„Das untergräbt das Vertrauen in den Jugendmedienschutz“

von am 25.08.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Filmwirtschaft, Gesellschaftspolitik, Jugendmedienschutz, Medienordnung, Medienpolitik

„Das untergräbt das Vertrauen in den Jugendmedienschutz“
Stefan Linz, Geschäftsführer Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)

Filmwirtschaft übt Kritik an Entwurf des neuen Jugendmedienschutzstaatsvertrages wegen Streit um Altersfreigaben

25.08.2022. Interview mit Stefan Linz, Geschäftsführung Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK)

Streaming- und TV-Anbieter sollen künftig Filme mit FSK-Altersfreigabe abweichend selbst bewerten und damit auch jüngeren Kindern bzw. Jugendlichen zeigen können. Dies sieht ein Entwurf der Rundfunkkommission der Länder zur Überarbeitung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages (JMStV) vor. Ein und derselbe Film könnte demnach mit FSK-Altersfreigabe ab 12 Jahren im Kino laufen und als Stream oder im TV ab 6 oder ab 0 Jahren im Kinderprogramm oder Kinderaccount gezeigt werden. Statt einer zuverlässigen, eindeutigen Altersfreigabe, hätte derselbe Film dann mehrere unterschiedliche Einstufungen. Die FSK und ein Bündnis aus Jugendschutzorganisationen und der Filmwirtschaft fordern die Rundfunkkommission der Länder in einer Petition auf, die geplanten Änderungen zu abweichenden Freigaben aus dem Entwurf für den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 und § 10 JMStV-E) zu streichen, denn sie untergraben den funktionierenden Jugendschutz für Filme, ohne konkreten Anlass oder inhaltliche Rechtfertigung.

medienpolitik.net: Herr Linz, künftig sollen TV- und Streaming-Anbieter die Möglichkeit haben, Filme mit FSK-Altersfreigabe abweichend selbst zu bewerten und damit auch jüngeren Altersgruppen zugänglich zu machen. Was ist für Sie an der Regelung problematisch?

Linz: Ein und derselbe Film könnte mit FSK-Altersfreigabe ab 12 Jahren im Kino laufen und als Stream oder im TV ab 6 oder ab 0 Jahren im Kinderprogramm oder Kinderaccount gezeigt werden. Statt einer zuverlässigen, eindeutigen Altersfreigabe, hätte derselbe Film dann mehrere unterschiedliche Einstufungen. Das sorgt nicht für mehr Jugendschutz, sondern untergräbt das Vertrauen von Kindern, Jugendlichen und Eltern genau dort, wo Jugendschutz gut funktioniert: einheitliche Altersfreigaben für alle Plattformen, die in unabhängigen und transparenten Prüfverfahren ermittelt werden. Unter dem Motto „Ein Film, eine Altersfreigabe – Damit Jugendschutz verlässlich bleibt!“ haben die FSK und ein Bündnis aus Jugendschutzorganisationen und der Filmwirtschaft daher eine Petition gegen die geplante Aufweichung im Jugendmedienschutz gestartet: https://www.openpetition.de/!fsk

medienpolitik.net: Wer legt die Altersfreigabe fest?

Linz: Nach dem Jugendschutzgesetz (JuSchG) werden Altersfreigaben von den Obersten Landesjugendbehörden vergeben, die auf Grundlage gemeinsamer Verfahren, die Prüfvoten der FSK für filmische Inhalte bzw. der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) für Games übernehmen. Im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) sind für TV- und Onlineangebote bislang keine gesetzlichen Freigaben vorgesehen. Ist ein Inhalt nach dem Jugendschutzgesetz nicht gekennzeichnet, so steht es dem Anbieter frei, die Alterseinstufung selbst vorzunehmen oder eine anerkannte Selbstkontrolle mit der Altersbewertung des Inhalts zu beauftragen. Um Doppelprüfungen zur vermeiden, kann die Altersbewertung der anerkannten Selbstkontrolle von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) bestätigt und als Altersfreigabe nach dem Jugendschutzgesetz übernommen werden.

medienpolitik.net: Was sind die Kriterien?

