Angriff aus Hollywood

Was es für den deutschen Streaming- und Fernsehmarkt bedeutet, wenn Hollywood-Studios zu Konkurrenten werden
01.03.2021. Prof. Dr. Thorsten Hennig-Thurau, Ricarda Schauerte, Niko Herborg, Veronika Schneid, Jun. Prof. Dr. Nico Wiegand
Mit dem Aufkommen von Video-Streamingdiensten hat sich die Medienlandschaft grundlegend gewandelt. Während TV-Sender Anfang der 2000er Jahre den Bewegtbildmarkt dominierten, sehen sich die Fernsehhäuser heute mit neuen Konkurrenten wie Netflix oder Amazon Prime Video konfrontiert. Mit Disney+ stieg Anfang 2020 ein weiterer namhafter Wettbewerber in das Streaminggeschäft ein – der erste Streamer „Made in Hollywood“, dem weitere Unterhaltungskonzerne folgen werden. In der Studie „Angriff aus Hollywood“ von Prof. Dr. Hennig-Thurau und Ricarda Schauerte vom Lehrstuhl für Marketing & Medien der Universität Münster in Kooperation mit der Unternehmensberatung Roland Berger und Juniorprofessor Nico Wiegand von der Universität Amsterdam, werden neuen Daten zu dieser für die klassischen TV-Sender problematischen Entwicklung dargestellt. Mit Blick auf den Markteintritt von Disney+ haben die Forscher herausgefunden, dass die Kannibalisierung des TV, aber auch der anderen Streamer weiter zugenommen hat, aber auch die Nachfrage nach Streaming gewachsen ist. Während die TV-Sender anscheinend die eindeutigen Verlierer sind, sind die Folgen für Netflix und Amazon zweischneidig. medienpolitik.net publiziert einen Teil der Studie.
Hollywood comes to Germany: Lektionen für Streaming-Giganten und deutsche TV-Häuser
Nach einer kurzen Phase der Konsolidierung beginnt mit dem Eintritt von Disney in den deutschen Streaming-Markt eine neue Ära: Nun ringt nicht nur die Elite der globalen Tech-Konzerne um die Sehzeit der deutschen Zuschauer, sondern auch Hollywood selbst. Dies erschwert Netflix und Amazon das Geschäft und erhöht auch den ohnehin schon immensen Druck auf die deutschen TV-Sender noch weiter. Und das in einer Zeit der ökonomischen Krise, in der Werbeerlöse eher zurückgehen als ansteigen und eine Rundfunkbeitragserhöhung ungewiss ist.
Für die etablierten Streaming-Anbieter zeigen unsere Ergebnisse, dass neue Wettbewerber aus dem Herzen der Filmindustrie für sie ein zweischneidiges Schwert sind. Einerseits gefährden die „Neuen“ die bereits auf dem Markt aktiven Streaming-Plattformen, indem sie ihnen kostbare Sehzeit streitig machen. Auch wenn wir keine unmittelbaren Kündigungen bei Netflix und Amazon beobachten, dürfte dies mittel- bis langfristig für die Streaming-Anbieter ein Problem darstellen, da die Sehzeit die zentrale Kennziffer für Kundenloyalität ist. Die streamingaffinen Zuschauer werden ihr Portfolio an Streaming-Diensten vermutlich nicht endlos erweitern können, sondern bei weiteren Angeboten aus Hollywood Trade-off-Entscheidungen treffen müssen. Siegen werden diejenigen, die ihren Nutzern den größten Mehrwert bieten. Das Bundling von Streaming-Diensten mit weiteren Angeboten (wie Amazon Prime oder auch Disney+ und TVNOW mit Magenta) mag helfen, um erste Kündigungen abzuhalten. Aber es dürfte fraglich sein, ob solche Offerten ausreichen, Defizite im Kernprodukt zu kompensieren. Netflix wird laut unseren Analysen am härtesten vom „Hollywood-Effekt“ getroffen – ein Hinweis an das Unternehmen, die Bedürfnisse seiner Bestandskunden nicht zu vernachlässigen und nicht nur auf die Sehanteile der TV-Sender zu schielen, wie es neue Reality- und Showformate sowie aktuelle Tests von linearen Streams suggerieren.
