Genauer Hinsehen

Die Integrationskraft der demokratischen Institutionen ist in Gefahr
20.01.2021. Von Dr. Ortlieb Fliedner, Rechtsanwalt, Bonn
„Wenn heute die Repräsentanten unserer Demokratie, allen voran die Ehrenamtlichen, wenn Bürgermeister und Kommunalpolitiker beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen werden – dann ist das ein Alarmzeichen für unsere Demokratie“, so Bundespräsident Steinmeier am 23.Juni 2019.[1] Doch die Demokratie ist nicht erst in Gefahr, wenn ihre Repräsentanten angegriffen oder sogar umgebracht werden. Den Taten geht eine Entwicklung voraus, die ein Klima erzeugt, in dem sich Menschen zu solchen Taten ermutigt fühlen. Hass, Hetze und Bedrohungen in den sozialen Medien im Internet haben in den letzten Jahren ein solches Klima miterzeugt. Dies wird von vielen beklagt und erste zaghafte Versuche entgegenzusteuern sind erkennbar. Fast gar nicht im öffentlichen Bewusstsein ist eine andere Entwicklung, die unsere Demokratie dauerhaft beschädigen kann und der noch kaum und unzureichend entgegengewirkt wird: Unsere demokratischen Institutionen, die den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleisten müssen, werden auf breiter Front und von vielen Seiten angegriffen und verächtlich gemacht mit der zum Teil gewollten Folge, dass ihre Integrationsfähigkeit und ihre tatsächliche Integrationskraft gemindert wird. Gleichzeitig schwindet sowohl in der Gesellschaft wie auch zum Teil in der Politik das Bewusstsein für die Bedeutung der integrativen Funktion dieser Institutionen für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie.
Eine Demokratie benötigt Institutionen, die für alle da sind
Die vielen unterschiedlichen Interessen, die in unserer pluralistisch verfassten Demokratie zusammen – nicht selten gegeneinander – wirken, benötigen als gemeinsames Bindemittel Institutionen, die keine Eigeninteressen vertreten und für alle da sind. Parlamente und Regierungen in Bund und Ländern, unbestechliche Verwaltungen und unabhängige Gerichte sind solche Institutionen. Dass auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu diesen Institutionen gehört, ist – wie die aktuelle Diskussion um die Erhöhung des Rundfunkbeitrags in erschreckender Weise gezeigt hat – Teilen in Politik und Gesellschaft nicht mehr bewusst. Für ihren Beitrag zum Zusammenhalt in der Gesellschaft müssen diese Institutionen nicht nur Integrationsfähigkeit, sondern auch Integrationskraft haben. Die Bürgerinnen und Bürger müssen darauf vertrauen können, dass sie ihre von der Verfassung vorgesehene demokratische Aufgabe, für alle da zu sein und gerecht gegenüber allen zu handeln, wirklich wahrnehmen.
Der abgewählte Präsident der USA, Trump, hat diesen Zusammenhang besonders sichtbar gemacht. Indem er als Präsident nur seine Anhänger bediente, hat er die Integrationsfunktion des Präsidentenamtes missachtet und die amerikanische Gesellschaft derart gespalten, dass sich zwei gesellschaftliche Lager unversöhnlich gegenüberstanden und ein gemeinsames Grundverständnis für die öffentlichen Angelegenheiten, Grundvoraussetzung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, nicht mehr vorhanden war. Beschädigt werden kann die für den Zusammenhalt der Gesellschaft zwingend erforderliche Integrationskraft dieser Institutionen durch Angriffe von außen wie auch von den in diesen Institutionen Handelnden. Hier sind Entwicklungen zu konstatieren, die in ihrer Breite und Stärke noch nicht ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind.
