Ein gemeinwohlorientiertes Kommunikationsnetzwerk

Ein Debattenbeitrag zum zeitgemäßen Auftrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
08.03.2021. Von Prof. Dr. Karola Wille, Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR)
Die Verfechter einer großen Freiheit in der Informationsflut übersehen: Zum Navigieren im großen Meer der Internetinformationen sind Mittel der Orientierung erforderlich. Diese Aufgabe übernehmen in der Google- und Facebook-Welt der neuen globalen Tech Industrie mit ihrer KI-Maschinerie Algorithmen. Sie steuern uns über personalisierte Nutzungsvorschläge. Diese Mechanismen sind auch Teil des Erfolges der global agierenden Streaming Anbieter wie Netflix, Amazon oder Disney, die auch in Europa immer stärkere Marktanteile erobern. Wir wissen zugleich: Ersetzt die algorithmenbasierte Inhaltsauswahl die journalistische Inhaltsauswahl, verstärkt dies die gesellschaftlichen Trends der Polarisierung, Fragmentierung und Radikalisierung.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ergriff im Urteil zum Rundfunkbeitrag im Jahr 2018 die Chance, sich erstmals vertieft mit den Folgen dieser Entwicklung zu beschäftigen. Die Richterinnen und Richter analysierten, dass die Angebote im Internet und in den sozialen Netzwerken – wie zum Beispiel Facebook, Twitter oder andere – gerade nicht auf die Herstellung von Meinungsvielfalt ausgerichtet sind. Vielmehr gehe es darum, die Verweildauer der Nutzer zu maximieren und den Werbewert der Plattform für die Kunden zu erhöhen. Mit Hilfe von Algorithmen würden Inhalte gezielt auf Interessen und Neigungen der Nutzerinnen und Nutzer zugeschnitten. Und weil wir uns alle nur zu gern in unseren Meinungen und Ansichten bestätigen lassen, führe das notwendig zur Verstärkung gleichgerichteter Meinungen. Allein der ökonomische Wettbewerb werde die gebotene Vielfalt nicht hervorbringen. Im Gegenteil: Soziale Netzwerke verstärken qua Geschäftsmodell falsche Informationen und erzielen so mit Desinformation Profit. Die Folge: Das kommunikative Spalten in gesellschaftliche Gruppen, die sich nicht mehr zuhören wollen, die einander nicht mehr vertrauen und die in verschiedenen Wirklichkeiten leben. All dies ist im höchsten Maße demokratierelevant. Wenn es kein gemeinsames Verständnis der Realität mehr gibt, keine gemeinsame Faktenbasis, dann gibt es auch keinen Austausch und keinen Diskurs und keinen nach den Spielregeln der Demokratie ausgetragenen transparenten Streit über die Lösung gemeinsamer gesellschaftlicher Probleme. Das Gericht hielt deshalb nicht nur an dem Konzept der dienenden Rundfunkfreiheit fest, sondern ging sogar davon aus, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine wachsende Bedeutung bei der Sicherung der Meinungsvielfalt in der digitalen Kommunikationswelt zukomme. Vor dem Hintergrund der Risiken, die von der Netz- und Plattformökonomie für das Diskursmodell des Grundgesetzes ausgehen, gehe es darum, „ein vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht“ zu bilden.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter haben wiederholt dargelegt, dass Akteure, die primär ökonomischen Anreizen folgen, damit auch einer anderen Entscheidungsrationalität unterliegen. Sie orientieren sich am Geschmack bestimmter, vor allem werberelevanter, Zielgruppen. Die öffentlich-rechtlichen Medien hingegen müssen in ihrem Angebot die Vielfalt der in einer Gesellschaft verfügbaren Informationen, Erfahrungen, Werthaltungen und Verhaltensmuster abbilden. Nicht zuletzt die Coronakrise hat erneut verdeutlicht, wie wichtig auf nachprüfbaren Fakten beruhende, verlässliche und wahrhaftige Informationen waren und sind. Dazu gehört auch die Bereitschaft und Fähigkeit, Tatsachen von Meinungen zu unterscheiden. Aber selbst wenn es um Leben und Tod in der Coronakrise geht, scheint mittlerweile in Teilen der Gesellschaft keine Verständigung auf eine gemeinsame Faktenbasis mehr möglich.
