„Die Partizipation ist eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre“

von am 04.04.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Dualer Rundfunk, Hörfunk, Journalismus, Medienpolitik, Medienwissenschaft, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Rundfunk

„Die Partizipation ist eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre“
Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, Foto: C. Kruppa

Deutschlandfunk gehört als einziges Informationsangebot zu den TOP 10 der meistgehörten Programme

04.04.2022. Interview mit Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios  

Nach den jüngsten Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. (agma) kommt der Deutschlandfunk erstmals in seiner Geschichte im weitesten Hörerkreis auf mehr als 10 Millionen regelmäßige Hörerinnen und Hörer. Damit gehört der Deutschlandfunk weiterhin als einziges Informationsprogramm zu den TOP 10 der meistgehörten Programme. Doch auch der Deutschlandfunk verzeichnet in der Tagesreichweite, wie viele anderen Hörfunkprogramme, einen Rückgang im Vergleich zur letzten Media Analyse, die einen Rekordwert von 2,23 Millionen Hörerinnen und Hörern ausgewiesen hatte. „Wenn in komplizierten Zeiten, in denen die Bürgerinnen und Bürger Antworten auf die vielen Fragen erwarten, die Angebote von öffentlich-rechtlichen Informations- und Kulturangeboten nicht intensiv genutzt würden, hätten wir sehr viel falsch gemacht. Wir stellen ein sehr starkes Interesse an unseren Inhalten fest, die Bekanntheit unserer Programme ist so hoch wie seit Jahren nicht“, sagt dazu Intendant Stefan Raue in einem Gespräch mit medienpolitik.net. Es sei den klassischen Medien seiner Meinung nach in Deutschland gelungen, bei der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg ohne militärische Sprache und Kriegsgeschrei, diesem dramatischen Ereignis gerecht zu werden. Das gehöre zur demokratischen Medienkultur in unserem Land, die dazu beitrage, dass wir über dieses schwierige Thema, das uns emotional so bewegt, ohne Hysterie berichten könnten.

medienpolitik.net: Herr Raue, welche Herausforderungen stellt die Berichterstattung über den Krieg Russlands gegen die Ukraine für Deutschlandradio dar?

Raue: Es ist für uns insgesamt eine große Herausforderung, denn man muss berücksichtigen, dass wir seit zwei Jahren mit der Corona-Pandemie leben und darüber intensiv berichten. Sowohl bei unserer Selbstorganisation als auch im Programm war von uns eine große Flexibilität gefordert und das geht jetzt weiter. Die Hörer erwarten von uns eine gründliche Berichterstattung über den Ukraine-Krieg und seine Konsequenzen für uns. Wir arbeiten dabei sehr eng mit dem Korrespondentennetz der ARD zusammen, bei dem Deutschlandradio Mitglied ist. Zudem haben wir ein eigenes Kompetenzteam, von Kolleginnen und Kollegen, die Korrespondenten in Osteuropa waren, die Sprachen sprechen und gute Kontakte in die vom Krieg betroffenen Regionen haben, zusammengestellt. Dieses Team berichtet vor allem über Hintergründe und aktuelle Entwicklungen des Ukraine-Krieges. In enger Zusammenarbeit mit der ARD und dem WDR als Federführer für das Studio in Moskau prüfen wir auch jeden Tag, inwieweit wir unmittelbar aus dem Kriegsgebiet informieren können.

medienpolitik.net: Wo sehen Sie hier Ihren Platz bei dieser Berichterstattung innerhalb der öffentlich-rechtlichen Hörfunkangebote?

Raue: Unser Platz entspricht unserer grundsätzlichen Position als nationaler Hörfunk in Ergänzung zu den Angeboten der Landesrundfunkanstalten: Sehr viel Hintergrundberichterstattung, vertiefende Informationen von Feature und Dokumentation bis zum ausführlichen Interview. Dazu kommen intensive Gesprächssendungen. Das alles entspricht unserem Profil und ist die Stärke unseres Angebotes zu Information, Kultur und Wissen und jetzt auch über die russische Aggression. Unser Kompetenz-Team bringt hierfür seine Kenntnisse und Analysen ein.

medienpolitik.net: Die Verifizierung der Informationen über den Krieg ist nicht unproblematisch. Wie sichern Sie eine kompetente und sachlich richtige Berichterstattung?