Gefährdungen der Integrationskraft des Parlaments
Das Ansehen des Parlaments, Herzstück der Demokratie, ist ein wesentlicher Gradmesser für seine Integrationskraft. Die Verächtlichmachung des Parlaments in der Weimarer Republik, z.B. durch Titulierung als Schwatzbude, hat sicher zum Untergang dieser ersten Demokratie in Deutschland beigetragen. Und wie sieht es heute aus? 2017 wurde die Alternative für Deutschland (AFD) zum ersten Mal in den Bundestag gewählt und hat damit als im Parlament Handelnde auch Einfluss auf das Ansehen des Parlaments. Die Süddeutsche Zeitung hat das Verhalten der AfD im Bundestag ein halbes Jahr lang genau beobachtet. Das Ergebnis ist erschreckend:[2]„Die AfD versucht die Gesellschaft zu spalten.“ Mit kollektivem (Aus-)Lachen der Redebeiträge anderer Abgeordneter hat die AfD „das Misstrauen gegen demokratische Institutionen ins Herz der Demokratie getragen und sie spiegelt es mit jedem lachenden Aufwallen auf der Bühne des Plenarsaales.“ Zur Störung der Debatten werden Zwischenrufe ständig und gezielt genutzt. Soweit die SZ. Was die AfD im Parlament tatsächlich bezweckt, hat der Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Björn Höcke, auf der Kyffhäuser Tagung 2018 sehr deutlich zu erkennen gegeben, als er sagte: „Heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, liebe Freunde, meine hier, wir entscheiden uns in dieser Frage: Wolf.“ Der Geschichtslehrer Höcke dürfte damit ganz bewusst auf eine Äußerung Göbbels Bezug genommen haben, in der dieser die Funktion der NSDAP im Reichstag umschrieb. „Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir!“[3] Nicht nur die Integrationskraft des Parlaments soll beschädigt werden, sondern das Parlament selbst.
Beschädigungen des Ansehens des Parlaments kommen aber auch von außen: Der angesehene Journalist und Literaturprofessor Roger Willemsen schrieb ein Buch über „Das Hohe Haus – ein Jahr im Parlament“. Sein überwiegend negatives Bild des Parlamentsbetriebs gründet sich allein auf seine Beobachtung der Parlamentsdebatten im Plenum und lässt die Funktionsmechanismen eines demokratischen Parlaments völlig außer Acht. An keiner Stelle wird dem Leser berichtet, dass die Willensbildung im Parlament in den Fraktionen und den Ausschüssen stattfindet und die Debatten im Plenum im Wesentlichen die Funktion haben, die Beschlüsse des Parlaments für die Öffentlichkeit zu begründen. Dieses Plenum, das nur einen geringen Ausschnitt der Parlamentsarbeit zeigt, auf dessen Beobachtung er aber allein sein Bild vom Parlament stützt, wird so gekennzeichnet: „Kein Argument ist zu schlicht, keine Fälschung zu dreist, um es nicht in den Bundestag zu schaffen (S. 134). „Als ich (…) den Saal verlasse, ist das Plenum fast leer. Die Verwaltung der Langeweile setzt ein. Sie ist Berufsmerkmal des Parlamentariers.“ (S. 202) „So entwickeln sich die Abgeordneten allmählich zu Charaktermasken. Wie die handelnden Personen im Kasperletheater erfüllen sie die Auflagen ihrer Rollen-Charaktere: Gretel, Polizist, Teufel, Hanswurst, Krokodil“ (S. 242). Erschreckend und für das Ansehen des Parlaments bedrohlich war, dass dieses Buch lange Zeit einen vorderen Platz in der Bestsellerliste einnahm. Durch die überwiegend positiven Rezensionen in den Medien wurde dieses Zerrbild des Parlaments weit verbreitet, ohne dass die wirkliche Arbeit des Parlaments erklärt oder gewürdigt wurde.
Angriffe auf die Integrationskraft des Parlaments erfolgen auch, wenn die Abgeordneten eine Diätenerhöhung beschließen. Dann empören sich Journalisten wie Leserbriefschreiber regelmäßig über die „Selbstbedienung“ der Abgeordneten, wohlweislich ignorierend, dass das Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben hat, dass das Parlament selbst die Diäten der Abgeordneten festlegen muss. Die Empörung richtet sich zumeist auch gegen die Höhe der Diäten und zeigt das mangelnde Verständnis von der Bedeutung der Abgeordnetentätigkeit für die Demokratie. Ein Bundestagsabgeordneter verdiente 2017 rund 115000 € im Jahr. Im selben Jahr erhielt der Vorstandsvorsitzende des DAX-Konzerns SAP eine Jahresvergütung von 19, 83 Mio €, das ist das 172fache der Abgeordnetendiät. Noch ein anderer Vergleich zeigt die geringschätzige Bewertung parlamentarischer Arbeit. Die fünf am meisten verdienenden Vorstandsvorsitzenden in Deutschland (SAP, Daimler, BASF, Siemens, Volkswagen) bekamen 2017 zusammen 61, 45 Millionen € Jahresvergütung. 60,6 Millionen Euro betrugen 2017 die Gesamtausgaben des hessischen Landtags einschließlich der Abgeordnetendiäten.Fünf Personen in der Wirtschaft verdienen also so viel wie uns, die Steuerzahler, ein ganzes Landesparlament mit 110 Abgeordneten und ca. 160 Mitarbeitern kostet. Diese Schieflage in der Bewertung von demokratischer Verantwortung und der Verantwortung für ein Unternehmen entwertet demokratisches Engagement. Für die Funktionsfähigkeit und Stabilität unsere Demokratie ist aber ganz wesentlich, dass sehr viele Menschen sich in demokratischer Weise politisch engagieren.