„Vor dem Hintergrund der Risiken, die von der Netz- und Plattformökonomie für das Diskursmodell des Grundgesetzes ausgehen, geht es darum, ein vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden.“
Wie aber soll die von Karlsruhe gewünschte Medienordnung im digitalen Zeitalter aussehen? Die Medienpolitik hat auf diese Frage lange Zeit keine Antwort gefunden. Nach intensiven Verhandlungen im Länderkreis ist es dann doch gelungen, einen Staatsvertrag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland zu verabschieden. Erstmals unterliegen auch Intermediäre – wie Suchmaschinen, Videoportale oder soziale Netzwerke – einer an dem Vielfaltsziel ausgerichteten rundfunkrechtlichen Regulierung. Der Mediengesetzgeber will der Gefährdung der Vielfalt und dem Phänomen der überreizten Debattenkultur u. a. dadurch entgegentreten, dass Angebote im Internet, die regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen zum Inhalt haben und deren besondere Meinungsrelevanz vermutet wird, zur Einhaltung journalistischer Standards verpflichtet werden. Dabei darf die Reformdiskussion aber nicht stehen bleiben. Es bleiben Fragen grundsätzlicher Art: Wie sichern wir, dass Demokratie auch im Netz-Zeitalter funktioniert? Wie ermöglichen wir ein digitales Informationsökosystem, das unsere Gesellschaft gegen die destabilisierenden und spaltenden Folgen der sozialen Netzwerke immunisiert? Wie kann angesichts der digitalen fundamentalen Veränderungen ein zeitgemäßer öffentlich-rechtlicher Rundfunk aussehen, der ein solches „vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht“ darstellt? Getrieben wird die Diskussion um die „zeitgemäße“ Formulierung des Auftrags durch das veränderte Mediennutzungsverhalten. Denn mehr und mehr Menschen holen sich heute ihre Informationen oder vermeintliches Wissen aus der schier unendlichen Weite des Internets, wo sie inzwischen häufig auch auf quer denkende Wissenschaftsverweigerer und Verschwörungspropheten treffen.
Gemeinwohlorientiertes Kommunikationsnetzwerk als zeitgemäßes Gegengewicht
Ein zeitgemäßer Auftrag an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als „Gegengewicht“ wäre die fortgeschriebene Entwicklung der Rundfunkanstalten zu einem gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk, das aus Radio-, Fernseh- (also lineare Audio- und Videoangebote) und Telemedienangeboten besteht und einen offenen und freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildungsprozess für alle ermöglicht. Im Kern geht es dabei um die Schaffung eines gemeinwohlorientierten öffentlichen Kommunikationsraums, um Netzwerkbildung und Knotenpunkte und eine weitere Flexibilisierung der Angebotsvorgaben, Qualität und Dialog, um Transparenz der journalistischen Arbeit, um Innovation und Effizienz.
„Ein zeitgemäßer Auftrag an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als ‚Gegengewicht‘ wäre die fortgeschriebene Entwicklung der Rundfunkanstalten zu einem gemeinwohlorientierten Kommunikationsnetzwerk.“
Leitidee ist die Schaffung eines gemeinsamen, offenen digitalen Kommunikationsraums, der Gemeinwohlzielen, das heißt den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft verpflichtet ist. Vergleichbar der antiken Agora, ein allen Menschen gleichermaßen zugänglicher Ort, in dem die gemeinsamen Belange debattiert werden. Nur ist dieser Ort jetzt digital. In einer Kommunikationswelt, in der die Kommunikation entgrenzt und die Öffentlichkeit immer stärker fragmentiert sind, ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk aufgrund seiner hohen Akzeptanz und Relevanz in weiten Teilen unserer Gesellschaft in der Lage, das gesellschaftliche Gespräch zu organisieren und einen gesellschaftlichen Verständigungsprozess zu ermöglichen. Allein der ARD-Medienverbund erreicht täglich mit seinen Fernseh-, Radio und Telemedienangeboten beinahe 80 Prozent der gesamten Bevölkerung ab 14 Jahren in Deutschland.
