„Medienrecht ist kein Wirtschaftsrecht, sondern ein Demokratie-Sicherungsrecht“

Digital Services Act soll Online-Gatekeeper zähmen
16.12.2020. Interview mit Dr. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, Europabeauftragter der Direktorenkonferenz der Medienanstalten (DLM) und Vorsitzender der European Regulators Group for Audiovisual Media Services (ERGA)
Die Europäische Kommission hat gestern Vorschläge für einen neuen Rechtsrahmen für digitale Dienste vorgelegt – den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Dabei sollen mit dem Digital Services Act (DSA) sollen vor allem Fragen der Haftung und des Umgangs mit illegalen Inhalten geklärt werden, die bisher von der 20 Jahre alten E-Commerce-Richtlinie geregelt werden. Mit dem Digital Markets Act sollen die EU Wettbewerbsregeln aktualisiert und Plattformen reguliert werden. Für Dr. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien in NRW und Vorsitzender der European Regulators Group for Audiovisual Media Services (ERGA) ist der DSA „ein wichtiges und couragiertes Vorhaben, um sinnvolle Regeln für die digitale Wirtschaft in Europa zu finden.“ Allerdings seien eine Vielzahl von Unternehmen im Netz nicht nur Wirtschaftsunternehmen und Wettbewerber. Sie seien wie Google und Facebook längst zentraler Bestandteil der europäischen Medienlandschaft. Und Medienregulierung funktioniert eben nicht nach den gleichen Logiken wie Wettbewerbspolitik. Medienrecht sei kein Wirtschaftsrecht, sondern ein Demokratie-Sicherungsrecht. Insofern könne das Projekt des DSA nur gelingen, wenn es diesen Faktor umfassend berücksichtige, erläutert Schmid.
medienpolitik.net: Herr Schmid, Sie sind Vorsitzender des Zusammenschlusses der europäischen Medienregulierer, ERGA. Wie haben Sie das vergangene Jahr erlebt?
Schmid: Na ja, 27 europäische Medienregulierungsbehörden überwiegend vom Esstisch in Köln-Sülz zu koordinieren, hat schon viel Eigentümliches. Aber so ist das eben und ich konnte wenigstens meine persönliche CO2-Bilanz deutlich verbessern. Ansonsten war das ein extremes Jahr für uns. Die Mediennutzung ist vor allem online massiv angestiegen und, wie das so ist, werden in all dem Licht auch die schattigeren Seiten sichtbarer. Vor allem der Hass im Netz, der ungeschützte Zugang für Kinder zu harter Pornografie und natürlich das zunehmende Problem der Desinformation machen meinen Kolleginnen und Kollegen in ganz Europa mehr und mehr Sorgen.
medienpolitik.net: Die EU hat das Thema Medien(regulierung) augenscheinlich ziemlich weit oben auf ihrer To-do-Liste. Die Bedrohung durch Desinformation, Verschwörungsideologien und Hass ist in den Medien präsenter denn je. Welche Aktivitäten beobachten Sie seitens der Europäischen Politik?
Schmid: Ja, Europas Verantwortungsbewusstsein für faire Regeln im Netz scheint zu erwachen. Das ist auch gut so, denn die Freiheit kann auch digital ohne Regeln, die sie schützen, nicht überleben.
Die europäischen Mitgliedstaaten haben mit ihren Ratsschlussfolgerungen unter der deutschen Ratspräsidentschaft gerade einstimmig und eindeutig Position bezogen. Sie erwarten ein konsequentes Vorgehen gegen grenzüberschreitende Rechtsverstöße und fordern von der EU entsprechende Regelungen und eine Stärkung der ERGA als Zusammenschluss der unabhängigen Medienregulierer. Zugleich hat die Kommission mit der Veröffentlichung des EDAP und des MAAP den Ball aufgenommen und kündigt Maßnahmen an, die vor allem der Stabilisierung der Demokratie in den Medien dienen sollen.
Europa steht damit klar für den Schutz der Meinungsfreiheit und gleichzeitig den Erhalt der Rechtsstaatlichkeit ein. Oder einfacher gesagt: Europa findet gerade seine Rolle in einem zunehmend globalen Medienmarkt. Ich wüsste nicht, wer außer Europa und seinen Mitgliedstaaten das Prinzip der rechtsstaatlichen Freiheit im Netz durchsetzen sollte.
medienpolitik.net: Kann Europa das denn, kann Europa Standards im Netz durchsetzen?
Schmid: Ja sicher, die Datenschutzgrundverordnung ist der beste Nachweis dafür. Europa ist ein unverzichtbarer Markt. Und davon einmal ganz abgesehen glaube ich, dass Unternehmen wie Facebook und Google erleichtert sind, wenn wieder Staaten und Parlamente die Verantwortung dafür übernehmen, was im Netz erlaubt und was verboten ist. Diese Entscheidung weiterhin alleine der Industrie zu überlassen, ergibt aus keiner Perspektive Sinn.
„Medienregulierung funktioniert nicht nach den gleichen Logiken wie Wettbewerbspolitik.“
medienpolitik.net: Der Schutz der Meinungsfreiheit ist jedoch vermutlich nicht genauso zu behandeln wie der Umgang mit persönlichen Daten oder Widerrufsrechten. Kann das überhaupt in Gesetzen geregelt werden?