Gefährdungen der Integrationskraft der demokratischen Institutionen Verwaltung und Justiz
Verwaltung und Justiz sind Institutionen, die in dienender Weise für alle da sein und die Gesetze für alle gleich anwenden müssen. Nur die korrekte und pflichtbewusste Erfüllung dieser Aufgabe schafft das notwendige Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und trägt damit wesentlich zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei. Auch hier sind besorgniserregende Entwicklungen zu beobachten. Wenn von einem Polizeicomputer nicht öffentliche Daten abgerufen werden, die anschließend in einem Drohschreiben an eine Politikerin auftauchen und auch nach drei Jahren noch keine Aufklärung dieser Tat erfolgt ist, wird das Vertrauen in Verwaltung und Justiz beschädigt. Der Vertrauensverlust, den diese Institutionen dadurch erlitten haben, dass eine rechtsextremistische Gruppe, die sich NSU nannte, fast ein Jahrzehnt unentdeckt mordend durch Deutschland zog, ist in seiner Bedeutung für den Zusammenhalt der Gesellschaft bis heute noch nicht genügend erkannt.
Die Integrationskraft der Verwaltung leidet auch, wenn rechtsextremes Gedankengut unter Polizisten massenhaft ausgetauscht wird und es an transparenter Aufklärung mangelt. Wenn Polizisten oder Feuerwehrleute zunehmend tätlich oder mit Worten während ihres Einsatzes angegriffen werden, wird offen mangelnder Respekt gegenüber diesen Verwaltungstätigkeiten gezeigt und damit die Integrationsfähigkeit dieser demokratischen Institutionen gemindert. Die mittlerweile zahlreichen Angriffe gegenüber Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern sowie ehrenamtlichen Kommunalpolitikern schädigen dabei nicht nur die Integrationskraft kommunaler Verwaltungen, sondern die Demokratie insgesamt. Denn sie können bewirken, dass manch einer davor zurückschreckt, sich in einer Gemeinde ehrenamtlich für die Demokratie zu engagieren.
Unabhängige Gerichte sind in ganz besonderem Maße demokratische Institutionen, die das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger benötigen. In der Weimarer Republik erfüllte die Justiz diese Integrationsfunktion nicht. „In der Weimarer Republik gab es eine politische Justiz, die „auf dem rechten Auge blind“ war, um mit dem linken umso schärfer hinzusehen.“[4] Von diesen Weimarer Verhältnissen sind wir sicher weit entfernt. Aber man kann aus ihnen durchaus lernen, wo wir besonders wachsam sein müssen: Der Schutz demokratischer Politikerinnen und Politiker durch die Justiz war in der Weimarer Republik unzureichend. Hier gibt es besorgniserregende Parallelen. Politikerinnen und Politiker werden von verschiedener Seite im Internet mit Hass und Hetze, vielfach sogar mit Morddrohungen überzogen. Diese Straftaten werden nur unzureichend verfolgt, da Polizei und Staatsanwaltschaften bisher nicht für das notwendige und kompetente Personal gesorgt haben. Darüber hinaus sind die Sanktionen oft sehr milde, wenn eine solche Straftat tatsächlich einmal vor Gericht landet. Von einem ausreichenden Schutz derjenigen, die sich politisch für die Demokratie engagieren, kann in diesem Bereich jedenfalls nicht die Rede sein. Und Urteile, die es erlauben, eine Politikerin „alte perverse Drecksau“ zu nennen, tragen ebenfalls nicht zur Stärkung demokratischen Engagements bei.
