms. Sein Anteil an den Gesamteinnahmen von ARD und ZDF liegt im Promillebereich. Dabei reüssiert das Genre auf Festivals und ist für die reflektierte Darstellung komplexer Themen durch nichts zu ersetzen. Die Sender finanzieren lange Dokumentarfilme aber in aller Regel nur noch zwischen 15% und 35%. Den Rest tragen Filmförderanstalten und die Produzent*innen bzw. Regisseur*innen, Kameraleute, Editor*innen etc. u.a. durch Selbstausbeutung. Summa summarum muss man sagen: Gemessen an der Bedeutung des nonfiktionalen Genres für die Erfüllung des Auftrages ist der Finanzierungsanteil der ö/r Anstalten viel zu niedrig, die Formenvielfalt viel zu gering. Die Diskussion über diese mangelhafte Finanzierung tritt seit Jahren weitgehend ergebnislos auf der Stelle – genau wie die damit eng verknüpfte Debatte über den Kern des ö/r Auftrages. 

Glaubwürdig, gemeinwohlorientiert und frei zugänglich – die Zukunft des Dokumentarischen heißt „Docs for Democracy“

Wir beobachten weltweit einen Zerfall der demokratischen Öffentlichkeit. Es ist höchste Zeit, diesen bedrohlichen Entwicklungen massiv entgegenzuwirken und endlich zu erkennen, welche eminent wichtige Rolle die Medien dabei spielen, im Guten, wie im Schlechten! In einem idealen System stabilisieren sich demokratische Prozesse, indem sie eingebettet sind in einen freien öffentlichen Diskurs. Letztlich baut Demokratie auf einer dauernden kollektiven Suche nach Wahrheit auf. Die dafür notwendigen Medien, das wusste Karl Marx schon 1842, dürfen daher keine „Magd des Marktes“ sein. Wir brauchen im Gegenteil ein viel höheres Maß an wirklich unabhängiger medialer Demokratievermittlung und Verständigungskultur als es derzeit der Fall ist. Für diese Aufgabe ist das dokumentarische Genre in allen seinen Ausprägungen geradezu prädestiniert. Ö/r dokumentarische Bewegtbildmedien müssen glaubwürdig, gemeinwohlorientiert, vielfältig und in sehr großer Zahl frei zugänglich sein, oder unsere Gesellschaft wird künftig nicht mehr demokratisch sein. Wir stehen bereits kurz vor dem Punkt, an dem die gemeinsame Informationsbasis – die aber Ausgangsbedingung für den demokratischen Prozess ist – verloren geht. Diese Einsicht bildet den Tenor eines Beitrages von Carsten Brosda und Wolfgang Schulz in der FAZ vom 11.06.2020. Es geht daher jetzt darum, alle verfügbaren Kanäle mit Qualitätsinhalten geradezu zu fluten, um Desinformation, Lüge, Hetze und Propaganda wirkungsvoll begegnen zu können.

Öffentlich-rechtliche dokumentarische Produktionen sind heute aber nur noch in den seltensten Fällen vollfinanziert und verschwinden daher oft nach kurzer Zeit aus dem Programm bzw. den Mediatheken. In Bildungskontexten können ö/r Medien – aufgrund durchaus berechtigter Ansprüche der Urheber – nicht ohne zusätzliche Lizensierungskosten und -aufwände eingesetzt werden. Dabei wäre eine einfache und vor allem dauerhafte digitale Auffindbarkeit sowie die legale Intensivierung des Medieneinsatzes in Schule, Wissenschaft und Zivilgesellschaft mehr als wünschenswert. Beides entspricht dem Bedürfnis der Bürger*innen an ein zeitgemäßes ö/r Mediensystem. Beides ist derzeit aber nicht gegeben.

„Docs for Democracy“ will diesen Missstand korrigieren. Dieses neue Produktions- und Auswertungsmodell kann schnell eingerichtet werden, ohne gleich das gesamte ö/r System umbauen zu müssen. Die Idee ist, mit mindestens 2% des Beitragsaufkommens eine selbstverwaltete Direktbeauftragung der Produktion dokumentarischer Bewegtbildinhalte zu ermöglichen. Jenseits des oft erratischen Redaktionswesens und der nach wie vor völlig unbefriedigenden Produktionsbedingungen und Verwertungsmodelle. Dass der Vorschlag verwaltungsrechtlich machbar ist wird weiter unten aufgezeigt. Alle im Rahmen dieses neuen Modells entstehenden Produktionen sollen im deutschsprachigen Raum über CC Lizenzen für die Bürger, aber auch für den Einsatz in Bildung, Wissenschaft, Museen etc., zeitlich unbeschränkt frei verfügbar sein. Das Stichwort lautet, wie in vielen anderen derzeit laut werdenden gesellschaftlichen Debatten auch:  Öffentliches Geld wird zu öffentlichem Gut.

