Die Flucht nach vorn oder Angriff ist nicht immer die beste Verteidigung

Die ARD muss strengere Regeln für Transparenz und interne Kontrolle beschließen
22.08.2022. Von Helmut Hartung, Chefredakteur medienpolitik.net
Die ARD hat Freitagabend die Flucht nach vorn angetreten. Nach wochenlangem Schweigen haben acht ARD-Intendanten erkannt, dass der Rückweg versperrt ist. Eine aus ihrer Führungsriege wurde bei unmoralischem und möglicherweise rechtswidrigem Verhalten ertappt. Das Vertrauen der Öffentlichkeit ist nicht nur gegenüber dem RBB, sondern dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestört. Die Fragen, ob auch in anderen ARD-Anstalten ähnlich verschwenderisch mit dem Rundfunkbeitrag umgegangen wird, werden immer lauter. Aber nun hat der amtierende ARD-Vorsitzende klargestellt, nur der RBB ist das schwarze Schaf in der ansonsten blütenweißen ARD-Familie. Es mag ein Zufall sein, dass die Distanzierung von der RBB-Geschäftsleitung zu dem Zeitpunkt erfolgte, als durch das ZDF-Magazin „ZDF frontal“ bekannt wurde, dass die damalige RBB-Personalchefin Sylvie Deléglise – inzwischen Verwaltungsdirektorin des RBB, das RBB-Modell, mit seinen umstrittenen variablen Gehaltsteilen, im April 2022 auf einer Personalleiterkonferenz aller Rundfunkanstalten innerhalb der ARD vorgestellt hatte. Angeblich hätten die anderen ARD-Intendanten davon nichts erfahren. Entweder muss man an dieser Aussage zweifeln, oder das ARD-Interne Informationssystem funktioniert nicht. Das wäre genauso bedenklich.
Flucht nach vorn, ist eigentlich ein Widerspruch. Doch im Fall der ARD ist es die Flucht vor einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um den Wert des Rundfunkbeitrages und die Verantwortung gegenüber dem Bürger. Die „Fliehende“ greift gewissermaßen zum Präventivschlag nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Damit soll nicht behauptet werden, dass alle ARD-Intendanten „Raffkes“ sind, alle Geschäftsleitungen verschwenderisch mit den Beitragsgeldern umgehen, oder sich alle Rundfunk- und Verwaltungsräte von der Macht und Eloquenz einer Senderleitung einschüchtern lassen, aber anscheinend lassen Geschäftsordnungen, Compliance-Regeln und Informations- und Transparenzverpflichtungen innerhalb aller ARD-Sender noch zu viel Spielraum für Verstöße wie beim RBB.
Die Länder haben aufgrund der verfassungsmäßigen Politikferne gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, nur begrenzte Kontroll- und überhaupt keine „Durchgriffsmöglichkeiten“. Strafrechtlich relevante Taten, wie Vorteilsnahme und falsche Spesenabrechnungen, müssen durch die Staatsanwaltschaft ermittelt und geahndet werden, die Gehälter – auch von Intendanten – legt der Veraltungsrat fest. Mit dem neuen Medienstaatsvertrag werden die Möglichkeiten und die Aufgaben der Rundfunk- und Verwaltungsräte erweitert. Deshalb ist es wichtig, dass der Entwurf auch bald verabschiedet wird, wie es Rainer Robra, Minister und Chef der Staatskanzlei aus Sachsen-Anhalt, heute in der FAZ begründet und fordert. Sicher müssen auch andere und zusätzliche Kontrollmechanismen überprüft werden, aber der Spielraum der Gremien zur Kontrolle und der gesetzliche Zwang der Geschäftsleitungen sie dabei zu unterstützen, sind bereits heute größer als sie in der Regel genutzt werden.