Der Gesetzgeber hat 2019 mit dem 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wichtige Weichen gestellt, um dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen eigenständigen öffentlichen Auftrag im Telemedienbereich zu erteilen. Telemedien sind nicht mehr Anhängsel des linearen Programms. Jetzt können öffentlich-rechtliche Anstalten auch originäre Inhalte für das Netz entwickeln. ARD, ZDF und Deutschlandradio sollen Telemedien miteinander vernetzen, insbesondere durch Verlinkungen. Sie sollen auch zu Inhalten leiten, die Einrichtungen der Wissenschaft und Kultur anbieten. Wenn das publizistische Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein wirksames „Gegengewicht“ zu den auf Datengenerierung und Klickraten getrimmten kommerziell getriebenen Angeboten globaler Plattformen bilden soll, muss es seine Reichweite und Relevanz im Netz vergrößern. Es ist durch das Medienrecht dazu angehalten, die eigenen Telemedienangebote miteinander zu verlinken. Die Verknüpfung kann aber nur ein erster Schritt sein, um einen offenen, Gemeinwohlzielen verpflichteten Kommunikationsraum zu etablieren. Die Rundfunkanstalten müssen sichtbare Knotenpunkte bilden und Angebote stärker zu einem „Gemeinsamen“ bündeln, in dessen Folge sich ein relevantes Kommunikationsnetzwerk im Sinne des „Gegengewichtsmodells“ entwickeln kann. Innerhalb dieses Netzwerks müssen den Bürgerinnen und Bürgern dann Möglichkeiten gegeben werden, neben der reinen Rezeption der Inhalte auch in einen Diskurs hierüber einzutreten, mit anderen Menschen genauso wie mit den Medienschaffenden. In einem solchen Kommunikationsraum erfolgt der für die Demokratie so wichtige gesellschaftliche Austausch unterschiedlicher Meinungen und Argumente.
Alle Bundesländer haben 2015 eine Weichenstellung für ein erstes Content-Netzwerk vorgenommen. ARD und ZDF sind beauftragt, „funk“ als Netzwerk für 14-29-Jährige anzubieten. Es informiert, orientiert und unterhält. Heute kommen funk-Videos in den Mediatheken von ARD und ZDF und auf Plattformen wie Youtube auf mehrere Millionen Abrufe – eine beindruckende Erfolgsgeschichte. Die ARD hat mit ihrer Digitalagenda und dem Fokus auf fünf herausgehobene Digitalangebote erste Grundlagen geschaffen, um aus einem crossmedialen föderalen Medienverbund, ein Kommunikationsnetzwerk zu entwickeln. Die ARD-Mediathek, die Audiothek, Tagesschau und Sportschau sowie der KiKA sind digitale Produkte und zugleich solche Knotenpunkte, die eng miteinander vernetzt weiterentwickelt werden. Auch funk ist dementsprechend Knotenpunkt und zugleich integriert in die ARD- und ZDF-Mediathek. Auch die Vernetzungen der ARD-Digitalangebote mit den Angeboten des ZDF, wie der ZDF-Mediathek, oder auch der Deutschlandfunk-Audiothek sind in einem solchen Kommunikationsnetzwerk sinnvollerweise weiterzuentwickeln. Das stärkt die Gegengewichtsfunktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und ist im Interesse der Nutzerinnen und Nutzer. So ist die geplante neue digitale Gemeinschaftseinrichtung Kultur als vernetztes Angebot der ARD mit ZDF und Deutschlandradio konzipiert.
„Leitidee ist die Schaffung eines gemeinsamen, offenen digitalen Kommunikationsraums, der Gemeinwohlzielen, das heißt den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft verpflichtet ist.“
Die vernetzten Knotenpunkte sollen die Vielfalt in der Abbildung der gesellschaftlichen Wirklichkeit sichern. Sie sind zugleich Austauschorte für gesellschaftlichen Diskurs, mit dem Ziel Diskursqualität und offene Debattenkultur zu sichern. Sie sind auch Vertrauensanker durch Transparenz hinsichtlich der hohen Qualitätsmaßstäbe. Sie befördern zugleich die effiziente und synergetische Bündelung und die Arbeitsteilung im Entstehen der Angebote und vereinfachter Strukturen. Bereits heute hat die ARD tiefgreifende Strukturreformen dazu realisiert. Die gemeinsame technologische Plattform für die ARD-Mediathek oder eine einheitliche IT-Strategie in unserem föderalen Verbund stehen exemplarisch dafür. Ein zeitgemäßer funktionaler Auftrag beinhaltet auch in Zukunft Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung. Entscheidend sind allerdings die Unverwechselbarkeit, die Exzellenz, die Relevanz der Angebote sowie ihr gesellschaftlicher und individueller Nutzen. Dies kann beispielsweise durch transparente Verfahren zur Qualitätssicherung oder durch systematisches Feedback erfolgen. Die Gemeinwohl-Ausrichtung des gesamten Netzwerkes muss das Fundament der funktionalen Beauftragung sein.