Gleichzeitig geht es um die ebenso notwendige Abbildung gesellschaftlicher Diversität in Form, Inhalt und Akteuren vor und hinter der Kamera. Filmemachen ist derzeit ein finanziell hochrisikroreicher, unsicherer Beruf, den man sich leisten können muss. Große Bevölkerungsgruppen treten aus diesen Gründen hier als Akteure quasi überhaupt nicht in Erscheinung, wie etwa die Neuen Deutschen Medienmacher mit Recht betonen und wie auch eine aktuelle Studie über das ö/r Volontärswesen bestätigt. Wir sehen in der raschen Implementierung des Modelles „Docs for Democracy“ aber auch einen unmittelbaren Mehrwert für die politischen Entscheider: Eine Stärkung des demokratischen Diskurses durch die Realisierung gesellschaftlicher Vielfalt unter Vorzeichen des Gemeinnützigkeits- und Gemeinwohlgedankens. Im Übrigen ist die Realisierung dieses Modells ein kostenneutraler, dafür aber öffentlich sofort sichtbarer Beitrag zur Reform des ö/r Rundfunks – die sich in der Arbeitsgruppe AUS seit Jahren weitgehend ergebnislos dahinschleppt. Schließlich wäre er – denn diese Mittel sollen selbstverwaltet sein – ein Vertrauensbeweis an die Filmemacher*innen. Schließlich sind sie es, die „da rausgehen“ und sich mit den Unwägbarkeiten einer komplexen und widersprüchlichen Realität auseinandersetzen und nicht die Verwalter in den Anstalten, die, wie anderswo auch, über das Wohl und Wehe der Macher aber de facto entscheiden.

Der öffentlich-rechtliche Grundgedanke von „Docs for Democracy“

„Docs for Democracy“ knüpft an den ursprünglichen Gemeinwohlgedanken eines ö/r Mediensystems zeitgemäß neu an. Die Idee ist, dass zunächst mindestens 2% des jährlichen Rundfunkbeitragsaufkommens in eine neue Form der vollfinanzierten Produktion und Verwertung von nonfiktionalen Inhalten investiert wird, jenseits des bestehenden ö/r Redaktionssystems. Das wären immerhin ca. 160 Millionen im Jahr – und damit mehr als eine Verdoppelung des bisherigen Etats für das dokumentarische Genre bei ARD und ZDF. Die Mittel sollen in einem teil-randomisierten Verfahren über eine Direktbeauftragung der Produzent*innen vergeben werden. Dieser Weg ist, laut einem Gutachten des Berliner Verfassungsrechtlers Martin Eifert aus dem Jahr 2014, rechtlich prinzipiell möglich. Im Mittelpunkt dieses Gutachtens stand seinerzeit die prinzipielle verfassungsrechtliche Zulässigkeit solcher Modelle, die der Gesetzgeber im Rahmen einer staatsvertraglichen Fortentwicklung regeln kann. Nach geltendem Recht, und hier

scheint grundsätzlich keine darüber hinausgehende Änderung der Rechtslage im neuen Medienstaatsvertrag gegeben, bestehen derzeit schon laut § 112 in einzelnen Ländern landesgesetzliche Regelungen für eine Förderung unabhängiger Produzenten aus Rundfunkbeitragsmitteln. Soweit dies landesgesetzlich noch nicht erfolgt ist, kann eine Förderung im Rahmen der Möglichkeiten von § 112 Medienstaatsvertrag erfolgen, wenn ein diese Förderung gestattendes Gesetz beschlossen wird.

Da diese Frage für verschiedene Szenarien bzw. Produktionsmodelle von Bedeutung ist, hat die AG DOK im Herbst 2020 beschlossen, eine Präzisierung des o.g. Gutachtens für die speziellen Rahmenbedingungen einer direkten Förderung von Produzenten aus Beitragsmitteln in Auftrag zu geben. Im Rahmen von „Docs for Democracy“ sollen vollfinanzierte dokumentarische Werke entstehen, die unter Creative Commons Lizenzen frei verfügbar sind. Schon die Vollfinanzierung der Herstellung dieser Projekte wäre ein Quantensprung für die Filmschaffenden, denn noch nicht einmal das ist derzeit ja gegeben, da die Quote der tatsächlich vollfinanzierten Auftragsproduktionen im ö/r System beständig sinkt. Zusätzlich sollen aber auch die im Rahmen der CC-Lizensierungen notwendigen Nutzungsformen und -dauern realistisch abgegolten werden. Das wird für die meisten Branchenteilnehmer*innen mindestens eine Verdoppelung ihrer Honorare nach sich ziehen. Dafür können dann diese Produktionen der deutschsprachigen Öffentlichkeit aber zeitlich unbegrenzt zur Verfügung stehen und rechtssicher, z.B. auch in Bildungskontexten, eingesetzt werden. Dieses neue Produktions- und Distributionsmodell wird der gesellschaftlichen Entwicklung neue Impulse verleihen und unter den Filmschaffenden zu einem Kreativitäts- und Produktivitätsschub führen.

