„Mit Mittelware durchmogeln war schon vor der Pandemie vorbei“

von am 29.06.2021 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Filmwirtschaft, Kreativwirtschaft, Kulturpolitik, Medienwirtschaft, Plattformen und Aggregatoren

„Mit Mittelware durchmogeln war schon vor der Pandemie vorbei“
Dr. Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino, Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH in Berlin und der Programmkino Ost GmbH in Dresden

Kinobetreiber fordern schnell bundeweit einheitliche Regelungen für die Wiedereröffnung der Kinos

29.06.2021. Interview mit Dr. Christian Bräuer, Vorstandsvorsitzender der AG Kino und Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH in Berlin und der Programmkino Ost GmbH in Dresden

Am 1. Juli wollen die Kinos bundesweit wieder öffnen. Bereits Mitte Mai hatten sich die Kino- und Verleihverbände auf diesen langfristig planbaren Öffnungstermin verständigt. Dennoch fehlen in den meisten Bundesländern bis heute verbindliche Planungsparameter für die Kinos. Aktuell sind die Kinos mit einem föderalen Flickenteppich von Auflagen konfrontiert. Die Anpassung der Auflagen erfolgt oft in spontanen, wenig transparenten Verfahren, die den Kinos keine Planungssicherheit ermöglichen. Aus Sicht der AG Kino hat die Regelungsflut nur noch wenig mit Infektionsschutz zu tun, den alle Kinobetreiber ausdrücklich befürworten. Es seien willkürliche politische Momententscheidungen, die ein Engagement vorgaukeln sollen, zunehmend rechtlich fragwürdig sind und das verantwortliche Engagement der privatwirtschaftlichen Kulturanbieter geringschätzen, so der Kino-Verband. „Der Trend zur Konzentration von Marktmacht hat sie beschleunigt, auch wenn er vorher schon vorhanden war. Wir beobachten auf Studio-und Verleih-Seite, dass immer weniger Entscheidungen überhaupt noch in Deutschland getroffen werden.“ So Dr. Christian Bräuer. Für den globalen Markt mag das alles funktionieren, aber wenn nur noch fünf Unternehmen bestimmten, was wir für Geschichten sehen –die auch noch kompatibel mit jeweiligen Produktplattformen sein müssten –gehe der Menschheit etwas verloren. Die essenzielle Herausforderung sei daher ein moderner Umgang mit Plattformen und Marktmacht auf Seiten des Gesetzgebers.

medienpolitik.net: Herr Bräuer, wie sind die Kinos auf den 1. Juli vorbereitet?

Bräuer: Der 1. Juli wurde mit Bedacht gewählt, um den Kinos und Verleihern den Vorlauf zu geben, die Filme und Programme vorzubereiten und auch organisatorisch alle Vorkehrungen zu treffen. Die Kinos sind bereit und die Startliste ist beeindruckend, von daher ist dies zumindest sehr gut aufgegangen und das Publikum hat die Qual der Wahl. Nicht ganz so einfach sieht es mit den Auflagen aus –zumindest bundesweit betrachtet. Obgleich wir auch angesichts der Erfahrungen mit dem föderalen Flickenteppich im vergangenen Jahr den Fortschritt der Impfkampagne antizipierend wieder einen langen Vorlauf wählten, hätten wir uns bundesweit vergleichbare Auflagen gewünscht, die wir dem Publikum auch erklären können. Wir hoffen, hier ziehen bald alle Länder nach. Ein Abstand von einem Meter zwischen Besuchergruppen, Maskenpflicht, sobald man aufsteht, ein funktionierendes Lüftungskonzept und verlässliche Kontaktverfolgung stehen für sicheres Kino. Spannend ist die Frage, wie gut die Kinos angesichts der rapiden Marktveränderungen auf die postpandemische Zeit vorbereitet sind. Die Geschäftsmodelle der Kinos stehen sicher vor einem Transformationsprozess. Wie rasch die Anpassung gelingt, werden wir erst in einiger Zeit wissen.

medienpolitik.net: Stehen ausreichend zugkräftige Filme zur Verfügung?