Linz: Gesetzliche Vorgabe ist, dass Inhalte die „geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen“, nicht für ihre Altersstufe freigegeben werden dürfen (§ 14 Abs. 1 JuSchG). In den FSK-Grundsätzen wird dabei bewusst auf eine vermutete Wirkung abgestellt. Mit der Altersfreigabe ist daher keine pädagogische Empfehlung oder ästhetische Bewertung verbunden. Zu den jugendschutzrelevanten Risikodimensionen zählen u.a. die Darstellung von Gewalt, Sexualität, Drogenkonsum, Selbstschädigung und Diskriminierung. Bei der Beurteilung der möglichen Wirkungen sind dabei auch verstärkende oder relativierende Faktoren zu berücksichtigen. So ist zum Beispiel bei der Darstellung des Konsums von Drogen für die Wirkung mit entscheidend, ob auch negative Folgen gezeigt werden und kritisch zum Thema Stellung genommen wird.

„Allgemein anerkannt wird, dass eine konvergente Entwicklung der Medien auch einer zwischen den Ländern und dem Bund abgestimmten kohärenten und konvergenten Medienregulierung bedarf.“

medienpolitik.net: Die privaten Sender konnten bisher schon von der Altersfreigabe abweichen. Was ist jetzt anders?

Linz: Die Altersfreigaben nach dem JuSchG gelten im Anwendungsbereich des JMStV im Rahmen einer Vermutungsregelung (§ 5 Abs. 3 S. 1 JMStV). Über Abweichungen entscheidet auf Antrag die Kommission für Jugendmedienschutz oder die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (§ 9 Abs. 1 JMStV). Abweichungen sind möglich z.B. bei geschnittenen Fassungen oder wenn die Prüfung durch die FSK mehr als 10 Jahre zurückliegt. Dann wäre auch eine Neuprüfung bei der FSK möglich. Nach dem Diskussionsentwurf zum JMStV wäre eine abweichende Einstufung auch für identische Fassungen mit aktueller Freigabe durch den Sender selbst möglich.

medienpolitik.net: Wie ist es bei den öffentlich-rechtlichen Sendern? Auch diese können doch über Ausnahmen selbst entscheiden?

Linz: Gleiches gilt für die öffentlich-rechtlichen Sender. Dort entscheidet über Abweichungen auf Antrag des Intendanten das jeweils zuständige Organ der in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten bzw. des ZDF (§ 9 Abs. 1 JMStV).

medienpolitik.net: In den ARD und ZDF-Mediatheken können alle jugendgeschützten Inhalte in der freigegebenen Zeit zwischen 22 und 6 Uhr (für Inhalte ab 16 Jahren) angesehen werden. Damit ist doch eine „verbindliche“ Altersfreigabe heute schon aufgehoben?

Linz: Mit der zeitlichen Beschränkung von Inhalten ab 16 Jahren, wie auch im linearen Fernsehprogramm, soll sichergestellt werden, das jüngere Kinder und Jugendliche „üblicherweise“ entsprechende Inhalte nicht sehen. Damit haben die FSK-Altersfreigaben ab 16 Jahren eine Bindungswirkung für die Zeitschiene zwischen 22 und 6 Uhr. Alternativ kann in der Mediathek für entsprechende Inhalte auch eine Altersüberprüfung mit der Ausweisnummer sowie dem Einrichten einer Jugendschutz-PIN vorgesehen werden. Altersfreigaben werden damit nicht aufgehoben, sondern der Zugang zu jugendschutzrelevanten Inhalten entsprechend der medienspezifischen Nutzungsmodalitäten beschränkt. Auch eine Programmierung für ein anerkanntes Jugendschutzprogramm ist im Online-Bereich eine Option für die gesetzkonforme Verbreitung bei klassischen Websites.