Die Illusion des Marktes – der keiner ist

Es gibt für dokumentarische Filme in Deutschland keinen echten Markt. Stattdessen haben wir es mit einem Oligopol von einigen wenigen ö/r Anstalten zu tun, die die Rahmenbedingungen weitgehend diktieren können. Diese Anstalten sind zu mehr als 90% mit öffentlichen Geldern ausgestattet, der Rest sind Werbeeinnahmen und Verwertungserlöse. Der Benefit eines ö/r Rundfunksystems muss der Gesellschaft, von der es finanziert wird, daher in Form von Gemeinwohleffekten zugutekommen, sonst verfehlt das System seinen Auftrag. Es geht nicht um den bloßen Erhalt einer sinnentleerten Institution. Leonard Novy, Direktor des Institutes für Medien- und Kommunikationspolitik und Nachfolger von Lutz Hachmeister, hat vor kurzem im Tagesspiegel erläutert, es gehe bei der Reform unserer Medienordnung um nichts weniger als darum, „Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit“ zu leisten. Das bringt es auf den Punkt. Der staatsrechtliche Begriff „Daseinsvorsorge“ bezeichnet seit 80 Jahren die Grundversorgung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen. Dass Novy heute den Qualitätsjournalismus ebenfalls dazuzählt macht die Dringlichkeit des Anliegens auch begrifflich sehr deutlich. Tatsächlich jedoch wälzen die die ö/r Anstalten ausgerechnet dort, wo es um das Erzielen genau dieser Effekte geht, das wirtschaftliche Risiko auf das schwächste Glied in der Kette ab: das unabhängig produzierende Dokumentarfilmgewerk. Das zeigt, dass hier die Marktideologie auf eine zerstörerische Art und Weise Einfluss nimmt auf das, worum es im Rahmen eines ö/r Mediensystems eigentlich geht: Um die Pflege und Weiterentwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens. Sprich, um demokratische Daseinsvorsorge.

Fatal ist, dass diese neoliberale Ideologie auch von vielen Filmemacher*innen und Produzent*innen verinnerlicht wurde. Sie haben sich die Auffassung zu eigen gemacht, sie müssten sich mit ihren von den Sendern nicht voll finanzierten Werken zusätzlich noch auf einem wirklich freien Markt anderswo bewähren, der freilich auf ganz anderen Begründungszusammenhängen beruht. Daher muss gerade auch in den Köpfen der Kreativen ein Schalter umgelegt werden. Wir sollten ehrlich sein: Die Produktion von dokumentarischen Bewegtbildmedien, egal ob für Web, Kino oder Fernsehen, ist hierzulande quasi ausnahmslos ein Subventionsmodell. Sie sind vom Gesetzgeber als „meritorisches Gut“ angelegt für das die Bürger*innen in Form ihrer Rundfunkbeiträge (ö/r Rundfunk) oder Steuergelder (Filmförderung) einen Beitrag leisten müssen. Das Problem ist aber, dass es in den vergangenen drei Jahrzehnten immer öfter zu einer im Kern unglücklichen Verquickung dieses Subventionsmodells mit Marktlogik gekommen ist, die einen nachhaltigen – und oft negativen – Einfluss auf die Auswahl von Stoffen und Erzählweisen hat. Die Schieflage beginnt damit, dass

Recherche und Projektentwicklung unter den derzeitigen Produktionsbedingungen zum wirtschaftlichen Risiko des Produzenten deklariert wird. Das ist schon insofern zynisch, als den Produzent*innen im Erfolgsfall dann aber keinerlei Pioniergewinn zugestanden wird. Vielmehr fungieren sie letztlich als billige, außertarifliche Werkbank der ö/r Anstalten. Die per se fragwürdige Konstruktion der „teilfinanzierten Auftragsproduktion“, aber auch die verschiedenen Coproduktionsmodelle, verlagern aber – unabhängig von oft ohnehin nicht erzielbaren Auswertungserlösen – sogar das wirtschaftliche Risiko der Produktion selbst noch weiter auf die Hersteller*innen. Das gefährdet die Unabhängigkeit der Perspektive, da diese nun nicht nur überlegen müssen: „Was ist der beste Film?“, sondern auch „Wie muss ich den Film machen, dass er später noch auf dem nach Klischees, dramaturgisch zuspitzenden Sensationen und Spektakeln gierenden Medienmarkt verkauft werden kann?“ Diese Mechanik konterkariert aber die Idee eines wirklich unabhängigen, am Gemeinwohl orientierten Dokumentarismus und widerspricht der primären Aufgabe der ö/r Anstalten, eine „freie und umfassende Meinungsbildung in der Gesellschaft […] zu gewährleisten“ (Rundfunkstaatsvertrag). Die nicht voll finanzierten Produktionen müssen nach der Fertigstellung künstlich verknappt werden in der Hoffnung, anderswo damit noch Geld verdienen zu können. Der Effekt ist für die Gesellschaft verheerend. Medien, deren Funktion es ist, aufzuklären, Spaltung in der Gesellschaft zu überwinden, zu einem besseren Verständnis füreinander und für die Probleme in dieser Welt beizutragen, verschwinden auf Nimmerwiedersehen hinter Paywalls oder im Archiv. Eine lose-lose Situation für Produzent*innen und Gesellschaft gleichermaßen. Lediglich die Anstalten profitieren davon, während die Politik das Problem offensichtlich noch nicht richtig verstanden hat.  

