„Der Programmauftrag gilt auch für ältere Zielgruppen“

von am 26.07.2021 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Gesellschaftspolitik, Journalismus, Kreativwirtschaft, Medienwirtschaft, Medienwissenschaft, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

„Der Programmauftrag gilt auch für ältere Zielgruppen“
Prof. Dr. sc. pol. Erika Bock-Rosenthal, Vorsitzende des Initiativkreises öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Köln

Kritik an geplanten Programmänderungen im Ersten hält an

26.07.2021. Interview mit Prof. Dr. sc. pol. Erika Bock-Rosenthal, Vorsitzende des Initiativkreises öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Köln

Es gab in den vergangenen Tagen von verschiedenen Interessensgruppen und Verbänden Kritik an Überlegungen der neuen ARD-Programmdirektorin Christine Strobl, die Programmstruktur des Ersten zu verändern. Zu den Kritikern gehört auch der Initiativkreis öffentlich-rechtlicher Rundfunk Köln. So appellieren die Mitglieder an die ARD, die Pläne der Verlegung des Weltspiegels und der Reduzierung der Auslandsberichterstattung fallen zu lassen. Wörtlich heißt es in dem Schreiben: „Dabei handelt es sich nicht um einfache Programmentscheidungen sondern um die Gefährdung von journalistischen Rahmenbedingungen für die Zukunft. In der Epidemie ist uns allen deutlich vor Augen geführt worden, wie sehr wir auf die internationale Vernetzung angewiesen sind. Die Globalisierung wird sich nicht zurückdrehen lassen. Und der europäische Zusammenhalt muss immer wieder neu diskutiert und gestaltet werden. Die Auslandsberichterstattung im Zuge des digitalen Umbaus zurück zu fahren ist daher nicht sinnvoll.“ Dem Initiativkreis, der 1994 gegründet worden ist, gehören unter anderem emeritierte Professoren, ehemalige Mitarbeiter des WDR und Mitglieder des WDR-Rundfunkrates an. Fragen zum Appell an Prof. Dr. sc. pol. Erika Bock-Rosenthal, Vorsitzende des Initiativkreises.

medienpolitik.net: Frau Bock-Rosenthal, wie grundsätzlich ist Ihre Kritik an den geplanten Programmänderungen der ARD?

Bock-Rosenthal: Ich wünsche mir, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk aus dem digitalen Transformationsprozess gestärkt hervorgeht. Mir geht es nicht um einzelne Programmänderungen sondern um die Moderation und Strukturierung des Übergangs von der linearen Welt im Fernsehen in die digitale Welt der Mediatheken, Streamingangebote und Netzwerke. Es ist sicher nicht einfach die Rahmenbedingungen für beide Seiten, den klassischen Rundfunk mit den Fernseh- und Radioangeboten auf einer Seite mit den vielfältigen Internetangeboten auf der anderen Seite so auszubalancieren, dass der öffentliche Auftrag weiterhin erfüllt wird und alle gesellschaftlichen Gruppen erreicht werden können. In dem ganzen Transformationsprozess wäre deutlich mehr Transparenz wünschenswert.

medienpolitik.net: Sie üben Kritik an Plänen der ARD, anscheinend die Auslandsberichterstattung zu reduzieren und den Weltspiegel zu verschieben. Es gibt neben der Auslandsberichterstattung der ARD auch noch die des ZDF. Reicht das nicht aus?

Bock-Rosenthal: Hierzu ein klares „Nein“. Zur Begründung hier nur die wichtigsten Aspekte: Alle kritischen Stimmen sind sich einig, Auslandsberichterstattung wird immer wichtiger angesichts des Klimawandels und der Pandemie, die uns noch lange begleiten wird. Allein die wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Globalisierung zwingt uns, sozialen Wandel und politische Bewegungen in anderen Ländern wahrzunehmen und einzuschätzen. Dazu brauchen wir verlässliche Hintergrundberichterstattung auch über den Alltag der Menschen und nicht nur über spektakuläre Ereignisse.