„Natürlich ist die ‚Flucht nach vorn‘ nicht die angemessene Antwort, die Öffentlichkeit und Medienpolitiker vom größten und finanzstärksten Verbund des öffentlich-rechtlichen Rundfunks erwarten.“
Eine wichtige Rolle spielen die Staatsverträge über die einzelnen ARD-Anstalten. Oft sind es wie beim RBB, NDR und MDR, Verträge zwischen mehreren Ländern, über die meistens – wie beim MDR – jahrelang gestritten wird. Hier können detaillierte Regularien für die Transparenz der Intendanz oder auch Gehaltsobergrenzen für außertarifliche Verträge, wie für alle Direktoren, festgelegt werden. Der Brandenburger Medienstaatssekretär Dr. Benjamin Grimm hat in einem medienpolitik.net-Gespräch gesagt, dass im Entwurf zum neuen RBB-Staatsvertrag zahlreiche Vorschriften zur Stärkung der Transparenz vorgesehen seien. Rundfunk- und Verwaltungsrat sollen künftig beispielsweise die Tagesordnungen und die wesentlichen Ergebnisse ihrer Sitzungen veröffentlichen. Angesichts der Vorkommnisse der letzten Wochen würden „auch weitergehende Nachschärfungen im RBB-Staatsvertrag“ geprüft.
Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalts Dr. Reiner Haseloff, verwies am 18. August gegenüber der „Magdeburger Volksstimme“ darauf, dass sein Land 2021 bei den Gesprächen über die Novellierung des MDR-Staatsvertrages vorgeschlagen hatte, das Gehalt der Führungsspitze der Rundfunkanstalten an der Besoldung der Spitzen des Bundesverfassungsgerichts auszurichten. Dieser Vorschlag, der ursprünglich von Thüringen stammte, fand jedoch nicht die Zustimmung Sachsens. Deshalb hat ihn Sachsen-Anhalt in einer – nicht gesetzeswirksamen – Protokollerklärung zum Staatsvertrag, vermerkt. Die Länder – nicht nur Brandenburg und Berlin – müssen möglichst schnell ihre Schlussfolgerungen aus der Causa Schlesinger ziehen und wo immer gesetzlich machbar, die Rundfunkstaatsverträge anpassen.
Aber auch in der zweiten Phase der Strukturreform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bei der es um die Festsetzung des Rundfunkbeitrages gehen soll, muss die Verwendung des Beitrages eine wichtige Rolle spielen. Modelle für den künftigen Rundfunkbeitrag, wie das Indexmodell, sind sicher kaum geeignet, die Anstalten zu mehr Beitragsdisziplin zu bewegen. Reiner Haseloff sagte in dem zitierten Artikel der MV auch, dass er „unter den gegenwärtigen Umständen auf absehbare Zeit“ eine erneute Erhöhung des Beitrages für nicht vermittelbar hält. Es ist fragwürdig, ob alle Länder seiner Argumentation folgen.
Auch auf die KEF wird mehr Arbeit zukommen. Medienstaatssekretärin Heike Raab hat in der FAZ am 17. August gesagt, die wirtschaftliche Kontrolle führe „zu einem großen Teil die KEF aus, die sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch von der EU-Kommission als unabhängige Prüfinstanz anerkannt ist.“ In der KEF seien auch Rechnungshofpräsidentinnen und -präsidenten vertreten. Die Vorgänge beim RBB sind jedenfalls nicht von der KEF „ausgegraben“ worden, sondern von einem Wirtschaftsmedium. Die Anstalten müssen der KEF sämtliche Unterlagen und Daten übermitteln, die die KEF verlangt. Sicher haben die Vorgänge beim RBB, die KEF auch auf weitergehende Fragen und Informationsbitten als bisher, gebracht.
Natürlich ist die „Flucht nach vorn“ nicht die angemessene Antwort, die Öffentlichkeit und Medienpolitiker vom größten und finanzstärksten Verbund der öffentlich-rechtlichen Rundfunks erwarten. Die ARD muss in Bezug auf die Verwendung des Beitrages und der internen Kontrolle die oft angemahnten Reformen endlich einleiten. Dazu gehört, die mehrfach geforderte finanzielle und fachliche Ausstattung der Gremien zu verbessern und diese als unabhängige Kontrollorgane in alle relevanten Entscheidungsprozesse einzubinden. Im Oktober wollen die Länder den Entwurf des novellierten Medienstaatsvertrages unterschreiben. Es wäre sicher eine gute Unterstützung für dieses Vorhaben, wenn die öffentlich-rechtlichen Anstalten bis dahin in einer Selbstverpflichtung schärfere Regeln für die Verwaltungsausgaben, inklusive der Intendantengehälter und eine Stärkung der Gremien, festlegen würden.