„Die Schließung von Kultureinrichtungen ist fahrlässig“

von am 24.11.2021 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Filmwirtschaft, Kreativwirtschaft, Kulturpolitik, Medienförderung, Medienwirtschaft

„Die Schließung von Kultureinrichtungen ist fahrlässig“
Christian Sommer, Präsident der SPIO

Kinos leiden erneut unter aktuellen Infektionsschutzverordnungen / Wieder Drehunterbrechungen bei TV-Produktionen

24.11.2021. Interview mit Christian Sommer, Präsident, Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO)

Christian Sommer, Präsident, Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) übt in einem medienpolitik.net-Interview scharfe Kritik an den aktuellen Corona-Maßnahmen. „Vor einem Jahr haben wir dafür gekämpft, dass in dem Katalog des Infektionsschutzgesetzes differenziert wird und Kulturveranstaltungen nicht mit Freizeitangeboten zusammengeworfen werden. Nun könnte der Gesetzgeber differenzieren, setzt aber Kulturveranstaltungen in die Gruppe von Einrichtungen und Betrieben, die leichter geschlossen werden können“, sagt Sommer. Das Kino sei ein sicherer Ort, weil es Einlasskontrollen gibt und jeder Sitzplatz nachverfolgt werden kann. Es gäbe Luftfilter- und weitergehende Hygienekonzepte, die die Viruslast in den Räumen entscheidend verringerten. Hier hätten Filmtheater auch mit den zur Verfügung gestellten Hilfen viel investiert. Dass die vierte Welle in die wichtigen Kinomonate November und Dezember schwappe, sei für die Kinos besonders bitter, bei denen zudem nach zwei Jahren Pandemie das Eigenkapital drastisch zurückgegangen oder gar verloren sei. Auch die Situation beim TV-Ausfallfonds, so Sommer, sei unbefriedigend. Seit Ende September sei der Ausfallfonds II ausgelaufen. Die Branche hänge hier in der Luft. Eventuelle Schäden könnten nicht aufgefangen werden. Die Verlängerung müsse zügig abgestimmt werden, sobald die neue Bundesregierung im Amt sei.

medienpolitik.net: Herr Sommer, Sie haben vor Schließungen von Kinos und Kultureinrichtungen gewarnt. Doch das neue Infektionsschutzgesetz, das vom Bundestag verabschiedet worden ist, sieht kein „generelles Verbot für Veranstaltungen“ vor. Woher kommt Ihre Sorge?

Sommer: Das neue Infektionsschutzgesetz ist etwas komplizierter gestrickt. Ein generelles Verbot gab es auch zuvor nicht. Nun ist es aber so, dass bestimmte Einrichtungen von Schließungsanordnungen ausgenommen sind. Dazu gehören weiter Bereiche der Wirtschaft, wie der Großhandel, Ladengeschäfte, Restaurants, Gaststätten und Hotels, aber eben nicht Kulturveranstaltungen.

Vor einem Jahr haben wir dafür gekämpft, dass in dem Katalog des Infektionsschutzgesetzes differenziert wird und Kulturveranstaltungen nicht mit Freizeitangeboten zusammengeworfen werden. Nun könnte der Gesetzgeber differenzieren, setzt aber Kulturveranstaltungen in die Gruppe von Einrichtungen und Betrieben, die leichter geschlossen werden können. Mir geht es darum, dass die Entscheidungen des Gesetzgebers nachvollziehbar sind. Das gilt auch für die Auflagen, die nun erlassen werden: Was zum Beispiel in Bayern für die Kinos gelten soll – Zutritt nur für geimpfte und genesene Menschen mit Test und gleichzeitig Kapazitätsbeschränkungen und Verzehrverbot – das ist nicht nachvollziehbar und da hilft auch eine Aufstockung von Ticketumsätzen durch den Sonderfonds Kulturveranstaltungen nichts. Warum werden Orte, die kontrolliert werden und kontrollierbar sind, unter Infektionsgesichtspunkten schlechter behandelt als Orte, die weniger kontrollierbar sind? Statt sichere Orte dicht zu machen, müssen wir die Orte, an denen Menschen dicht beisammen sind, sicher machen. Wir brauchen sichere soziale und kulturelle Orte sonst geht der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren. Das gilt genauso für Schulen und Universitäten. Und gesellschaftlicher Zusammenhalt ist systemrelevant.