„Docs for Democracy“ schlägt hier einen anderen Weg vor, der an die Grundüberlegungen des ö/r Gedankens neu anknüpft: Vollfinanzierung der Herstellung und pauschale Abgeltung der Nutzungsrechte. Dabei wird kein Unterschied gemacht zwischen potentiell „quotenträchtigen“ Produktionen und eher randständigen Themen, die gleichwohl aber künftig sehr bedeutsam sein können. Die Förderlogik von „Docs for Democracy“ bezieht sich auf den Effekt der „Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit“. Aus der gerade skizzierten lose-lose Situation, bei der lediglich die ö/r Anstalten profitieren würde dann ein win-win Szenario, von der sowohl die Filmschaffenden als auch die Gesellschaft etwas haben, nämlich ein meritorisches Gut, das diesen Namen auch wirklich verdient, weil es frei von Vermarktungsinteressen produziert und dauerhaft verfügbar ist. Die Anstalten hingegen sollten den Verlust von lediglich zwei Prozent ihrer Einnahmen verkraften können.

Die nicht heilbaren Fehler eines Redaktionssystems

Die Gatekeeper-Funktion der Redakteur*in kann, mit Maß eingesetzt, in bestimmten Kontexten richtig und auch hilfreich sein. In einer Zeit jedoch, in der sich die Gesellschaft rasend schnell weiter ausdifferenziert, kann man von den paar Handvoll ö/r Dok-Redakteur*innen schlicht nicht erwarten, ein wirklich ausreichend gutes Gespür für die zigtausenden, neu entstehenden und auch wieder vergehenden Lebenswelten, subkulturellen Trends, Problemlagen, oder Fachkontexte etc. zu entwickeln. Eine Redakteur*in kann, auch bei sehr viel Selbstreflexion und gutem Willen, am Ende doch immer nur sich selbst zum Maßstab nehmen. Ulrich Teusch, Birk Meinhardt und viele andere haben die diversen blinden Flecken des Redaktionswesens sehr treffend beschrieben: sie konstatieren keineswegs gezielte Verschwörung oder Absicht zur Lüge. Vielmehr beschreiben sie eingeübte soziale Praktiken, unausgesprochene Prämissen darüber, was dem Zuschauer zumutbar ist, welche Themen, Formen und Ästhetiken ankommen, wie man ein Thema anpackt, oder eben nicht anpackt. Diese wiederholt sehr fundiert vorgetragene Kritik sollte die Politik ernst nehmen. Tatsächlich wird sie von Redakteur*innen im Gespräch unbewusst eher bestätigt: Es sei die Rolle seiner Redakteure*innen, die Vorstellungen der Regisseur*innen „einzudengeln“ teilte der Chef des quotenstärksten ö/r Doku-Senders vor einiger Zeit ganz unverblümt mit. Das mag innerhalb des von ihm akzeptierten Begründungszusammenhanges eines hochformatierten Doku-Kanals auch stimmig sein. Richtig ist es nicht. Der Begriff „Eindengeln“ hat vielmehr eine brutale, ja sogar eine totalitäre Komponente. Dadurch kommen eigene Sichtweisen oder offene filmische Zugänge definitiv zu kurz. Im Übrigen aber geht es bei der Kritik am Redakteursprinzip nicht nur um Themenwahl oder Ästhetik. Es geht auch um die reale Macht des persönlichen Geschmacks einzelner Entscheider*innen, die über das berufliche Wohl oder Wehe der Produzent*in oder Regisseur*in entscheidet. Es gibt in diesem System schlicht keine Autonomie der Kreativen. Wer die einschlägigen Netzwerke nicht kennt, nicht bedienen kann oder will, wer sich so etwas wie innere Unabhängigkeit und künstlerische Freiheit bewahren will, der muss mit dem System kollidieren. Oder er ordnet sich eben, die wahrscheinliche Variante, dem Systemzwang unter. Georg Seeßlen hat das jüngst in einem vielbeachteten Aufsatz zu den Mechanismen des Förderwesens in Deutschland treffend beschrieben: „Diese Maschine produziert mittlerweile eine Filmwahrheit im Sinne von Michel Foucault, das heißt, sie bestimmt, was in Film, mit Film und über Film gesagt werden kann und was nicht. Sie definiert den Film und das Filmische dergestalt, dass nicht nur durch den Förderfilter bestimmt wird, was dargestellt wird und was nicht, sondern auch, wie es dargestellt wird. Eine Wahrheitsmaschine produziert nicht nur Aussagen und Verbote, sondern immer auch eine Semantik“(Seeßlen in DIE ZEIT vom 10. 09.2020). Alle der hier genannten nicht heilbaren Schwächen des Redaktionssystems stehen einer Neuorientierung und der Idee einer Bereicherung der Perspektiven daher unmittelbar im Weg. Es fehlen – aus allen weiter oben genannten Gründen – viel zu viele Stimmen in der öffentlichen Diskussion, wie etwa auch der Intendant des DLF, Stefan Raue, kürzlich unumwunden eingeräumt hat.

