Wenn das Aussterben der Eisbären verhandelbar wird

von am 28.09.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Gesellschaftspolitik, Kommunikationswissenschaft, Medienkompetenz, Medienpolitik, Medienregulierung, Medienwissenschaft, Plattformen und Aggregatoren

Wenn das Aussterben der Eisbären verhandelbar wird
Dr. Tobias Schmid + Dr. Eva Flecken

Defizite bei Einordnung wissenschaftsjournalistischer Inhalte

28.09.2022. Von Dr. Eva Flecken und Dr. Tobias Schmid – beide Direktoren sind die Themenbeauftragten der Landesmedienanstalten zu Desinformation und journalistischen Sorgfaltspflichten

Gute Nachrichten! Wir befinden uns doch noch in einem aufgeklärten oder zumindest aufklärerischen Zeitalter. Nicht allein der Sturm und Drang hat uns ergriffen, auch wenn sich dieses Gefühl bei einem Blick auf Twitter-Timelines, Boulevard-Schlagzeilen und Clickbait-Logik bislang einstellen mag. Die Politik erklärt die Zeitenwende zum Modus Operandi unserer Gegenwart, Emotionen prägen das Weltgeschehen und somit auch die Nachrichtenlage. Der Versuch des kriegerischen Unterjochens einer Nation, besorgniserregende Klimakatastrophen und epidemischer Notstand versetzen uns in einen Zustand ubiquitärer Alarmbereitschaft. Nicht selten mündet dies darin, dass unsere persönlichen Emotionen anerkannten Fakten diametral gegenüberstehen. Wir alle mussten und müssen unser Verhältnis von Gefühlen auf der einen und Fakten auf der anderen Seite fortwährend überprüfen. Nicht zuletzt die weltweite Pandemie sorgte dafür, dass die Wahrheit und als ihre Anwältin die Wissenschaft ins Zentrum unserer Debatten rückt. Das stellte auch eine Herausforderung für den Journalismus dar. Medienhungrige Scharlatane mussten von wahren virologischen und manchmal auch medienhungrigen Wissenschaftlern unterschieden werden.

Plötzlich diskutierte die wahrnehmbare Welt nicht nur über epidemische Kurven, sondern auch über wissenschaftliche Arbeit an sich. Gute Studien, schlechte Studien – gerichtet wurde und wird darüber öffentlich in Talk-Shows,Artikeln, Podcasts und YouTube-Videos. Ziemlich interessant ist bei alldem zunächst einmal der mediale Ort, an dem sie sich treffen – die Wissenschaft und ihre Rezipientinnen und Rezipienten. Diese Orte der Begegnung sind vorrangig das lineare Fernsehen, dann (Online-)Zeitungen und -Zeitschriften und darauf folgt YouTube wie die aktuelle Studie „Wissenschaftsjournalismus auf YouTube“ der Berliner Senatskanzlei und der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb) in Kooperation mit der Landesanstalt für Medien NRW und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz zeigt. Ausgerechnet die Geburtsstätte der Katzenvideos dient also der Rezeption wissenschaftlicher Themen? Ja, auch das zeigt die Studie, weil hier niedrigschwellig, anschaulich, knapp und unterhaltsam wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt werden, in welcher Qualität auch immer. Wird danach gefragt, was der bevorzugte, nicht der tatsächliche, Informationsweg ist, landet YouTube sogar hinter dem Fernseher auf Platz zwei. Es verwundert daher nicht, dass jeder dritte YouTube-Nutzende häufig Videos zu wissenschaftlichen Themen sucht und findet).

„Die zunehmende Reichweite von Desinformation, ihre Verbreitungsgeschwindigkeit und die Raffinesse ihrer technischen Aufbereitung haben das Potenzial, den demokratischen Diskurs und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden.“

Schön, selbst an dem Ort, an dem wir nach Kochrezepten, Tipps zur Erziehung von Welpen oder Anleitungen zum Reparieren einer Waschmaschine suchen, stoßen wir auf wissenschaftliche Diskurse und rezipieren diese. Soweit so gut. Doch wie ist die Wirkung dieser Videos auf uns, wem schenken wir warum unseren Glauben oder auch unser Vertrauen? In Zeiten von vermeintlich verhandelbaren und alternativen Fakten eine Frage, die im Mittelpunkt der genannten Studie stand. Um die Frage zu beantworten, wurden den Befragten zwei Wissenschaftsvideos bei YouTube zur Bewertung präsentiert: Gegenstand der Beiträge ist jeweils der Klimawandel. Im einen Beispiel werden zwar Quellen genannt, die Quellenlage zum Thema wird jedoch verzerrt dargestellt. Grafiken und Statistiken werden verkürzt interpretiert. Meinung und Information sind nicht klar getrennt. Die Kernbotschaft dieses Videos ist, dass Eisbären keinesfalls existenziell vom Klimawandel bedroht seien. Ein anderes Beispiel stellte ausgewogen und sachlich die Quellenlage und verschiedene Positionen zum Thema Solar-Geo-Engineering dar und unterschied explizit zwischen Meinung und Information.

Zu vier Ergebnissen kommt die Studie:

• Ergebnis 1: Eher subjektive Kriterien entscheiden über die Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftsvideos bei YouTube. Das eigene Wissen scheint am hilfreichsten für die Einordnung, dann wandert der Blick auf journalistische Sorgfaltskriterien wie Quellenangaben und das Trennungsgebot. Aber auch die Aufmachung des Videos ist bedeutsam.