Und eines ist inzwischen auch klar: Ohne eine weitgehende Impfpflicht werden wir aus der Pandemie nicht herauskommen. Jetzt die Schließung von Kultureinrichtungen als Lösung darzustellen, ist fahrlässig. Hier ist die Politik gefordert, auch unbequeme Entscheidung zu treffen. Und natürlich ist weiterhin die Verantwortung der Branche wichtig. Auch wir als SPIO haben mit der erneuten Absage des Filmballs früh eine noch vor Wochen als hart empfundene, aber wie sich jetzt zeigt richtige Entscheidung getroffen.

medienpolitik.net: Warum wäre es „ungerecht“ Gaststätten offen zu lassen und Kinos zu schließen?

Sommer: In beiden Bereichen finden Begegnung auf engem Raum statt. Eine Ungleichbehandlung von Gaststätten und Tourismus auf der einen Seite und Kultureinrichtungen auf der anderen ist inakzeptabel. Solche Entscheidungen konterkarieren die richtigen Ansätze, die das neue Infektionsschutzgesetz aufweist. Das Kino ist ein sicherer Ort, weil es Einlasskontrollen gibt und jeder Sitzplatz nachverfolgt werden kann. Es gibt Luftfilter- und weitergehende Hygienekonzepte, die die Viruslast in den Räumen entscheidend verringern. Hier haben Filmtheater auch mit den zur Verfügung gestellten Hilfen viel investiert. Sie brauchen die Bindung zu den Zuschauern und die können sie nur erhalten, wenn sie Vertrauen auch mit ihren Hygienekonzepten aufbauen.  Die Kinozahlen der letzten Monate zeigen den großen Kulturhunger und den Wunsch danach, mit anderen Menschen Kultur zu erleben. Gerade der Kulturort Kino hat bewiesen, dass er auch unter Pandemiebedingungen sichere Gemeinschaftserlebnisse ermöglicht. Deshalb sehen wir – bei allem Verständnis für die Beschränkung von Kontakten – hier aber eine Ungleichbehandlung zu anderen Betrieben.

„Wir brauchen sichere soziale und kulturelle Orte sonst geht der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren.“

medienpolitik.net: Man hört, dass die Kinos insgesamt, weitgehend ohne Insolvenzen – auch durch viele finanzielle Hilfen – durch die bisherige Pandemiezeit gekommen sind. Man könnte diese Hilfen ja wieder verlängern?

Sommer: Das ist richtig. Die Verlängerung der Überbrückungshilfen ist ein wichtiger Teil der jetzt zu treffenden Maßnahmen. Dass die vierte Welle in die wichtigen Kinomonate November und Dezember schwappt, ist für die Kinos besonders bitter. Hinzu kommt, dass bei vielen Unternehmen nach zwei Jahren Pandemie das Eigenkapital drastisch zurückgegangen oder gar verloren ist.

medienpolitik.net: Es gab in den letzten Wochen positive Meldungen über gute Besucherzahlen in den Kinos. Die Lust auf Kinos ist also nach wie vor groß, daran würde sicher auch eine kurzfristige Schließung nichts ändern?