„Wünschenswert wäre, wenn den Aspekten der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sowie der Vermittlung von Medienkompetenz ein größeres Gewicht beigemessen würde.“

medienpolitik.net: In der Presseerklärung heißt es: „Die nun geplante eingeschränkte Wirkung der gesetzlichen FSK-Altersfreigaben und Möglichkeit im Online-Bereich und Rundfunk davon abzuweichen, ist das Resultat mangelnder Abstimmung im Jugendmedienschutz zwischen Bund (JuSchG) und Ländern (JMStV)”. Könnten Sie das bitte erläutern?

Linz: Seit vielen Jahren setzen sich die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft und die FSK bei den Ländern und beim Bund für eine bessere Verzahnung von JMStV und JuSchG, der zwei Gesetze, die den Jugendmedienschutz in Deutschland regeln, ein. Allgemein anerkannt wird, dass eine konvergente Entwicklung der Medien auch einer zwischen den Ländern und dem Bund abgestimmten kohärenten und konvergenten Medienregulierung bedarf. Sie ist die Voraussetzung, um vertriebswegübergreifende praxistaugliche Jugendschutzlösungen zu entwickeln, die Kinder und Jugendliche vor Gefahren schützen, das Verständnis und di Akzeptanz von jugendschutzrechtlichen Vorschriften sicherstellen und Orientierung bei der Mediennutzung und Medienerziehung fördern.

Wir begrüßen ausdrücklich die Bemühungen um eine Angleichung der Schutzziele in Sinne der Konvergenz zwischen den Gesetzeswerken. So wurde im Diskussionsentwurf JMStV der Schutz der persönlichen Integrität von Kindern und Jugendlichen, analog zum JuSchG aufgenommen. In anderen Bereichen verfolgen die Länder mit dem Diskussionsentwurf zum JMStV einen konträren Ansatz, wenn bestehende Konvergenzbrücken zwischen den Gesetzeswerken, wie z.B. die Geltung von gesetzlichen Altersfreigaben, zugunsten einer divergenten Regulierung abgerissen werden sollen. 2003 wurde mit Inkrafttreten des ersten JMStV das JuSchG novelliert, um beide Gesetze bestmöglich aufeinander abzustimmen. Seitdem hat sich die Medienlandschaft grundlegend verändert. Jede unilaterale Novellierung von JMStV oder JuSchG führt daher zwangsläufig an den zahlreichen Schnittstellen zu Auslegungsschwierigkeiten oder zu Widersprüchen.

medienpolitik.net: Gibt es von Seiten der Länder eine Begründung für diesen Schritt?

Linz: Zu den einzelnen Punkten im Diskussionsentwurf zur Novellierung des JMStV gibt es keine offizielle Begründung von Seiten der Länder. Der Regelungsentwurf zu abweichenden Freigaben war auch nicht Gegenstand der von den Ländern initiierten Fachgespräche. Wir hoffen, dass unsere Bedenken im weiteren Diskussionsprozess Berücksichtigung finden und der Vorschlag in dieser Form nicht weiterverfolgt wird.

medienpolitik.net: Sehen Sie generell eine Notwendigkeit, für eine Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages?

Linz: Wir begrüßen grundsätzlich die Bestrebungen der Länder für eine Weiterentwicklung des Jugendmedienschutzes und eine Stärkung des technischen Jugendmedienschutzes. Der gewählte Ansatz der Regulierung von Betriebssystemanbietern und Apps ist mit den bestehenden rechtlichen und praktischen Jugendschutzvorkehrungen jedoch teilweise nicht kompatibel und beinhaltet nach aktuellem Stand das Risiko, dass das bestehende Schutzniveau bei den etablierten Jugendschutzsystemen vor allem im Bereich der klassischen Websites gesenkt wird. Nach unserer Einschätzung werden weitaus differenziertere Jugendschutzlösungen mit dem Regulierungsansatz ausgebremst. Wünschenswert wäre, wenn den Aspekten der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sowie der Vermittlung von Medienkompetenz ein größeres Gewicht beigemessen würde.

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