• Ergebnis 2: Glaubwürdigkeit ist leicht vorzutäuschen. So ist die schiere Anzahl von Quellen ausreichend, um Seriosität auszustrahlen. Nur ein Bruchteil der Nutzenden zieht in Betracht, die Quellen kritisch zu hinterfragen. Die von YouTube selbst angebotenen Hinweise unter den Videos werden zumeist nicht wahrgenommen oder nicht richtig interpretiert. Content-Anbieter können sich diese Mechanismen leicht zu Nutze machen und gezielt den Anschein wissenschaftlicher Authentizität erwecken. In solchen Fällen haben wir es mit professioneller Suggestion von Objektivität zu tun.

• Ergebnis 3: Suggerierte Faktizität wirkt. So hat sich rund ein Drittel der Befragten durch das Negativbeispiel von seiner ursprünglichen Meinung abbringen lassen und zweifelt nach Anschauen des Videos daran, ob Eisbären vom Aussterben bedroht sind.

• Ergebnis 4: Vertrauen entscheidet. Wer niedriges Medienvertrauen aufweist, bewertet das Eisbären-Sterben-Leugnen-Video am positivsten. Doch nicht nur die Einstellung zu den Medien, sondern auch zur Wissenschaft ist ausschlaggebend: Befragten mit höherem Vertrauen in die Wissenschaft gelingt es eher, die Unterschiede auszumachen.

Was machen Medienregulierer nun mit diesen Ergebnissen? Was kann denjenigen entgegengesetzt werden, die unseren inneren „Vertrauens“-Kompass mit ihren Tricks, die ein Zerrbild der Wirklichkeit erzeugen, auf einen völlig neuen Kurs lenken wollen? Wie können wir Nutzende schützen oder neudeutsch „enablen“?

Die zunehmende Reichweite von Desinformation, ihre Verbreitungsgeschwindigkeit und die Raffinesse ihrer technischen Aufbereitung haben das Potenzial, den demokratischen Diskurs und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden. Daher ist die Beantwortung der aufgeworfenen Fragenlängst zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe geworden. Und natürlich ist das auch unsere Aufgabe – die Aufgabe einer Medienaufsicht, die vor allem dem Schutz der demokratischen Medienordnung verpflichtet ist.

Mit Inkrafttreten des neuen Medienstaatsvertrags im November 2020 haben die Landesmedienanstalten konsequenterweise auch die Aufgabe erhalten, gegen die Missachtung journalistischer Sorgfaltspflichten und die damit verbundene Verbreitung von Desinformation im Internet vorzugehen. Wo im Mantel vermeintlicher Objektivität systematisch und mit hohen Reichweiten destabilisiert wird, muss reguliert werden – stets mit wachem Blick auf den Schutz des Grundrechts der Meinungsfreiheit. Gleichzeitig kann genau dieser Schutz nur dann erreicht werden, wenn regulatorische Ansätze mit einer zielgerichteten Vermittlung von Informations- und Nachrichtenkompetenz Hand in Hand gehen.

Mit diesem zweiseitigen Ansatz werden Nutzende vor systematischer Desinformation und Manipulation regulatorisch geschützt und gleichzeitig in die Lage der selbstbestimmten Mediennutzung versetzt. Gesellschaftlich gesprochen schaffen wir so die Grundlagen für vielleicht hitzige, aber fair-geführte, weil auf Augenhöhe geführte öffentliche Debatten. Damit wird auch klar, was Medienregulierung eben nicht bedeutet: Weder die Unterbindung von Meinungen, seien sie noch so geschmacklos, oder die Durchsetzung eines finalen Wahrheitsanspruchs ist unser Geschäft. Wir sind für die Leitplanken medialer Diskurse verantwortlich – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein einfaches Beispiel: Wer als Journalist auftritt, für sich in Anspruch nimmt, ein solcher zu sein, so sein Geld verdient, der muss sich auch so verhalten, im Einklang mit den Normen und Grundlagen des Journalismus. Alles andere wäre Täuschung. Simple as that.

Im Kampf gegen Desinformationen müssen zentrale Elemente wie das Vertrauen in den Journalismus, das Bewusstsein für die Wirkungsformen von Desinformation sowie selbstbestimmte Mediennutzung gesamthaft gedacht werden – von uns allen. Sie zusammen bilden die Grundpfeiler demokratischer Resilienz in Zeiten von Falschmeldungen, Deep Fakes und Verschwörungserzählungen. Das Ineinandergreifen von Regulierung und Förderung unserer Informations- und Nachrichtenkompetenz ist damit Voraussetzung einer freiheitlichen Medienordnung. Sie schützt und verteidigt unsere demokratischen Grundwerte und erlaubt jedem und jeder Einzelnen, die innere Kompassnadel zu stabilisieren und den Kurs zu halten.

Der bundesweiten Ergebnisbericht ist unter https://www.mabb.de/files/content/document/FOERDERUNG/Forschung/Ergebnisbericht_Wissenschaftsjournalismus_auf_YouTube.pdf veröffentlicht.

Darüber hinaus ist eine Sonderauswertung für Berlin unter https://www.mabb.de/files/content/document/FOERDERUNG/Forschung/Ergebnisbericht_Wissenschaftsjournalismus_auf_YouTube_Sonderauswertung_Berlin.pdf abrufbar.

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