„Docs for Democracy“ schlägt daher ein grundsätzlich anderes Verfahren vor: Wir brauchen künftig neue, weit schnellere und zumindest teil-randomisierte Entscheidungsfindungsprozesse für die Produktion von audiovisuellen Bewegtbildinhalten, die die Filmemacher*in ins Zentrum stellen, ohne dass es die machtvolle Redakteur*in gibt, die wesentlichen Einfluss auf Themen, Sichtweisen und Ästhetik ausübt und über die Finanzierung entscheidet. Wenn die Demokratie den mündigen Bürger will, dann muss sie wohl auch an den mündigen Kreativen glauben!  Nichts spricht dagegen, sondern alles dafür. Und deswegen ist die Idee von „Docs for Democracy“, mit zunächst 2% des Beitragsaufkommens Freiräume zu schaffen für eine neue, selbstverwaltete Methode des Umgangs mit den Ressourcen. Wir haben hierzulande mit unseren Filmhochschulen und Universitäten ein exzellentes Ausbildungssystem. Vermittelt wird eine große Bandbreite an hochdifferenziertem Wissen für das es allerdings in der Produktion viel zu wenig Resonanzräume gibt. „Docs for Democracy“ will die Filmemacher*innen dazu befähigen, das zu tun, was sie am besten können: In die Welt hinausgehen, sehr genau beobachten und Geschichten darüber erzählen.

Das derzeitige System behindert die Kreativen und spielt den Verwaltern in die Hände

Tatsächlich besteht doch die eigentliche Herausforderung des Filmemachens heute vor allem darin, Netzwerke zu pflegen, Entscheider zu umgarnen, nicht den Mut zu verlieren und stattdessen in jahrelanger Kleinstarbeit komplizierte Co-Produktionen auf die Beine zu stellen. Das dauert oft Jahre, verhindert schnelle Reaktionen auf wirkliche Ereignisse, absorbiert einen Großteil der künstlerischen Kraft und ist obendrein so oft erfolglos, dass man das freie Filmemacherdasein im Grunde nicht als Beruf bezeichnen kann. Viele Regisseur*innen, offenkundig vor allem Frauen, kapitulieren vor diesen Herausforderungen, die mit den Herausforderungen des Filmemachens selbst im Grunde gar nicht so viel zu tun haben. Es profitieren vom derzeitigen System vor allem Netzwerker*innen, Verwalter*innen und Verwerter*innen. Und die im bisherigen System notwendigen zusätzlichen Vermarktungsbemühungen überfordern vor allem die kleineren Produzent*innen. Die würden sich viel lieber mit ganzer Kraft darauf konzentrieren, die nächsten Projekte inhaltlich zu entwickeln und – voll finanziert – zu realisieren, anstatt sich zusätzlich zu ihrer kreativen Arbeit noch als Dealer betätigen zu müssen und während der Produktion eines Projektes noch mit fünf weiteren zu jonglieren. Weil das aber so ist, ergibt sich eine ganz klare Tendenz: die kleinen Produzent*innen verschwinden, der „Markt“ soll sich konsolidieren. Das geht z.B. aus dem gerade erschienenen WDR-Produzentenbericht 2019 hervor. Demnach fiel die Zahl der vom WDR beauftragten Produzent*innen von 2014 bis 2019 kontinuierlich um 32 Prozent von 343 auf 232. Die Tendenz ist vollkommen klar: Wer für eine der vielen ö/r Sendereihen, aber auch für National Geographic oder Discovery Channel produziert verschwindet vollständig hinter dem „Brand“, ist lediglich namenloser Dienstleister dessen Name kaum noch im Abspann zu finden ist. Dabei sollte ein demokratisches System doch für den Wert der Perspektive des unteilbaren Individuums stehen und das auch formal deutlich machen! Derzeit ist das Gegenteil der Fall.

„Docs for Democracy“ möchte diesen Negativtrend umkehren: Die Geschichte des Dokumentarfilmes ist von einzelnen Personen geprägt worden, nicht von Brands, Logos und Marketingstrategien. Damit das auch in Zukunft so bleiben kann, müssen gerade in einem ö/r Mediensystem die Kreativen strukturell ermächtigt werden, indem sie direkten Zugang zu vollfinanzierten Produktionsmodellen erlangen. Nur dadurch kann es wieder eine größere Verlässlichkeit von Berufsbiographien geben und es können wieder mehr wiedererkennbare künstlerische Handschriften und Werkkonvolute entstehen. Eine unverzichtbare Grundvoraussetzung für die Etablierung von „Docs for Democracy“ ist dabei die möglichst konsensuale Beantwortung der Frage nach angemessenen Vergütungen. Wenn diese Frage geklärt ist, dann wird dies eine dramatische Besserstellung der Kreativen bedeuten. Außerdem würde dem parallel ja weiterbestehendem Anstaltssystem, das derzeit, trotz Dutzender Protokollerklärungen in den diversen Medienstaatsverträgen zur Notwendigkeit „angemessener Vergütungen“ mehr schlecht als recht geregelt ist, erstmals eine echte Alternative, ja ein Konkurrenzmodell, an die Seite gestellt.