Sommer: Die Kinozahlen der letzten Monate haben die gesamte Branche Mut schöpfen lassen. Sie zeigen, dass das Publikum die große Leinwand vermisst hat und zurückkehrt. Die Ausnahmesituation der Pandemie hat nochmal klargemacht, dass das Filmerlebnis mit anderen in der konzentrierten Atmosphäre des dunklen Kinoraums nicht zu ersetzen ist. Und trotzdem müssen wir uns die Zahlen und Auswertungen auch differenzierter ansehen. Wir beobachten, wie andere Kulturveranstalter auch, dass „Spitzenereignisse“, im Kinobereich die sogenannten Blockbuster, nachgefragt werden, die normalen Kulturveranstaltungen aber auch darunter leiden, dass sich die Menschen entwöhnt haben. Wir brauchen die Öffnung der Kulturveranstaltungen auch als Signal für die Gesellschaft und um zu zeigen, wir sind da und bleiben für euch da. Und es geht bei den Kinoschließungen um noch viel mehr als die Kinobetriebe. Wir kämpfen gerade noch mit den Verwerfungen, welche die letzten Kinoschließungen in der gesamten Wertschöpfungskette angerichtet haben. Der Kinostart ist der wichtigste Tag in der Auswertung eines Films, daran hängen Finanzierungsbausteine und nachgelagerte Auswertungsmöglichkeiten. Deshalb haben die monatelangen Kinoschließungen dem Kreislauf der Filmwirtschaft massiv geschadet. Besonders klar wird das durch den weiterhin bestehenden Filmstau, weil so lange keine Filme starten konnten.

„Die Folgeschäden und Unsicherheiten steigen derzeit und die Ausfallabsicherungen sind in dieser Situation noch wichtiger geworden.“

medienpolitik.net: Wie stark ist generell die Filmwirtschaft von der 4. Welle bedroht? Gibt es bereits wieder Drehunterbrechungen?

Sommer: Die Wucht der vierten Welle macht natürlich vor einem Filmset nicht Halt. Wir erleben auch hier die Folgen der rasant steigenden Zahlen. Vereinzelt höre ich auch, dass die niedrigen Impfquoten ein Problem darstellen. Es kommt immer wieder zu Drehunterbrechungen wegen Coronafällen. Die Folgeschäden und Unsicherheiten steigen derzeit und die Ausfallabsicherungen sind in dieser Situation noch wichtiger geworden. Wie unsere gesamte Gesellschaft kämpfen auch wir um einen vernünftigen Umgang mit dieser herausfordernden Situation. Die Filmbranche zeichnet nicht zuletzt eine besonders hohe gesellschaftliche Relevanz aus. Das sorgt dafür, dass Stimmen aus unserer Branche auch von einem breiten Publikum wahrgenommen werden. Besonders beeindruckt hat mich beispielsweise Doris Dörrie beim Deutschen Filmpreis, die so prägnant formulierte: „Niemand hat das Recht ein Virus zu verbreiten.“ Ich würde mir wünschen, dass sich alle in der Branche diesen einfachen und klaren Satz zu Herzen nehmen.

medienpolitik.net: Der Ausfallfonds II ist noch immer nicht verlängert, trotz Absichtsbekundungen einiger Länder. Nur Berlin hat eine Verlängerung vorgenommen. Wie bewerten Sie diese Situation?

Sommer: Die Situation beim TV-Ausfallfonds ist tatsächlich unbefriedigend. Seit Ende September ist der Ausfallfonds II ausgelaufen. Die Branche hängt hier in der Luft. Eventuelle Schäden können nicht aufgefangen werden. Stattdessen müssen die Unternehmen darauf vertrauen, dass die Länder ihre Zusagen einhalten und diese Summen beglichen werden können, wenn die Abstimmungen über die Verlängerung abgeschlossen sind. Es zeigt sich jetzt, wie wichtig es war, den Ausfallfonds für Kinoproduktionen bis zum Jahresende laufen zu lassen. Das sorgt derzeit für Verlässlichkeit und greift gleichzeitig dem oder der neuen Beauftragten für Kultur und Medien nicht vor. Ein besonders wichtiges Signal ist die Einladung zu einer Diskussionsrunde zu diesem Thema durch die Beauftragte für Kultur und Medien. So können die Erfahrungen aus der Branche und internationale Vorbilder in die Suche nach langfristigen Lösungen zur Pandemieabsicherung einfließen. Aber auch hier darf es keine Hängepartie geben. Die Verlängerung muss zügig abgestimmt werden, sobald die neue Bundesregierung im Amt ist. Eine Verlängerung bis zur Mitte des kommenden Jahres ist wichtig für die Planungssicherheit der Filmwirtschaft.

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