„Verbindliche Leitlinien für öffentlich-rechtlichen Journalismus in sozialen Netzwerken festlegen“

von am 08.06.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Internet, Medienpolitik, Medienregulierung, Medienwissenschaft, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Social Media, Studie

„Verbindliche Leitlinien für öffentlich-rechtlichen Journalismus in sozialen Netzwerken festlegen“

Journalismus in sozialen Netzwerken – ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?

08.06.2022. Um alle Teile der Bevölkerung journalistisch zu erreichen und mit Informationen zu versorgen sind soziale Netzwerke für die öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland unverzichtbar geworden.  Dazu sind die Anstalten auch durch den Medienstaatsvertrag legitimiert. Ein Auftrag, der durch die aktuelle Novelle noch verstärkt wird. Im Bestreben, auf den privaten Plattformen hohe Reichweiten journalistischer Angebote zu erzielen, orientieren sich ARD und ZDF auch an den algorithmischen Funktionsweisen der Netzwerke – und gefährden dadurch potentiell die Qualität ihrer Arbeit und stellen ihre Unabhängigkeit in Frage. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie der Otto Brenner Stiftung über „Journalismus in sozialen Netzwerken“. Der Journalist und Medienwissenschaftler Henning Eichler hat dafür alle Formate der öffentlich-rechtlichen Anbieter in Deutschland erfasst, die für die privaten Plattformen optimierter Journalismus sind. Zusätzlich führte Eichler Interviews mit 18 Personen aus den verantwortlichen Redaktionen und dem Management der Sender zur Frage, ob sich „ARD und ZDF im Bann der Algorithmen“ – so der Untertitel der Arbeit – befinden.

Kurzzusammenfassung der Studie

„Soziale Netzwerke sind Teil der öffentlichen Kommunikation geworden. Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen diese neuen Ausspielwege nutzen, um alle Beitragszahler zu erreichen und ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Journalismus für kommerzielle Plattformen zu machen, heißt jedoch zugleich, einen Konflikt einzugehen: Beiträge müssen tendenziell nach den Logiken der Algorithmen gestalten werden, um hohe Reichweiten zu erzielen. Das kann bedeuten, Abstriche in der Qualität zu machen, denn unterhaltsame, polarisierende, emotionale und oberflächliche Inhalte werden von den Algorithmen bevorzugt. Auch haben öffentlich-rechtliche Medien keine Möglichkeiten, die Regeln der Verbreitung und Priorisierung von Inhalten mitzugestalten und begeben sich so in eine Abhängigkeit von den Datenkonzernen. Die vorliegende Arbeit fragt vor diesem Hintergrund, wie öffentlich-rechtliche Medien mit diesem Konflikt umgehen. (Wie) Können öffentlich-rechtliche Redaktionen gemeinwohlorientierte journalistische Qualitätsinhalte erfolgreich über kommerzielle soziale Netzwerke verbreiten, wenn sie zugleich nach den Logiken dieser kommerziellen Plattformen agieren müssen? Wie beeinflusst die Plattform-Logik den öffentlich-rechtlichen Journalismus – und gibt es Wege aus dem Dilemma?

Methode

Zur Beantwortung der Forschungsfrage wurde zum einen eine Vollerhebung aller zum Erhebungszeitraum (November und Dezember 2021) aktiven journalistischen öffentlich-rechtlichen Kanäle und Accounts aus Deutschland in sozialen Netzwerken vorgenommen. Hierfür wurde in allen relevanten Netzwerken recherchiert. Zum anderen wurden 18 Leitfadeninterviews mit Mitarbeitern von ARD und ZDF geführt, die journalistische Inhalte für Drittplattformen erstellen oder als Redaktionsleiter /leitende Redakteure für solche Social-Media-Angebote verantwortlich sind. Die Interviews wurden zwischen Juni und November 2021 geführt und nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.

„Insgesamt ist die Beziehung zwischen den öffentlich-rechtlichen Medien und den Plattformen von einem starken Machtgefälle zugunsten letzterer geprägt.“

Ergebnisse

Relevanz privater Plattformen für öffentlich-rechtliche Medien

Die quantitative Erhebung verdeutlicht die hohe Relevanz sozialer Netzwerke für die öffentlich-rechtlichen Medien. Insgesamt wurden 273 verschiedene journalistische Formate identifiziert, von denen 75 (27,5 Prozent) ausschließlich in sozialen Netzwerken ausgespielt werden. Fast Dreiviertel werden begleitend oder parallel auch im linearen Fernseh- oder Hörfunkprogramm verbreitet. 90 Prozent dieser Formate sind für mehrere Netzwerke aufgesetzt, sodass sich insgesamt eine Summe von 751 öffentlich-rechtlichen journalistischen Einzel-Angeboten (Kanäle oder Accounts) in sozialen Netzwerken ergibt. Die meisten dieser Angebote werden für Facebook, Instagram, Twitter und YouTube erstellt. Weitere Plattformen spielen (noch) eine vergleichsweise geringe Rolle. Allerdings gibt es eine hohe Dynamik in der Neugründung von Kanälen und der Bespielung neuer Plattformen, auch die Investitionen (pro Plattform) verlaufen sehr volatil.