Dass wir in Deutschland die ARD und das ZDF haben, gründet sich auf den Konsens der Bundesländer, dass zwei gemeinwohlorientierte öffentlich-rechtliche Systeme notwendig sind, um die Vielfalt des gesellschaftlichen Diskurses in unserer Demokratie abzusichern. Diese Absicherung ist angesichts der Verwerfungen, die die von mächtigen Konzernen getragene Internetkommunikation mit sich bringt, notwendiger denn je. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies in seiner Entscheidung aus dem Jahre 2018 auf eindrückliche Weise deutlich gemacht. Ich gehe daher davon aus, dass es auch weiterhin einen Konsens der Ländergemeinschaft für eine Beauftragung des ZDF-Vollprogramms, des Ersten und der dritten Programme gibt. In diesen beiden Vollprogrammen ist die Auslandsberichterstattung ein unverzichtbarer Bestandteil, denn sie gehört zum Informationsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Die Krisen dieser Welt und die Globalisierung der Wirtschaft zeigen uns ja gerade, wie eng die Geschicke unserer Gesellschaft mit dem weltweiten Geschehen verwoben sind. Die weltweite Ausbreitung des Coranavirus, mit seinen Rückwirkungen auf unsere Gesellschaft, aber auch der Klimawandel machen uns doch gerade auf erschreckende Weise deutlich, wie schnell politische Entscheidungen getroffen werden müssen, angesichts veränderter Gefahrenlage im Ausland. Nie war eine zuverlässige Auslandsberichterstattung wichtiger für unsere Demokratie als heute. Eine eventuelle Reduzierung der Auslandsberichterstattung, gar Schließungen der Auslandsstudios sind hierzu kontraproduktiv.

„Dass wir in Deutschland die ARD und das ZDF haben, gründet sich auf den Konsens der Bundesländer, dass zwei gemeinwohlorientierte öffentlich-rechtliche Systeme notwendig sind, um die Vielfalt des gesellschaftlichen Diskurses abzusichern.“

medienpolitik.net: Ihre Kritik ist ein Argument für eine gemeinsame Auslandsberichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Wäre das für Sie problematisch?

Bock-Rosenthal: Eine gemeinsame Auslandsberichterstattung von ARD und ZDF liefe nicht nur auf eine quantitative Verkürzung des öffentlich-rechtlichen Informationsangebots über das Auslandsgeschehen hinaus. Viel stärker würde sich der qualitative Verlust an Vielfalt bemerkbar machen. Wir alle haben doch z.B. im amerikanischen Wahlkampf zwischen ARD und ZDF hin und her geschaltet und geklickt. Unterschiedliche Redaktionen, die ihren Blick auf das Auslandsgeschehen richten, ermöglichen die Auswahl verschiedener Themen und eine Vielfalt journalistische Perspektiven auf eine Thematik. Das entspricht dem Demokratie- und Informationsauftrag des öffentlich-rechtlichen Systems und ist hierfür von essentieller Bedeutung.

medienpolitik.net: Auch der Medienstaatsvertrag verweist auf die „öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“ insgesamt. Warum sollten engere Kooperationen und eine gemeinsame Berichterstattung nur für den Sport gelten und nicht auch für politische Berichterstattung?

Bock-Rosenthal: Der Verweis auf die „öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten“ im Medienstaatsvertrag hat seinen Grund darin, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk insgesamt anderen und höheren rechtlichen Anforderungen unterliegt als der private Sektor. Daraus kann man keineswegs ableiten, dass ARD und ZDF programmlich gemeinsam berichten müssten. Die Kooperation beim Einkauf von Sportrechten insbesondere bei Großveranstaltungen ist ein Sonderfall. Um überhaupt eine Chance zu haben, angesichts der privaten Konkurrenz auf dem Rechtemarkt mithalten zu können, müssen ARD und ZDF beim Einkauf der Rechte gemeinsam auftreten und dann natürlich auch bei der Berichterstattung kooperieren. Das ist eine völlig andere Situation als bei der politischen Berichterstattung.