Andererseits deuten unsere Zahlen aber auch an, dass der Angriff aus Hollywood die Attraktivität des Streamings als vergleichsweise neues Sehformat erhöht und das „Kuchenstück“ vergrößert, welches die verschiedenen Streaming-Plattformen untereinander aufteilen. Im Durchschnitt verbringt jeder D+-Adopter 17 Minuten mehr mit Abo-Streaming als ein Nicht-Adopter, wenn alle sonstigen Unterschiede herausgerechnet sind. Dies geschieht auf Kosten der anderen Bewegtbildformate und nicht zuletzt der TV-Sender. Deren bisherige digitale Bestrebungen scheinen dieser Entwicklung zumindest in der Breite nicht viel Wirksames entgegensetzen zu können.
„Für den zukünftigen Erfolg der deutschen TV-Häuser im Streaming-Sektor können Content und ‚Usability‘ der Plattform als Goldstandard angesehen werden.“
Die deutschen TV-Häuser sind daher gut beraten, die selbst ausgerufene Streaming-Offensive umfassend anzugehen – mit allem, was man braucht, um in der Gunst der Zuschauer zu bestehen. Das muss in einer Ära, in der Hollywood-Konzerne in den deutschen Markt einsteigen und den Wettbewerb um die Sehzeit der hiesigen Zuschauer weiter verschärfen, wohl deutlich mehr sein als das, was die TV-Sender bisher bieten. Der Einstieg des „Maus-Hauses“ ermöglicht es dabei den deutschen TV-Häusern, konkrete Erkenntnisse im Hinblick auf die Gestaltung ihres Streaming-Angebotes zu gewinnen. Ein Vergleich der aktiven Nutzer des neuen Dienstes mit denjenigen, die nach drei Monaten bereits wieder abgewandert sind oder ihre Abwanderung ankündigen zeigt, dass „Abwanderer“ vor allem die persönliche Relevanz des Streaming-Anbieters aus Hollywood schlecht beurteilen. Dies gilt sowohl für die angebotenen Inhalte als auch für die Benutzerfreundlichkeit der Plattform. Besonders wichtig: „Abwanderer“ finden auf Disney+ weniger Sendungen, die sie interessieren – zusätzliche logistische Regressionsanalysen deuten darauf hin, dass dies auch der häufigste Abwanderungsgrund ist. Zudem finden „Abwanderer“ es schwieriger und weniger bequem, passende Inhalte zu finden; sie können auch mit den Informationen, welche die Plattform zur Auswahlhilfe bereitstellt, weniger anfangen.
Die absolute Anzahl der angebotenen Filme und Serien ist hingegen von vergleichsweise geringerer Bedeutung – solange der Zuschauer immer das „Richtige“ findet. Auch für den zukünftigen Erfolg der deutschen TV-Häuser im Streaming-Sektor können Content und „Usability“ der Plattform als Goldstandard angesehen werden. Den Schlüssel, um in diesen Bereichen mit den führenden Streaming-Anbietern mithalten zu können bzw. zu ihnen aufzuschließen, sehen wir dabei in einer kundenzentrierten Kultur, denn: „Culture eats strategy for breakfast“. Hier lassen nicht nur die deutschen TV-Häuser gravierende Defizite vermuten – sondern auch die Hollywood-Konzerne, für die das Direct-to-Consumer-Geschäft in weiten Teilen Neuland darstellt. Während sich die Zuschauer an die zeitgleiche Veröffentlichung aller Folgen einer neuen Serie bei Netflix und Amazon gewöhnt haben, schränkt Disney+ die damit verbundene Flexibilität bewusst ein – und zwar selbst bei solchen Produktionen, die bereits in anderen Märkten vollständig ausgestrahlt wurden (z.B. „The Mandalorian“). Auch wenn ein solches Vorgehen aus Kosten- und Kundenbindungsgründen sinnvoll sein mag, stellt es diese Zielgrößen über die Wünsche der Kunden – eine nicht ungefährliche Vorgehensweise in einem zunehmend intensiven Wettbewerbsumfeld, in dem Zuschauer auch kurzfristig abwandern können.
„Ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus und würde eine sehr viel grundlegendere Umverteilung der finanziellen Ressourcen erfordern.“
Neben der Kultur kommt natürlich auch dem „lieben Geld“ eine Schlüsselrolle zu. Ist es angesichts der neuen Konkurrenz aus Hollywood an der Zeit, in den Chefetagen der TV-Häuser das Klagelied auf die ungleiche Ressourcenverteilung zu forcieren oder gar den Kopf in den Sand zu stecken? Ein Blick in die Bilanzbücher zeigt, dass dafür eigentlich kein Grund vorliegt. Denn die deutschen TV-Häuser müssen sich in Sachen Gesamtausgaben für Content nicht vor den Schwergewichten aus Hollywood und dem Silicon Valley verstecken. Weltkonzerne wie Disney, Comcast/Universal oder Apple spielen mit den Content-Budgets, mit denen sie Schätzungen zufolge ihre Streaming-Dienste ausstatten, gar nicht in einer gänzlich anderen Liga. Natürlich hätten diese Unternehmen die Möglichkeit, zusätzliche Ressourcen in ihre Streaming-Dienste zu investieren, aber ein Kinderspiel ist das bei Weitem nicht. Umso wichtiger erscheint es daher, dass in Köln, Unterföhring, Mainz & Co. die Zeit genutzt und entschlossener gehandelt wird. Die allerorts ausgerufenen Streaming-Offensiven klingen gut, aber die aktuelle Verteilung der Gelder lässt Zweifel aufkommen, ob die deutschen Bewegtbildanbieter der internationalen Konkurrenz in Sachen Streaming wirklich die Stirn bieten wollen. So hat die RTL Group im Jahr 2019 beispielsweise weniger als 100 Millionen Euro in Inhalte für die hauseigenen Streaming-Plattformen investiert – ein Bruchteil der rund 3,5 Milliarden Euro, die das TV-Haus insgesamt für Content ausgegeben hat. Im Vergleich: Amazon stellt seinem Prime-Angebot 5 Milliarden Euro als Budget zur Verfügung, und die globalen Budgets aller neuen Streaming-Angebote aus Hollywood, einschließlich Disney+, liegen sogar (zum Teil deutlich!) darunter. Ähnliches gilt für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten: Sie investieren ihr Budget nach wie vor weitgehend in die Produktion und Akquise von linear ausgestrahlten Inhalten und überlassen dabei den US-Streamern das neue Format, obwohl insbesondere die ARD-Häuser ganz andere Möglichkeiten hätten.
Die TV-Sender verlängern zwar ihre linear ausgestrahlten Inhalte digital, sodass Synergieeffekte entstehen. Aber ein radikaler strategischer Umschwung sieht anders aus und würde eine sehr viel grundlegendere Umverteilung der finanziellen Ressourcen erfordern. Zudem müssten Inhalte anders bewertet werden: Man sollte sie insbesondere daran messen, wie viele neue Streaming-Nutzer sie generieren und wie sehr sie sich zur Bindung von bestehenden Streaming-Nutzern eignen. Diese etablierten KPIs der Streaming-Anbieter könnten erfordern, dass ganz andere Inhalte fürs Streaming produziert werden müssen, die dann ggf. linear verlängert werden. Ein solches Vorgehen würde indes mit Sicherheit erhebliche interne Konflikte in den TV-Häusern bedeuten. Diese sind Gefangene ihres eigenen Erfolgs in der linearen Welt: Um die bisherigen Geldmaschinen (die sich zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern unterscheiden) am Laufen zu halten, werden drastischere Investitionen in Zukunftsprojekte gescheut – auf die Gefahr hin, nicht gerüstet zu sein für den Wettbewerb im Streaming-Format. Indes bewirkt ein Vermeiden des Konflikts nur dessen zeitliche Verschiebung – und eine Verlagerung des Umsteuerns in eine ungewisse Zukunft, in der die dann geltenden Rahmenbedingungen mit noch stärkeren globalen Konkurrenten und noch weniger loyalen Zuschauern den hiesigen TV-Häusern aller Voraussicht nach deutlich weniger Handlungsspielraum lassen werden als heute. Möglicherweise unterschätzen die TV-Häuser dabei auch die Bereitschaft von Share- und Stakeholdern, einen weitreichenderen Wandel zu unterstützen: Die Streaming-Ambitionen von Disney haben die Aktienmärkte mit mächtigen Kurszuwächsen begrüßt, jahrelangen Anlaufverlusten zum Trotz.