Formatentwicklung, Darstellungsweisen und Inhalte im Bann der Algorithmen

Die Interviews offenbaren eine deutliche Orientierung der redaktionellen Tätigkeiten an arithmischen Funktionsweisen. Redaktionsentscheidungen und journalistische Arbeit werden von den Erfolgsprinzipien der jeweils bespielten Plattformen mitbestimmt. Das betrifft sowohl Form und Darstellung als auch die Auswahl von Themen – und damit die Inhalte. Bereits in der Formatentwicklung orientieren sich Redaktionen an Plattform-Konventionen mit dem Ziel, journalistische Inhalte so darzustellen, dass sie durch die Empfehlungsalgorithmen eine möglichst große Verbreitung erfahren. Auch in den Darstellungsweisen werden auf der jeweiligen Plattform etablierte Beitragslängen und erfolgreiche Dramaturgien übernommen. Journalisten nutzen in der Produktion Funktionen, die von den Apps angeboten – und dadurch vorgegeben – werden. Grundsätzlich assimilieren sich die Redaktionen dadurch in Tonalität, Ästhetik und Präsentation der Inhalte also an bestehende reichweitenstarke Angebote, die auch aus dem nicht-journalistischen Bereich stammen können.

Inhaltliche Entscheidungen sind ebenfalls an Reichweiten und algorithmischen Funktionen ausgerichtet. So kommt es vor, dass manche Themen auf bestimmten Plattformen nicht mehr umgesetzt werden, weil sie in der Vergangenheit keine guten Kennzahlen erzielten. Allerdings betont die Mehrheit der Befragten, dass in der nachrichtlichen Aktualität und bei gesellschaftlich besonders relevanten Themen die Ausrichtung an Reichweiten keine Rolle spiele. Hier werden regelmäßig bewusst Themen umgesetzt, auch wenn sie keine Aussicht auf starke Verbreitung haben.

Machtgefälle zwischen Datenkonzernen und öffentlich-rechtlichen Medien

Die Untersuchung zeigt, dass die Auswertung von Nutzungs- und Nutzerdaten der Plattformen Teil der Redaktionsroutinen geworden ist. Die verschiedenen Kennzahlen sind stets präsent werden als ‚Währungen‘ akzeptiert und für redaktions- und senderinterne Evaluationen übernommen. Unterschiede gibt es im Umgang mit den Daten: Während manche Redaktionen den Fortbestand bestimmter Angebote auch von deren quantitativer Entwicklung orientierenden Abgleich. Die Abhängigkeit von algorithmischen Funktionen wird bei unangekündigten Änderungen der Algorithmen, in der Content-Moderation der Plattformen und beim Löschen von Inhalten durch KI-gesteuerte Filter besonders deutlich und beeinträchtigt die journalistische Arbeit nach Aussage der Befragten erheblich. Insgesamt ist die Beziehung zwischen den öffentlich-rechtlichen Medien und den Plattformen von einem starken Machtgefälle zugunsten letzterer geprägt. Das äußert sich auch in unzuverlässiger Kommunikation und mangelnder Transparenz von Seiten der Konzerne. Dem versucht die ARD mit neu berufenen ‚Partnermanagern‘ entgegenzuwirken, die einen direkten Draht zu den Plattformen etablieren sollen; das ZDF betreibt aktives Networking mit Vertretern der Digitalunternehmen, um die Zusammenarbeit zu verbessern. Längerfristig setzen die öffentlich-rechtlichen Anbieter (weiterhin) auf eine Multiplattformstrategie, wobei die Konversion auf die eigenen Infrastrukturen (Mediatheken, Apps) stimuliert werden soll.

Fazit

Es bedarf verschiedener Vorgehensweisen, um auch zukünftig mit hochwertigem öffentlich-rechtlichem Journalismus dem gesellschaftlichen Auftrag nachzukommen. In einer ‚gestuften Verantwortung‘ sind einzelne Journalisten, Redaktionen und ganze Medienhäuser in der Pflicht, verbindliche Leitlinien für öffentlich-rechtlichen Journalismus in sozialen Netzwerken aufzustellen und zu praktizieren. Diese Regeln müssen die Orientierung an den Plattformlogiken bewusster machen – und eingrenzen. Zugleich sollte der Ausbau alternativer, unabhängiger und nicht-kommerzieller Plattformen mit ‚demokratiefreundlichem Design‘ auch durch die Öffentlich-Rechtlichen vorangetrieben werden. Schließlich müssen diese die eigenen Interessen stärker in die Regulierungsvorhaben der Politik gegenüber den Plattformen einfließen lassen.“

https://www.otto-brenner-stiftung.de/sie-moechten/presseinfos-abrufen/detail/news/oeffentlich-rechtlicher-journalismus-braucht-neue-regeln-in-sozialen-netzwerken/news-a/show/news-c/NewsItem/

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