Da geht es um fachlich fundierte, journalistisch-professionelle Zugänge zu komplexen politischen Themen. Hier gibt es – wie bei anderen Themen auch – unterschiedliche Herangehensweisen, wie man ein Thema auswählt und erschließt, darstellt, einordnet und kommentiert. Dazu brauchen wir, um der Vielfalt des gesellschaftlichen Diskurses willen, unterschiedliche Redaktionen, und Angebote, die verschiedene Zielgruppen ansprechen. Die öffentliche-rechtlichen Medien sind frei von eigenen kommerziellen Interessen gesetzlich verpflichtet, die Vielfalt der Meinungen ausgewogen darzustellen, zur gesellschaftlichen Integration beizutragen und die Werte unserer Demokratie aktiv zu verteidigen.  Es sei daran erinnert, dass die Vielfaltsdefizite von privaten Veranstaltern nur als verfassungsrechtlich hinnehmbar erachtet werden, weil es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Eine gemeinsame Berichterstattung von ARD und ZDF kommt für den politischen Bereich daher nicht in Betracht.

medienpolitik.net: Warum sollte (muss) der Weltspiegel auf seinem angestammten Platz bleiben? Das ZDF-Auslandsjournal läuft von 22.30 Uhr bis 23.00 Uhr, wird aber auf ZDFinfo und in 3sat wiederholt. Warum ist das kein Weg für die ARD?

Bock-Rosenthal: Der Vollständigkeit halber möchte ich ergänzen, das ZDF bringt werktags um 16 Uhr regelmäßig heute: in Europa. Die Absicht, den Weltspiegel von seinem angestammten Platz in den späten Montagabend zu verlegen, ist nicht isoliert zu betrachten. Der Plan ist ja offensichtlich Teil eines Systems von Umstrukturierungen, die im Zuge der digitalen Transformation notwendig werden. Vieles deutet daraufhin, dass gerade im Bereich Ausland, Politik und Wissenschaft eine sinnvolle Präsentation in der Mediathek mit Sparmaßnahmen im linearen Bereich „erkauft“ werden soll. Außerdem besteht im Rahmen der Umstrukturierung der Auslandsberichterstattung die Befürchtung, dass Auslandsstudios geschlossen werden sollen – einmal geschlossen eröffnet man solche Einrichtungen nicht so schnell wieder. Der diskutierte Verlegungsplan der Auslandsberichterstattung in die Nachtschiene ist von hohem symbolischen Wert und wird von vielen als Geringschätzung empfunden. Es ist zu konzedieren, dass es im Übergang außerordentlich schwer ist, lineare und nicht lineare Angebote auszutarieren. Aber die reine Symbolkraft einer solchen Absicht ist nicht zu unterschätzen, zumal in Zeiten, in denen über eine Präzisierung des Auftrags der öffentlich-rechtlichen Medien im Rahmen der Novellierung des Medienstaatsvertrags nachgedacht wird. Auch das Bundesverfassungsgericht wird den Vorgang zweifellos in den Blick nehmen.

„Der diskutierte Verlegungsplan der Auslandsberichterstattung in die Nachtschiene ist von hohem symbolischen Wert und wird von vielen als Geringschätzung empfunden.“

medienpolitik.net: Die Nutzungsgewohnheiten ändern sich. Alle aktuellen Sendungen sind auch in der Mediathek zu finden, deren Nutzung gerade während der Pandemie enorm gewachsen ist. Hier kann der Weltspiegel problemlos abgerufen werden. Wo sehen Sie hier ein Problem?

Bock-Rosenthal: Natürlich ändern sich die Nutzungsgewohnheiten, und der öffentlich-rechtliche Rundfunk befindet sich schon mitten in der Transformation, um zukunftsfähig zu bleiben. Unter der Prämisse, dass Relevanz für öffentlich-rechtliche Themen immer weniger von linearen Sendeplätzen abhängt, werden die Mediatheken ausgebaut. Es ist begrüßenswert, wenn es den Programmverantwortlichen dabei nicht nur um eine Stärkung der Auslandsberichterstattung geht, sondern auch um eine Stärkung des politischen und investigativen Journalismus sowie der Berichterstattung über Wissenschaft und Wirtschaft. Man erhofft, mit längeren, monothematischen, eher dokumentarischen Formaten eine deutlich größere Relevanz in der Mediathek entfalten zu können als in der linearen Verbreitung. Aber dabei ist zu berücksichtigen, dass die Nutzung von Online-Medien altersabhängig ist. Und der Programmauftrag gilt auch für ältere Zielgruppen, die nicht einfach ins Internet mitwandern. Den Weltspiegel ins Internet zu verlegen, birgt vor diesem Hintergrund die Gefahr, die bisher treuen Zuschauer zu verlieren, ohne sich des Nutzungsverhaltens der neuen User sicher zu sein.