Raue: Sicher können uns auch Fehler passieren.Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten unter großem Zeit- und Ereignisdruck, den wir vor wenigen Wochen kaum für möglich gehalten haben. Wann haben wir beispielsweise zuletzt von der realen Gefahr einer atomaren Auseinandersetzung gesprochen? Solche Fragen haben wir weitgehend verdrängt. Bei der Berichterstattung über den Ukraine-Krieg müssen wir auf die Sicherungsmechanismen vertrauen, die wir auch sonst anwenden und diese noch verstärken. Dazu zählen die Arbeit im Team, das gegenseitige Kontrollieren und der Vier-Augen Check. Wir konkurrieren nicht mit anderen Medien um die schnellste Meldung und kümmern uns vor allem um die Einordnung und Gewichtung der Informationen. Zudem arbeiten im Kompetenz-Team Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die über viele Jahre Erfahrung und Vor-Ort-Kenntnisse erworben haben.

„Ein ‚Verzicht‘ auf den Rundfunkbeitrag für sechs Monate ist rundfunkrechtlich nicht möglich.“

medienpolitik.net: Sie haben sich stets für eine gute Zusammenarbeit mit den Verlegern, für eine Stärkung der Qualitätsmedien ausgesprochen. Ist die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg auch ein Beleg dafür, dass professioneller „Qualitätsjournalismus“ weiter entscheidend für eine demokratische Meinungsbildung ist?

Raue: Es ist den klassischen Medien meiner Meinung nach in Deutschland gelungen, ohne militärische Sprache und Kriegsgeschrei, diesem dramatischen Ereignis gerecht zu werden. Das gehört zur demokratischen Medienkultur in unserem Land, die dazu beiträgt, dass wir über dieses schwierige Thema, das uns emotional so bewegt, ohne Hysterie berichten können. Nur so können wir die Bürger mit den Informationen versorgen, die ihnen helfen sollen, diesen Krieg einzuordnen. 

medienpolitik.net: Vor wenigen Tagen hat die Finanzministerin von Schleswig-Holstein den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufgefordert, für sechs Monate auf den Beitrag zu verzichten, um die Bürger finanziell zu entlasten…

Raue: So ein „Verzicht“ für sechs Monate ist rundfunkrechtlich nicht möglich. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk darf keine Schulden machen und keine Ersparnisse anhäufen. Unsere Einnahmen orientieren sich an unserem Bedarf für die Programme, den die KEF ermittelt hat. Wenn wir also auf Geld verzichten, können wir auch weniger Programm anbieten. Worauf wir dann verzichten sollen, darauf müsste sich die Politik vorher einigen. Wir erhalten von den 18,36 Euro Rundfunkbeitrag jeden Monat 54 Cent und angesichts des großen Bedarfs an sachlicher und wahrhafter Information, ist den Bürgern dieses Geld sicher auch wert.

medienpolitik.net: Sie sind seit Herbst 2017 im Amt. Wie haben sich seitdem die drei Programme verändert?

Raue: Sie haben sich weiterentwickelt. Das hängt aber nicht ursächlich mit meiner Intendanz, sondern vor allem mit einer veränderten Mediennutzung und aktuellen Entwicklungen zusammen. Vor fünf Jahren spielten beispielsweise Wissenschaft und Medizin in unseren Programmen außerhalb unserer Fachsendungen eine geringere Rolle als heute. Auch Sicherheitspolitik oder Außenpolitik sind aktuell wichtige Themen geworden. Ein Sender, der auf diese drängenden Fragen keine Antwort mehr gibt, wird von Hörerinnen und Hörern nicht mehr beachtet. Das beeinflusst ein Sendeangebot vielmehr als die Überlegungen eines Intendanten. In allen drei Programmen ist die Bedeutung der Wissenschaft gewachsen, die Sendungen sind noch politischer geworden. Alle haben sich unter dem Druck der Ereignisse und den Erwartungen unserer Hörerschaft weiterentwickelt.