Der Corona-Einfluss auf Streaming und Fernsehen
Die Corona-Krise brachte in allen Bereichen des Lebens und der Wirtschaft festgefahrene Verhaltens-und Nutzungsmuster ins Wanken – darunter auch die Art und Weise, wie und in welchem Ausmaß wir Bewegtbildinhalte konsumieren. Unsere Daten ermöglichen einen Vergleich der Mediennutzung in der Zeit kurz vor der Ausbreitung des Virus in Deutschland und den damit verbundenen Einschränkungen sowie drei Monate später, als ein großer Teil der virusbedingten Beschränkungen aufgehoben war. Sie geben Aufschluss darüber, wie sich das Verhalten der deutschen Zuschauer durch das Aufkommen des Coronavirus verändert hat – und welche Rolle die jeweilige individuelle „Corona-Betroffenheit“ dabei spielte. Eine zentrale Erkenntnis ist: Corona hat zumindest in einigen Bereichen wie ein Brandbeschleuniger für den digitalen Wandel gewirkt. Nicht nur junge, sondern auch ältere Personen haben ihre bestehenden Handlungsmuster durchbrochen und den Weg ins Internet und zum digitalen Medienkonsum gefunden. Zuschauer von 50 Jahren oder älter haben ihre Zeit mit Abo-Streaming-Angeboten um durchschnittlich mehr als 15 Prozent gesteigert – die immensen weltweiten Zuwächse, die Netflix (plus 26 Millionen neue Abonnenten in der ersten Jahreshälfte!) und andere Abo-Streamer vermeldet haben, dürften auch darauf zurückzuführen sein. Bei traditionellen Medienanbietern hingegen bedeutete Corona vor allem Einbußen bei Werbeeinnahmen: Das ZDF berichtet von Werbeeinbußen um −25 Prozent für April, die RTL-Mediengruppe von Einbrüchen von bis zu −40 Prozent im zweiten Quartal des Jahres 2020.
Was war ausschlaggebend für die Veränderung der Mediennutzung? Für die einzelnen Medienformate lauten die Kern-Erkenntnisse wie folgt:
- Mehr zuhause bedeutet vor allem mehr Streaming
Streaming hat über alle coronabedingten Lebensumstände hinweg zugenommen. Insbesondere Personen, die aufgrund von Corona vermehrt zu Hause sind, deutlichmehr arbeiten oder weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen, haben ihren Streaming-Anteil im persönlichen Mediamix erhöht.
- Lineares TV profitiert nur einegschränkt – und Free-TV-Mediatheken (fast) gar nicht
TV verliert vor allem bei den Personen, deren Arbeitsalltag stark von Corona betroffen ist, sowie bei denjenigen, die vermehrt zu Hause sind. Lediglich jene Zuschauer, die mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, haben ihren Free-TV-Anteil über den ersten Lockdown hinaus erhöht. Vermehrt zu Mediatheken haben Personen gegriffen, die coronabedingt deutlich weniger Zeit mit ihren Kindern verbrachten – ansonsten können die Mediatheken der Free-TV-Sender von der Corona-Betroffenheit nicht profitieren.
- Pay-TV verliert – trotz Wiederanpfiff der Bundesliega
Unsere Daten zeigen, dass Pay-TV ebenfalls zu den Verlierern im Corona-Frühjahr gehört, und zwar größtenteils unabhängig von der Betroffenheit der einzelnenZuschauer. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil die obersten deutschen Fußballligen ihren Spielbetriebvor unserer zweiten Erhebungswelle wiederaufgenommen hatten.
- YouTube gewinnt – digitaler und kostenloser Zeitvertrieb in Pandemiezeiten
YouTube hingegen wird nach Ende der Beschränkungen vermehrt genutzt – insbesondere von denjenigen, die deutlich weniger Zeit mit Arbeiten oder ihren Kindern verbracht haben. Auch Personen mit großen Zukunftssorgen sind nun vermehrt bei YouTube anzutreffen. Verloren hat YouTube lediglich bei jenen, die wesentlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbracht haben.“
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