Vielleicht gibt es auch deshalb soviel Kritik, weil der Weltspiegel für ältere Menschen den Sonntag strukturiert und vor allem, weil er auch Überraschendes bringt, nach dem man nicht gesucht hat. Gerade bei der Auslandsberichterstattung ist der Mitnahmeeffekt beiläufiger Informationen im linearen Fernsehen sicher bedeutungsvoller als in der Inlandsberichterstattung. Jörg Lau hat in der ZEIT sehr schön formuliert, was er alles nicht vermissen möchte.

medienpolitik.net: Es gibt gegenwärtig sehr viel Kritik an den Reformplänen der neuen Programmdirektorin. Sehen Sie gegenwärtig grundsätzlich keine Notwendigkeiten für Programmreformen?

Bock-Rosenthal: Die digitale Transformation ist ein schwieriger Prozess, das muss man konzedieren. Die Herausforderung für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk besteht darin, die Digitalisierung der Medienangebote zu meistern und dabei auch die weiterhin analog orientierten Nutzergruppen zu bedienen und mitzunehmen. Wenn die Boulevardzeitung „Bild“ am 22. August Ihren eigenen TV-Sender startet und die privaten Fernsehsender RTL und ProSieben verstärkt auf Informationsangebote setzen und hierfür sogar Moderatoren beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk abwerben, geschieht das nicht ohne Grund. Untersuchungen zeigen, das Fernsehen gilt noch immer als Leitmedium für die politische Willensbildung.

Es gilt, darauf zu achten, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Rundfunk für alle bleibt und bei anstehenden programmlichen Umgestaltungen, alle Bevölkerungsgruppen –jung wie alt- mitzunehmen vermag, um seinen Auftrag als Medium und Faktor der öffentlichen und individuellen Meinungsbildung in der Demokratie bestmöglich zu erfüllen. Ich würde mir wünschen, dass die Verantwortlichen dies auch kommunizieren und für die Öffentlichkeit, für die die ARD da ist, in diesen wichtigen Fragen mehr Transparenz herstellen.

medienpolitik.net: Der Ausbau der Mediathek und die gemeinsame Plattformstrategie mit dem ZDF kosten Geld. Dieser digitale Umbau muss mit dem vorhandenen Beitrag geschehen. Wo sollte die ARD sparen, um das zu bewältigen?

Bock-Rosenthal: Die Prämisse der Frage, dass der digitale Umbau mit dem vorhandenen Beitrag zu geschehen hat, kann ich nicht nachvollziehen. Der digitale Umbau ist Bestandteil des Programmauftrags und der ist bekanntlich von den Landesgesetzgebern bedarfsgerecht zu finanzieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dem Auftrag und nicht umgekehrt. Der digitale Umbau ist sicher die größte Herausforderung, vor der die ARD je gestanden hat. Deshalb richtet sich mein Schlussappell an die Länder, gerade in dieser Umbauphase für eine angemessene Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu sorgen und nicht die digitale Transformation als Sparmaßnahme zu betrachten. Am Aufbau einer gemeinwohlorientierten öffentlich-rechtlichen Plattform, die auch für Hochschulen und Kultureinrichtungen offen sein sollte, könnte sich gerne auch der Bund beteiligen.

Prof. Dr. sc. pol. Erika Bock-Rosenthal, Dipl.-Volkswirtin

Nach dem Studium der Soziologie und Volkswirtschaft Mitarbeit in mehreren industriesoziologischen Forschungsprojekten an der Universität Münster, Promotion in Soziologie. 1976 Berufung an den Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster für das Lehrgebiet „Soziologie“. Umfangreiche sozialwissenschaftliche Veröffentlichungen. Hochschulpolitische Ämter; Dekanin des Fachbereichs Sozialwesen, Prorektorin für Lehre, Studium und Studienreform, Entwicklung und Leitung eines BLK-Modellstudiengangs „Pflegemanagement“, 1995 Gründungsdekanin des Fachbereichs „Pflege und Gesundheit“. Seit 2013 im Ruhestand. Von 2003 bis 2009 Mitglied des WDR-Rundfunkrats, Vorsitzende des „Ausschusses für Rundfunkentwicklung“ und stellvertretende Vorsitzende der „Kommission Drei-Stufen-Test“. Seit 2012 Vorsitzende des IÖR.

Print article