Entmündigt die CC-Lizensierung die Urheber?

Creative Commons Lizenzen sind ein Verfahren, das in anderen gesellschaftlichen Sphären längst Standard ist. Überall dort, wo Inhalte mit öffentlichen Geldern finanziert werden, etwa im Wissenschafts- oder im Museumsbereich, kann der Urheber mit den unterschiedlichen CC-Lizenzmodellen sehr genau bestimmen, wie sein Werk veröffentlicht wird. Der Vorteil bei diesem global akzeptierten System besteht überdies in der Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Eine CC-Lizensierungsform stellt eine notwendige Kurskorrektur dar, weil sie dem eigentlichen Gedanken eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks viel näherkommt als das derzeitige quasikommerzielle System. Filmemacher werden damit für ihr Handwerk bezahlt: bestmöglich recherchierte und produzierte dokumentarische Bewegtbildmedien mit einer großen Vielfalt an formalen Zugriffen in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Diskurse und Öffentlichkeiten einzuspeisen. Das Spekulieren auf eine oft eher unwahrscheinliche Gewinnchance auf dem freien Markt entfällt hingegen.

Dieses Modell ist auch deswegen die einzige verlässliche Alternative zu den derzeit oft gehypten privaten Playern wie Netflix, Amazon, Disney und Co., weil diese ausschließlich den internationalen Markt im Blick haben und an nationale Themen kaum, an lokalen oder regionalen Themen hingegen gar nicht interessiert sind. Einige Produzent*innen befürchten, CC-Lizensierungen würde sie schlechterstellen, weil sie glauben, ihnen würden dadurch die Recoupmentmöglichkeit durch Lizenzverkäufe entzogen werden. Dagegen sprechen gleich mehrere Argumente: Zum einen konnte es zur eklatanten Unterfinanzierung des dokumentarischen Genres überhaupt nur deswegen kommen, weil die Filmschaffenden zunehmend auf die Möglichkeit von Erlösen auf dem Markt verwiesen wurden. Außerdem gibt es innerhalb der ö/r Anstalten einen erbitterten Kampf einzelner Ressorts um die Ressourcen. Im Vergleich zum überproportional teuren Sport oder zur Unterhaltung haben die dokumentarischen Programme dabei regelmäßig den Kürzeren gezogen. „Docs for Democracy“ löst diesen Interessenskonflikt, weil es hier im Rahmen der Selbstverwaltung die Macher*innen  selbst sind, die im regelmäßigen Turnus über die Eckpunkte der Beauftragungsmodalitäten entscheiden. Und zwar ohne, dass andere Ressorts ebenfalls Anspruch auf diese Mittel erheben würden. Es gibt in diesem System keine konventionelle Verwertungslogik und also auch keine Verwerter mehr, denn der Mehr-Wert – darin besteht die alternative Logik dieses letztlich gemeinwohlökonomischen Ansatzes – besteht im hohen Gut der demokratischen Daseinsvorsorge.

Die derzeit diskutierte DSM-Richtlinie zur Harmonisierung der europäischen Urheberrechtsgesetzgebung lässt das „Docs for Democracy“ Modell übrigens ausdrücklich zu. In Erwägungsrichtlinie 73 heißt es dazu: „Auch eine Pauschalzahlung kann eine verhältnismäßige Vergütung sein… . Die Mitgliedstaaten sollten die Möglichkeit haben, unter Berücksichtigung der Besonderheiten jeder Branche Sonderfälle zu bestimmen, in denen eine Pauschalzahlung geleistet werden kann. Es sollte den Mitgliedstaaten freistehen, den Grundsatz der angemessenen und verhältnismäßigen Vergütung mit verschiedenen bestehenden oder neu eingerichteten Verfahren, die unter anderem Kollektivverhandlungen und andere Verfahren umfassen könnten, umzusetzen, sofern sie dem geltenden Unionsrecht entsprechen.“

Die Idee der Selbstverwaltung der Mittel im Rahmen von „Docs for Democracy“ ist ein solches neu eingerichtetes Verfahren das sicherstellt, dass die Interessen der Urheber vollumfänglich gewahrt bleiben. Im Übrigen würde das neuartige Produktions- und Verwertungsmodell von „Docs for Democracy“ die bisherige Verwertungskaskade ja nicht vollständig ablösen, sondern lediglich partiell ergänzen. Produzenten, die glauben, dass sie mit dem konventionellen Lizenzmodell besser fahren, werden dies innerhalb des weiterbestehenden redakteursgesteuerten Beauftragungsmodell uneingeschränkt weiter tun können. Und eine weitere Ausnahme gilt es zu bedenken: Klammerteile oder Footage – nicht aber das CC lizensierte Werk selbst – können auch im „Docs for Democracy“ Modell künftig kommerziell ausgewertet werden.