Die Integrationsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Demokratie ist Diskussion. So kennzeichnete der Staatsmann und Philosoph Masaryk prägnant eine tragende Säule der Demokratie. Presse- und Rundfunkfreiheit, die eine freie öffentliche Diskussion gewährleisten sollen, sind daher für eine Demokratie essentielle Grundwerte. Zwischen dem Pressewesen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestehen jedoch wesentliche Unterschiede auch im Hinblick auf ihren Beitrag zur Stärkung der Demokratie. Das Pressewesen folgt den Gesetzen der Marktwirtschaft, d.h., dass kommerzielle Interessen bei der Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften eine wesentliche Rolle spielen. Zudem darf, vom Grundgesetz garantiert, die Presse einseitig berichten, nämlich entsprechend der vom Verleger vorgegebenen Tendenz. Unter die Pressefreiheit fällt sogar ein Presseorgan, das im Rahmen des verfassungsmäßig Erlaubten rechtsextremes, die demokratischen Institutionen verächtlich machendes Gedankengut verbreitet. Dieser Aspekt der Pressefreiheit wird zumeist verschwiegen. Demgegenüber ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk unabhängig, keinen kommerziellen Interessen verpflichtet und hat den Auftrag, für alle da zu sein, in dem er das gesellschaftliche Meinungsspektrum nicht nur abbildet, sondern auch die für eine funktionsfähige Demokratie notwendige öffentliche Diskussion befördert. Er darf also nicht einseitig agieren, sondern ist der gesamten Gesellschaft verpflichtet. Und ganz wesentlich: der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist das einzige Medium, das die Grundwerte unserer Demokratie sichtbar machen und den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern muss.
Diese Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie ist vielen Menschen nicht bewusst, insbesondere weil er von vielen Seiten aus sehr unterschiedlichen Motiven angefeindet wird und in der öffentlichen Diskussion zu wenige Beiträge dagegen halten. Die Angriffe der AfD gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den sie trotz seiner verfassungsmäßig garantierten Staatsferne mit dem Begriff „Staatsfunk“ diskreditieren wollen, kann man noch unter dem Aspekt sehen, dass die AfD die demokratischen Institutionen generell schleifen will. Das geschilderte Auftreten der AfD im Bundestag zeigt dies überdeutlich. Wenn allerdings eine Partei wie die FDP, die in einigen Bundesländern mitregiert, in ihrem Parteiprogramm die Halbierung des Rundfunkbeitrags fordert, will sie den öffentlich-rechtlichen Rundfunk praktisch in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die einzige Medieninstitution in Deutschland, die für alle da ist und keinen kommerziellen Eigeninteressen unterworfen ist, könnte ihre Aufgabe, die demokratische Diskussion zu befördern und die Demokratie insgesamt zu stärken, nicht mehr erfüllen. Solche Forderungen aus der Mitte der Gesellschaft sind besonders bedrohlich, da die gefährlichen Folgen für unsere Demokratie dadurch verharmlost oder gar nicht erkannt werden.
Fazit
Die Gefährdungen unserer demokratischen Institutionen haben schon ein erhebliches Maß erreicht. Die nur beispielhaft angeführten Angriffe auf diese Institutionen sind in ihrer Breite und Tiefe und in ihrer Bedeutung für die Stabilität unserer Demokratie bisher zu wenig ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Mehr Hinsehen ist hier dringend erforderlich. Gegenmaßnahmen zur Stärkung der Integrationskraft unserer demokratischen Institutionen sind kaum zu erkennen. Wenn die Demokratie nicht ernsthaft Schaden nehmen soll, muss den demokratiefeindlichen Angriffen auf die unsere Demokratie tragenden Institutionen von den Politikerinnen und Politikern, der (Zivil-)Gesellschaft und ganz besonders von den Medien deutlich offensiver und beherzter entgegen getreten werden.
[1] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/06/190623-Volksbund_Dt_Kriegsgraeberfuersorge.html
[2] https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/die-afd-im-bundestag-e362724/
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-bjoern-hoecke-nutzt-goebbels-anspielung-beim-kyffhaeusertreffen-in-sachsen-anhalt-a-00000000-0003-0001-0000-000002539482
[4] https://www.bpb.de/izpb/268225/politische-strafjustiz-in-deutschland