„Das lineare Radio ist nicht tot, im Gegenteil: es wird aber durch andere, digitale Nutzungsformen ergänzt.“

medienpolitik.net: Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova haben ihre Reichweite in den vergangenen Jahren zumeist verbessern können. Gehört das mit zu den Prämissen Ihres Intendantenjobs?

Raue: Wenn in komplizierten Zeiten, in denen die Bürgerinnen und Bürger Antworten auf die vielen Fragen erwarten, die Angebote von öffentlich-rechtlichen Informations- und Kulturangeboten nicht intensiv genutzt würden, hätten wir sehr viel falsch gemacht. Wir stellen ein sehr starkes Interesse an unseren Inhalten fest, die Bekanntheit unserer Programme ist so hoch wie seit Jahren nicht. Wir erreichen gegenwärtig am Tag etwa 2,8 Millionen Hörerinnen und Hörer mit unseren drei Programmen, dazu kommen immer mehr digitale Angebote. Das ist ein gutes Ergebnis. Zudem gehört der Deutschlandfunk als einziges Informationsprogramm zu den TOP 10 der meistgehörten Programme.

medienpolitik.net: Welche Rolle spielen inzwischen Online und DAB+?

Raue: Die Zahl der Einwohner, die diese Programme mit einer Zimmerantenne zuhause empfangen können, wächst kontinuierlich, im aktuellen Jahr auf etwa 74,6 Millionen. Das entspricht etwa 90 Prozent der Bevölkerung. Die Statistiken und auch die neueste Media Analyse zeigen, dass immer mehr Haushalte DAB+ aktiv nutzen und sich diese Technologie, nach Startschwierigkeit, auf dem Erfolgsweg befindet. Das gehört mit zu den Ursachen für die positive Entwicklung unserer Reichweite. Aber leider kann die Marktforschung noch nicht genau analysieren, über welchen Weg unsere Hörerinnen und Hörer unsere Programme nutzen.

medienpolitik.net: Sie bauen Ihre DAB+-Übertragung massiv aus. Wann werden Sie auf UKW verzichten?

Raue: Für mich als Deutschlandradio-Intendant wäre es wünschenswert, wenn die UKW-Verbreitung sehr bald endet, wie es bereits in anderen Ländern geschehen ist. Aber ich weiß natürlich, dass der private Rundfunk einen wesentlichen Teil seiner Refinanzierung über UKW realisiert und habe Verständnis dafür, dass es ein wenig länger dauert. Der DAB+-Ausbau kostet viel Geld und während wir dafür Rundfunkbeitragsmittel erhalten, müssen die privaten Sender die Investitionen dafür erwirtschaften. Aber auf mittlere und lange Sicht werden wir uns diese doppelte Programmverbreitung nicht leisten können.

medienpolitik.net: Der Hörfunk hat während der Corona-Pandemie weiter an Bedeutung gewonnen. Warum ist Radio weiterhin so attraktiv?

Raue: Deutschlandradio hat den Claim „Unabhängig. Unverzichtbar. Unverwechselbar.“ Unverwechselbarkeit ist für eine Sendermarke sehr wichtig, denn Hörerinnen und Hörer müssen schnell registrieren, welches Programm sie gerade nutzen. Die „Primetime“ des Hörfunks sind der Morgen und der Vormittag. In dieser Zeit werden wenig das Fernsehen und auch kaum Netflix genutzt, stattdessen werden die Zeitung gelesen oder Radio gehört. Das Radio kann damit sehr differenziert auf die Tagesabläufe der Menschen eingehen, sowohl mobil unterwegs, als auch mobil zuhause. Abends bieten wir beispielsweise Konzerte, Hörspiele oder ausführliche Features an. Das sind Formate, die vor allem zuhause gehört werden. Das lineare Radio ist also nicht tot, im Gegenteil: es wird aber durch andere, digitale Nutzungsformen ergänzt.

„Unser Publikum erwartet Dialog und Interaktion von einem modernen Radio.“

medienpolitik.net: Wie muss sich der Hörfunk, wie müssen sich die Programme von Deutschlandradio verändern, um weiter attraktiv zu bleiben?