Bräuer: Filme gibt es in Hülle und Fülle. Wir starten mit dem großen Oscar-Gewinner „Nomadland“ und in den ersten Wochen stehen neben den weiteren Oscar-Abräumern wie „Der Rausch“, „The Father“ oder „Promising Young Woman“ auch die deutschen Berlinale-Beiträge „Fabian“, „Ich bin dein Mensch“ sowie „Nebenan“ auf dem Programm. Und nächste Woche beginnt dann auch schon das Filmfestival in Cannes. Für das Publikum gibt es also eine beeindruckende Vielfalt zu entdecken. Die große Frage ist, ob die Filme auch zum Publikum durchdringen. 88 Filme stehen allein im Juli in der Startliste. Die Gefahr der Desorientierung ist da schon groß. Das wird erstmal auch so bleiben. Allein über 260 in Deutschland produzierte Werke sollen in den kommenden Monaten in die Kinos. Schon vor der Pandemie haben wir die Filmflut beklagt. Jahr für Jahr haben wir gesehen, dass mehr Filme nicht zu mehr Besuchern führen. Oder wie es Kulturstaatsministerin Grütters so treffend beschrieb, dass Investition und Ertrag nicht im Einklang stehen. Mit Mittelware durchmogeln war schon vor der Pandemie vorbei. Das gilt jetzt noch mehr. Kurzfristig ist der Ansatz der Filmförderungen also richtig, Filme, die nicht ins Kino gehören, von der Kinoauswertung zu befreien. Doch so weiterzumachen ist mittelfristig nicht ausreichend, wenn die grundlegenden Probleme dahinter ungelöst bleiben, die uns erst zu dieser Entscheidung nötigen. Daher muss die Situation jetzt auch als Warnsignal verstanden werden, die überfällige Strukturdebatte jetzt auch konsequent zu führen, einen holistischen Ansatz von der Idee bis zum Start im Kino zu verfolgen und Förderung auf diejenigen zu konzentrieren, die Kino können und Kino wollen.

„Die essenzielle Herausforderung ist daher ein moderner Umgang mit Plattformen und Marktmacht auf Seiten des Gesetzgebers.“

medienpolitik.net: Was ist gegenwärtig für die Kinos das größte Problem?

Bräuer: Kurzfristig steht die wirtschaftliche Erholung im Vordergrund. Dazu zählen verlässliche Parameter seitens der Politik und keine erneute Schließung. Der Sonderfonds Kulturveranstaltungen ist sicherlich eine gute Stütze in der Anfangszeit. Wichtig ist in dessen Anschluss allerdings eine echte Anlaufhilfe, damit nicht der erste stärkere Gegenwind die mittelständischen Kinos umwirft, sondern diese ihre Geschäftsmodelle weiterentwickeln. Denn diese, und das ist sicherlich die eigentliche Herausforderung, sind angesichts der voranschreitenden Bündelung von Marktmacht unter Druck. Die Kinos müssen sehen, wie sie mit alten wie neuen Partnern zu fairen Geschäftsbeziehungen kommen. Dies wird gelingen, wenn wir Kino weiter als Entität verstehen und die Politik Kino als Kulturort und Diskursraum angemessen schützt. Zugleich müssen die Kinos sich weiterentwickeln und die digitalen Services verbessern. Generell bin ich optimistisch. Kinos haben sich über die Jahrzehnte immer wieder veränderten Bedingungen angepasst. Diesen Innovationsgeist beobachte ich auch jetzt gerade bei den Filmkunsttheatern, die den Blick nach vorne richten angetrieben durch die Mission, ihrer Nachbarschaft die besten Filme aus aller Welt auf die große Leinwand zu präsentieren. Schon vor der Pandemie wurde angesichts der Filmflut immer stärker das Kino selbst zur Marke, immer öfter Events um Filme veranstaltet und mehr alternative Programmangebote geschaffen. Die Kinos haben ihre Strukturen professionalisiert und die Zusammenarbeit untereinander ausgebaut. Diesen Weg müssen wir nun konsequent weiterverfolgen.

medienpolitik.net: Lässt sich schon abschätzen, wann die Kinos den wirtschaftlichen Verlust durch die Pandemie in etwa wieder ausgeglichen haben werden?