Schmid: Ein ausgesprochen wichtiger Punkt. Gerade in der Diskussion um die zunehmende Desinformation, die natürlich ein enormes Problem ist. Angemessen auf sie zu reagieren, ist schwierig, weil die Desinformation ja gerade das Kernstück der Demokratie, nämlich die Meinungsfreiheit, für sich verwendet oder soll ich sagen missbraucht. Entsprechend muss man bei jeder Gegenmaßnahme extrem vorsichtig sein, dass man nicht das zerstört, was man eigentlich schützen will, nämlich die Freiheit. Ich habe den Eindruck, dass die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission diesen Punkt jeweils erkannt haben. Sie bemühen sich um den richtigen Weg zwischen dem Schutz der Gesellschaft vor Destabilisierung durch Desinformation einerseits und den Freiheitsrechten andererseits – gar nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. Und ich denke, dass wir bei dieser Diskussion als Medienregulierer helfen können, schon weil wir es gewohnt sind, an dieser Nahtstelle zwischen Rechtsdurchsetzung und Wahrung der Freiheit zu agieren.
medienpolitik.net: Nun liegen die ersten Entwürfe des Digital Services Act vor. Was halten Sie davon?
Schmid: Haben Sie nochmal zwei Seiten Platz? Aber um es kurz zu machen: Der DSA ist ein wichtiges und couragiertes Vorhaben, um sinnvolle Regeln für die digitale Wirtschaft in Europa zu finden. Dabei geht es vor allem auch um Bedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb. Soweit, so einfach. Allerdings ist es so, dass eine Vielzahl von Unternehmen im Netz eben nicht nur Wirtschaftsunternehmen und Wettbewerber sind. Sie sind wie Google und Facebook längst auch zentraler Bestandteil der europäischen Medienlandschaft. Und Medienregulierung funktioniert eben nicht nach den gleichen Logiken wie Wettbewerbspolitik. Hier geht es um Meinungsfreiheit, um kulturelle Vielfalt, um Partizipation der Gesellschaft, um das Prinzip der Staatsferne oder um Angebotsvielfalt – manchmal sogar ganz ausdrücklich gegen Marktmechanismen. Und das hat seinen guten Grund, denn Medienrecht ist kein Wirtschaftsrecht, sondern ein Demokratie-Sicherungsrecht. Insofern kann das Projekt des DSA nur gelingen, wenn es diesen Faktor umfassend berücksichtigt.
Der DSA versucht das mit einem entschiedenen sowohl-als-auch. Er versucht mit dem Haftungsprivileg für die Provider, den Markt in Europa offen und attraktiv zu halten, definiert aber auch deutlich klarere Verantwortungen der Plattformen – auch uns, den Regulierungsbehörden, gegenüber. Ähnlich hält er es mit der Einführung einer effektiven Aufsicht. Diese soll in den Mitgliedsstaaten liegen und alle Aspekte der Aufsicht über die Plattformen koordinieren. Dabei soll sie unabhängig sein, vor allem von staatlicher Einflussnahme. Und wenn Sie mich fragen, ich hätte da so eine Idee, wie das aussehen kann. Das wird mit Sicherheit noch eine intensive Diskussion mit dem Parlament und den Mitgliedsstaaten, aber eines ist doch klar, am Ende muss eine effektive Aufsicht gelingen. Alles andere wäre eine verpasste Chance für Europa.
„Ich glaube, dass Unternehmen wie Facebook und Google erleichtert sind, wenn Staaten und Parlamente die Verantwortung dafür übernehmen, was im Netz erlaubt und was verboten ist.“
medienpolitik.net: Die Probleme, denen diese Gesetze begegnen sollen, drängen jedoch heute schon und Gesetze aus Brüssel brauchen bekanntlich lange. Wir sind spät dran. Was wird bereits in diesem Moment gegen Rechtsverstöße im Netz unternommen?
Schmid: Es ist ja nicht so, dass es bisher keine Gesetze gäbe. Volksverhetzung oder Anstachelung zu Rassenhass sind ebenso jetzt schon verboten wie harte Pornografie ohne effektiven Kinder- und Jugendschutz. Das gilt selbstverständlich auch im Netz. Und wir gehen dagegen mit zunehmendem Erfolg vor – auch grenzüberschreitend. Solange wir keine neuen Regelungen auf europäischer Ebene bekommen, ist das zwar mühsam und zeitintensiv, aber auch das wird mittelfristig funktionieren – und auf der Mittel- und Langstrecke sind wir ziemlich gut.
medienpolitik.net: Sie sind erst kürzlich wiedergewählt worden als Vorsitzender der ERGA und vertreten damit die nationalen Medienregulierer in einer zunehmend grenzenlosen Medienwelt. Wie stellen sich die nationalen Medienregulierer im Umgang mit zunehmend grenzüberschreitenden Fällen auf?
Schmid: Meinen Kolleginnen und Kollegen und mir ist der effektive Schutz der Bevölkerung vor Rechtsverstößen im Netz das zentrale Anliegen. Solange die Gesetzgeber uns keine anderen Werkzeuge an die Hand geben, machen wir eben all das, was wir jetzt schon tun können. So haben sich vorletzte Woche alle 27 Medienregulierungsbehörden mit einem Memorandum of Understanding, auf einheitliche Vorgehensweisen, Verantwortlichkeiten und Zeitläufe bei grenzüberschreitenden Verfahren geeinigt. Angesichts der sehr unterschiedlichen Sichtweisen in Europa ist das keine Selbstverständlichkeit. Angesichts der Bedrohungslage sollte es aber vielleicht doch eine Selbstverständlichkeit sein – auf die wir auch ein bisschen stolz sein können, wenn es uns damit gelingt, gleichzeitig die Bevölkerung und die Meinungsfreiheit in Europa zu schützen. Und das natürlich staatsfern.