Welche Förderschienen soll es geben?

Gefördert werden sollen vor allem Themen und erzählerische Formen, die einen Beitrag leisten können zu unabhängiger medialer Demokratievermittlung und Verständigungskultur. Nein – Staatsfernsehen ist hier nicht gemeint, im Gegenteil besteht die Intention des Modells ja in größtmöglicher Unabhängigkeit vom Staat und anderen machtvollen Meinungsinstanzen. Die Intention von „Docs for Democracy“ besteht an vorderster Stelle darin, diejenigen fundierten dokumentarischen Beobachtungen zu ermöglichen, die es im derzeitigen System kaum gibt.

Die Formen können variieren zeichnen sich aber durch besondere dokumentarische Qualitäten aus. Dazu zählen: Ins Offene beobachtend. Subjektiv betrachtend. Ohne vermeintlich objektiven journalistischen Gestus. Nah an den Protagonisten. Verstehend. Neugierig. Unvoreingenommen. Gründlich. Genau. Ausdauernd. Besonders gefördert werden rein beobachtende Ansätze, künstlerische, subjektive oder essayistische Zugänge, historische Betrachtungen, ethnographische Ansätze, Langzeitbeobachtungen, Chroniken etc. Formal reicht das Förderspektrum vom langen Dokumentarfilm über kürzere (auch serielle) Formate bis hin zu webbasierten Multimedia Mind Maps etc.

Die Förderkriterien definieren sich über die Qualität des Projektvorschlages, Diversität in Inhalt, Form und Personen vor und hinter der Kamera, fairer Umgang mit bzw. Gestus gegenüber den Protagonisten, produktionelles Know-How bzw. Kalkulationsrealismus sowie der Vereinbarkeit von Themen und Erzählformen mit Grundgesetz und Pressekodex. Alle Projekte werden in einer ersten Evaluierung daraufhin geprüft. Projekte werden anschließend über ein teilrandomisiertes Förderverfahren, bestehend aus Projektevaluierung mit Juryentscheidung einerseits und Lotterie andererseits vergeben. Die Los-Komponente soll das Förderverfahren dauerhaft offenhalten und der Bildung von Günstlingswirtschaft und quasi-redaktionellen Strukturen entgegenwirken. Eine abschließende Prüfung besteht aus Faktenchecks sowie Vereinbarkeit mit Grundgesetz und Pressekodex.

Förderschwerpunkte können sein:

  • Ins Offene gedrehte filmische Grundlagenforschungen mit denen Institutionen, in erster Linie im deutschsprachigen Raum, umfassend erkundet werden. Denn für das Vertrauen in die Demokratie ist eine möglichst genaue Kenntnis ihrer Institutionen essentiell.
  • Die behutsame, intensive und genaue Erkundung von Milieus, Subkulturen und Interessensgruppen des Landes und der teils sehr unterschiedlichen Öffentlichkeiten in denen diese sich bewegen.
  • Besonders rechercheintensive, ggf. investigative (Langzeit-) Projekte, die gesellschaftliche Phänomene differenziert dokumentarisch ausleuchten, um einen möglichst gründlichen Blick hinter die Prozesse gesellschaftlicher Organisation zu ermöglichen: z.B. Politische Gesetzgebungsprozesse, Gerichtsverfahren, Reformprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft etc. Missstände, Fehlentwicklungen etc. werden hierbei keineswegs ausgeklammert. Sehr bedenkenswert ist allerdings der Umstand, dass in der Aufmerksamkeitsökonomie der Satz gilt: „nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten“. Dieser Hype führt per se zu einer schiefen Wahrnehmung, weshalb hier auch Raum sein muss für Geschichten des Gelingens und (vermeintlich) „kleine“ Geschichten aus dem Alltag.
  • Besonders rechercheintensive, investigative (Langzeit-) Projekte von hoher Chronistenqualität und ohne sofortigen Verwertungszwang: z.B. Prozesse des Heranwachsens, der geschichtlichen Aufarbeitung, der städtebaulichen Veränderungen, der (Re-)Organisation von Institutionen, der wissenschaftlichen Forschung etc.
  • Lange, unformatierte Dokumentarfilme aber auch serielle Formate oder Multimedia Mind Maps als Wissensressource zu (Zukunfts-) Themen in Naturwissenschaft, Technikfolgenabschätzung, Ökologie, Klima, Wirtschaft, Kultur- und Geisteswissenschaften, Religion, Kultur, Philosophie, Soziales, Landwirtschaft, etc.

Rechercheförderung und Projektentwicklung

Eine auskömmliche Recherche bildet das unverzichtbare Rückgrat der meisten dokumentarischen Zugänge. Daher sollen 30% des Fördervolumens in diesen Förderbereich fließen. So soll vermieden werden, dass Projekte auch dann in die Produktion gehen müssen, wenn sie noch unreif sind.