Raue: Deutschlandradio hat für seine linearen Programme sehr viele treue Hörerinnen und Hörer, die uns schon seit Jahren kennen. Diese wollen wir natürlich halten, müssen aber immer wieder hinterfragen, ob und wie sich die Erwartungen verändern. So stellen wir im Moment ein sehr großes Interesse an historischen Stoffen fest und werden darauf auch reagieren. Bei unseren non-linearen Angeboten, der Audiothek App und den Web-Portalen wächst das Bedürfnis an intensiver Hintergrundberichterstattung und an Formaten, die Diskussionen anregen. Diese Diskussionen müssen wir dann aber auch führen und kuratieren. Denn wenn wir die Hörerinnen und Hörer mit solchen Formaten ansprechen, müssen wir sie ernst nehmen und ihre Überlegungen aufnehmen. Das klassische „Hörertelefon“ alleine reicht schon lange nicht mehr aus, heute erwartet unser Publikum Dialog und Interaktion von einem modernen Radio. Dazu haben wir zu aktuellen Anlässen der jüngsten Zeit auch neue Formate wie Twitter Spaces oder das „Offene Studio“ entwickelt. Die Partizipation ist also eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Jahre. 

medienpolitik.net: Sie haben bei Ihrer Wiederwahl gesagt: „Vor Jahren sei das strategische Ziel definiert worden, in Zukunft digitales und traditionelles Radio auf Augenhöhe betrachten und fördern zu wollen. Aber ehrlich gesagt sind wir noch nicht so weit“. Was heißt auf „Augenhöhe“ konkret?

Raue: Bei den Inhalten sind wir sicher bereits „auf Augenhöhe“,nicht aber beim Einsatz der Ressourcen. Wir sind noch traditionell wie eine klassische Hörfunkanstalt aufgestellt, was auch Vorzüge und die Gewähr bietet ein Qualitätsprogramm herstellen zu können. Um aber auch bei den Jüngeren weiterhin attraktiv zu bleiben, müssen wir mehr Ressourcen in den digitalen Bereich umschichten. Mit dem neuen Telemedienauftrag hat uns der Hörfunkrat dazu auch die Mittel an die Hand gegeben und wir wollen das nun Schritt für Schritt umsetzen, ohne das lineare Angebot zu schwächen. Die KEF hat uns für die Erweiterung der digitalen Projekte keine zusätzlichen Mittel bewilligt, sondern mir müssen entscheiden, wie wir den Rundfunkbeitrag aufteilen. Damit stoßen wir aber auch an Grenzen, weil die Kosten für den Ausbau der IT-Struktur steigen, Fachkräfte gesucht und teuer sind. Wir müssen also klug die Prioritäten setzen.     

medienpolitik.net: ARD und ZDF können kooperieren, die Teams verkleinern, mehr Programm wiederholen, weniger Sportrechte erwerben usw. und so sparen. Welche Möglichkeiten haben Sie, ohne das Programm zu schwächen?

Raue: Deutschlandradio verfügt über einen sehr hohen Eigenproduktionsanteil und das Geld dafür ist jeden Tag fest eingeplant. Unser Spielraum ist hier also nicht sehr groß. Wir müssen klug Prioritäten setzen, um Mittel für digitale Projekte zu gewinnen, beispielsweise durch eine engere Zusammenarbeit zwischen den Redaktionen in den Funkhäusern in Berlin und Köln. Zudem kooperieren wir im Verwaltungs- und Betriebsbereich sehr eng mit ARD und ZDF. So sparen wir Personalkosten und können die Mittel für das Programm nutzen.

medienpolitik.net: Werden Sie mit Ihren Sendungen auch auf der ARD-Kulturplattform, die ja auch Hörfunk berücksichtigen soll, vertreten sein?

Raue: Deutschlandradio ist bereits in einem sehr frühen Planungsstadium vom MDR einbezogen worden, wie auch das ZDF und wir sind an einer Mitarbeit sehr interessiert. Inzwischen sind wir auch in den entsprechenden Arbeitsgruppen vertreten und werden, wenn die Strukturen und Konzepte für das Portal erarbeitet sind, auch aktiv mitarbeiten. Mit unserer sehr engagierten Kulturberichterstattung können wir sicher das Angebot gut ergänzen. 

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