Bräuer: Noch sehen wir nicht endgültig ab, in welchem Umfang trotz der Überbrückungshilfen und des Sonderfonds Kulturveranstaltungen bei den Kinos Verluste verbleiben. Wir hoffen, diese bleiben überschaubar. Was allerdings fehlt sind die Überschüsse, aus denen Darlehen getilgt und Investitionen finanziert werden. Diese für die Eigenkapitalbildung so entscheidenden verlorenen Gewinne werden wir nicht mehr ausgleichen. Dies trifft gerade für Filmkunsttheater und Kinos im ländlichen Raum mit einem hohen gesellschaftlichen und kulturellen Engagement zu, die schon in Normalzeiten über Geschäftsmodelle verfügen, die nicht allein auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind. Daher ist für diese die nun angekündigte Aufstockung des Zukunftsprogramm I von herausragender Bedeutung.

medienpolitik.net: medienpolitik.net: Inwieweit waren die Sonderfonds und zusätzlichen finanziellen Mittel dennoch eine Hilfe?

Bräuer: Bislang trugen die Förderprogramme wie Schwimmflügel. Wir sind damit zwar nicht untergegangen, aber immer noch nicht an Land. Entscheidend wird sein, dass die Kinos rasch wieder auf eigenen Füßen stehen können, andernfalls besteht die Gefahr, dass sie der erste starke Gegenwind umbläst. Uns ist bewusst, dass es dazu ebenso zielgerichtete Förderprogramme auch in der ersten Phase der Postpandemie geben muss, wie sich die Kinos selbst die geforderte Transformation aktiv angehen müssen.

„Bislang trugen die Förderprogramme wie Schwimmflügel. Wir sind damit zwar nicht untergegangen, aber immer noch nicht an Land.“

medienpolitik.net: Die Zeit wurde auch für Modernisierungsmaßnahmen genutzt?

Bräuer: Dank des Zukunftsprogramm I, das zu Beginn der Woche der ersten Kinoschließung startete, haben die Kinos die Phasen der Lockdowns genutzt, um die Aufenthaltsqualität im Kino zu verbessern, die technische Ausstattung zu verbessern und die digitale Infrastruktur samt digitaler Services zu erweitern. Sicherlich zählt das Zukunftsprogramm I zu den erfolgreichsten Förderprogrammen und kann durchaus als logisches Gegenstück zum DFFF I gesehen werden. Zusammen bieten sie die Chance, nachhaltig zur erforderlichen Resilienz der deutschen Kinowirtschaft beizutragen.

medienpolitik.net: Wird die stärkere Nutzung der VoD-Plattformen einen großen Einfluss auf das Interesse an einem Kinobesuch haben?

Bräuer: Genauso sehr wie Zoom und Facetime über die letzten Monate uns nicht die Lust auf Treffen mit Freunden im echten Leben genommen haben, senkt eine stärkere Nutzung von VoD-Plattformen nicht die Lust aufs Kino. Aber natürlich werden die Leute selektiver und überlegen sich sehr genau, für welches Kinoerlebnis sie den Aufwand auf sich nehmen werden. Daher ist es umso wichtiger, dass Kino, Film und Gesamterlebnis stimmen.

medienpolitik.net: Von Kinobetreibern sind in jüngster Zeit einige Arthouse-Streaming-Plattformen gestartet worden, haben diese Plattformen eine Chance gegen die globalen Player?

Bräuer: Auch die York-Gruppe plant eine solche Plattform. Kein Arthouse-Kino kann mit der Marktmacht der globalen Player in direkte Konkurrenz treten, dieser Glaube wäre naiv. Selbst deutsche Streaming-Riesen straucheln ja in diesem Kampf. Entscheidend ist es eher, kreativ Lücken zu besetzen, die auf Globalität getrimmte Konzerne in lokalen Märkten hinterlassen. Das kann durchaus gelingen. In erster Linie ist es aber auch eine Maßnahme zur Publikumsbindung über den analogen Ort Kino hinaus. Kinos, denen die Gäste in ihrer Filmauswahl vertrauen, können sichere Anlaufstellen im Streamingüberfluss werden, insbesondere wenn die Zahl der Abo-Dienste weiter und weiter steigt.