Förderung bereits begonnener Projekte und Postproduktionsförderung
Bereits angefangene Projekte können – nach Evaluierung – weitergefördert werden. Bedingung ist auch hier, wie bei allen durch „Docs for Democracy“ geförderten Medien, die spätere Veröffentlichung unter CC-Lizenz.

Selbstverleihförderung bei Kinoauswertungen
Die Förderlogik von „Docs for Democracy“ bezieht sich auf den Effekt der „Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit. Es geht nicht um Gewinn, sondern darum, Ideen ins kulturelle Gedächtnis einzuspeisen. Während die digitalen Verbreitungswege potentiell ein großes Publikum erreichen können, eröffnet eine Pflege der Kinokultur die Chance des direkten Austausches mit dem Publikum und ist daher ein essentieller Bestandteil des Förderzieles der Demokratievermittlung. Es ist daher unverzichtbar, eine Förderschiene für den Selbstverleih zu etablieren, um einen Beitrag dazu zu leisten, das Kino als Kultur- und Diskursort zu erhalten, wie kürzlich Lars Henrik Gass, der Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen vehement gefordert hat. Niemand kann einen Film so authentisch präsentieren, und damit zu seiner erfolgreichen Auswertung beitragen, wie der Filmemacher selbst. Hier entsteht eine künftig viel engere Verbindung vor allem zu den Kommunalen Kinos, die ohnehin schon an dieser Schnittstelle operieren und ihr gemeinwohlorientiertes Profil weiter schärfen wollen.

Wo werden die Produktionen veröffentlicht?

In der Aufmerksamkeitsökonomie sind Sichtbarkeit und Auffindbarkeit die zentralen Herausforderungen. Die vordringliche Aufgabe von „Docs for Democracy“ Produktionen besteht darin, gesellschaftliche Wirkung im Sinne einer Daseinsvorsorge für die demokratische Öffentlichkeit zu entfalten und medialer Demokratievermittlung und Verständigungskultur dienlich zu sein. Sichtbarkeit für ausgewählte Produktionen wird durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit erreicht, für die ein noch zu bestimmender Prozentsatz des Gesamtbudgets herangezogen wird. Um eine möglichst hohe Auffindbarkeit zu gewährleisten ist es wiederum folgerichtig, die Produktionen auf allen kostenlos zugänglichen Kanälen der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die ö/r Sender werden gleichzeitig verpflichtet, alle Produktionen dauerhaft in ihre Mediatheken einzustellen. Besonders wertvolle Produktionen erhalten das Gütesiegel „Docs for Democracy“ und werden von den bestehenden ö/r Anstalten zusätzlich linear ausgestrahlt.

Fazit

Der ö/r Grundgedanke ist ein Entwicklungsprojekt. An vielen Stellen nicht fertig, von der Zeit eingeholt oder überholt. Wer glaubt, ein bestimmter institutionelle Status Quo müsse für alle Zeit in Stein gemeisselt sein, der setzt die Existenz des Gedankens selbst aufs Spiel. „Docs for Democracy“ beschreibt ein konkret formuliertes – und letztlich überschaubares – Reformvorhaben. Vieles spricht für ein solches Modell. Gleichzeitig aber kratzt es empfindlich am Selbstverständnis mächtiger Institutionen und Akteure. Das ist gut so! Denn was bedeutet Demokratie? „Ein von Furcht freier wohlmeinender Streit um die Optimierung der Mittel beim Streben nach Gemeinwohl“ (Peter Sloterdijk). Die liberale rechtsstaatliche Demokratie lebt davon, dass Veränderungsimpulse von Minderheiten ausgehen die Benachteiligungen skandalisieren oder Entwicklungsdefizite beklagen. Gleichzeitig lebt die Demokratie von Voraussetzungen, die sie nicht garantieren kann. Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist das Vertrauen der Bürger in das Gefühl, das sie Teil von etwas sind, von dem die anderen auch Teil sind. Dies kann aber dauerhaft durch Gesetze, Verordnungen oder institutionelle Macht nicht erreicht werden. In letzter Konsequenz sind es vielmehr die Geschichten die wir einander erzählen, die dieses Vertrauen konstituieren. Es sollte deutlich geworden sein, dass es genau hier eklatanten Reformbedarf gibt, weil wir kaum noch wirklich ausdauernd beobachten und daher viele sehr erzählenswerte Geschichten unerzählt lassen. Ein Großteil der derzeitigen Medienproduktion, auch der öffentlich-rechtlichen, trägt eher dazu bei, abzulenken und ein tiefgreifenderes Verständnis unserer Welt, mit ihren wegbrechenden Gewissheiten, aktiv zu behindern. Zum genauen Hinsehen, zur Gründlichkeit, Verlässlichkeit, letztlich im Willen zur Wahrheit, darf und kann es in einer Demokratie aber keine Alternative geben.

Idee: Sandra Trostel, Thorolf Lipp, Mitarbeit: Dietmar Post, Paul Klimpel, Susanne Dzeik

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