Das Mediennutzungsverhalten ist in einem ständigen Fluss. Die digitale Transformation zwingt immer mehr zu schnellen Anpassungen. Die Anstalten brauchen deshalb generell mehr Spielräume, um sich schneller an neue publizistische Herausforderungen und Veränderungen im Nutzungsverhalten anzupassen. Derzeit ist noch im Einzelnen vorgeschrieben, welche linearen Programme im Fernsehen und im Hörfunk zu veranstalten sind. Angesichts der rasanten Entwicklung auf den Medienmärkten ist dieser Regelungsansatz auf seine Zeitgemäßheit zu überprüfen. Lineare Programme sollten je nach den Veränderungen im Mediennutzungsverhalten auch durch Telemedienangebote ersetzt werden können. Insofern muss ein solches Kommunikationsnetzwerk eine Kombination aus vernetzen linearen und nonlinearen Angeboten beinhalten mit dem Ziel, für alle Menschen in der Gesellschaft Inhalte bereitzustellen und den gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Gerade für Letzteres braucht es relevante und reichweitenstarke Telemedienangebote, da Kommunikation zwingend einen Rückkanal braucht, den das Lineare nicht bietet. Dies schließt ein, dass der Gesetzgeber weitere Vorgaben zu funktionalen Zielen macht. Beispielsweise könnte dies die Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der digitalen Gesellschaft bzw. auch interaktive Kommunikation ermöglichen.
Wichtige Mittel zur Orientierung im Netz sind auch das Teilen von Inhalten sowie personalisierte Empfehlungssysteme. Dabei darf der Fokus der Personalisierung nicht auf einer Verengung und Zuspitzung des Rezeptionsverhaltens liegen, sondern sollte im Gegenteil auf ein Aufspannen eines breiten Inhalte- und Diskursraums in Form von vielfältigen Inhalten, Themen, Genres, Meinungen, die ein öffentlich-rechtliches Kommunikationsnetzwerk verfügbar macht, abzielen. Sie müssen gemeinsame Informationen vermitteln, aber auch verschiedene Meinungen und Diskursgrundlagen schaffen. Dies ist die Basis dafür, dass überhaupt „Zusammenhalt und Zusammenhang“ entstehen. Wenn diese Erfahrung nicht gemacht werden kann, zerfällt das „Gemeinsame im Gemeinwesen“. Um das Diskursmodell im Grundgesetz unter den Bedingungen digitaler Kommunikation zur Geltung zu bringen, braucht es auch Innovationen für die öffentliche Meinungsbildung. Angesichts der neuen Formen der kollektiven Willensbildung über das Internet und dem strukturellen Wandel der Öffentlichkeit müssen neuartige mediale Brücken und Scharniere entwickelt werden, die den Dialog zwischen unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen unterstützen – ja ihn sogar erst (wieder) herstellen, wo er schon verloren gegangen ist.
Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Gemeinwohlrelevanz der Medien ist die journalistische Transparenz. Sie ist angesichts des derzeitigen Ausmaßes von Desinformation und Verschwörungsmythen unverzichtbar. Desinformation, gezielt oder fahrlässig, hat das Potenzial, eine Demokratie nachhaltig zu gefährden. Zu erklären, wie Journalistinnen und Journalisten arbeiten, spielt deshalb eine sehr wichtige Rolle für das Vertrauen in die Medien. Das journalistische Handeln muss nachvollziehbar und überprüfbar sein, insbesondere, wenn es unsichere Datenlagen und Widersprüchlichkeiten gibt. Dazu gehört auch, wirtschaftliches Handeln transparent und nachvollziehbar zu machen. Die Gemeinwohlorientierung der öffentlich-rechtlichen Medien dient seit Gründung der Bundesrepublik dem Demokratiemodell des Grundgesetzes. Dies gilt es auch im Zeitalter des Internets zu erhalten und zu verteidigen. Hierzu bedarf es einer energischen Weiterentwicklung hin zu einem gemeinwohlverpflichteten Kommunikationsnetzwerk.