„Vor der Pandemie haben wir in der Yorck-Gruppe nur ca. 15% unserer Tickets vorab online verkauft, nach dem ersten Lockdown waren es über 75%.“

medienpolitik.net: Nahezu 15 Monate dauert die Pandemie bereits, zweimal mussten die Kinos vollständig schließen, die andere Zeit konnten sie nur mit weniger Besuchern spielen. Lassen sich aus der Pandemie-Zeit schon Erfahrungen für die „Normalität“ ableiten?

Bräuer: Es verschiebt sich viel in den digitalen Raum. Dabei ist es schade, dass unter einer digitalen Revolution auch innerhalb der Branche scheinbar ausschließlich das Aufsetzen von Streaming-Angeboten verstanden wird, denn durch diese Verkürzung verpassen wir den Blick auf viele andere Entwicklungen im digitalen Raum. Vor der Pandemie haben wir in der Yorck-Gruppe nur ca. 15% unserer Tickets vorab online verkauft, nach dem ersten Lockdown waren es über 75%. Das hat massive Folgen, von der technischen Infrastruktur, der Abwicklung, Weiterentwicklung von E-Commerce-Standards und im Design, aber auch ganz klassisch im Kino vor Ort: wie lassen sich Foyers, Säle und Abläufe in einer solchen Welt neu denken? Mit diesem Thema beschäftigen wir uns derzeit intensiv. Gerade ältere Publikumsgruppen, die in den Jahren zuvor sehr digitalavers waren, haben nun nicht nur Smartphones, sondern auch Erfahrung im Umgang damit, weil sie mit der Familie während des Lockdowns gezoomt haben und im Kontakt geblieben sind. Früher hätten wir die fast ausschließlich an der Kasse persönlich beraten, welchen Film sie sehen sollen. Wenn sich immer mehr Kaufentscheidungen auf das Internet verlagern ist eine der größten Herausforderungen für Kinos, diesen Moment digital abzubilden. Ich denke nicht, dass Gäste gerade von kleinen Kinos vor Ort absolute Perfektion wie von E-Commerce-Riesen erwarten, wenn sie digitale Angebotenutzen. Aber sie werden trotzdem beispielsweise kein Verständnis mehr dafür aufbringen, warum sie Zuschläge und Aufpreise zahlen sollen, wenn sie ihre Tickets vorab online buchen.

medienpolitik.net: Wie wird die Pandemie die Kinolandschaft verändern?

Bräuer: Die Effekte der Pandemie wird der gesamte Medienmarkt noch auf Jahre bis Jahrzehnte spüren. Während wir in Europa noch damit beschäftigt sind, die Folgen der Pandemie abzufedern, beobachten wir in den USA eine wahnsinnige Marktdynamik. Der Trend zur Konzentration von Marktmacht hat sie durchaus beschleunigt, auch wenn er vorher schon vorhanden war. Wir beobachten auf Studio-und Verleih-Seite, dass immer weniger Entscheidungen überhaupt noch in Deutschland getroffen werden. Zudem wird übernommen und fusioniert, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Für den globalen Markt mag das alles funktionieren, aber wenn nur noch fünf Unternehmen bestimmen, was wir für Geschichten sehen –die auch noch kompatibel mit jeweiligen Produktplattformen sein müssen –geht uns als Menschheit etwas verloren. Die essenzielle Herausforderung ist daher ein moderner Umgang mit Plattformen und Marktmacht auf Seiten des Gesetzgebers. Eine der erfreulichsten Nachrichten der letzten Wochen war für uns daher die Ernennung von Lina Khan als Vorsitzende der FTC in den USA. Khan hat brillante Analysen von moderner Marktmacht durch Plattformen verfasst. Ihre Ernennung an die Spitze der Handelskommission sendet ein wichtiges Signal, von dem wir uns nur wünschen können, dass es hierzulande von der nächsten Bundesregierung gehört werden wird. Es sind spannende Zeiten mit großen Herausforderungen für den mittelständischen Markt. Doch unser Glaube ans Kino, an die Energie des Geschichtenerzählens im öffentlichen Raum, an Stoffe auch jenseits des Mainstreams und die Kraft der lokalen Gemeinschaften ist ungebrochen.

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