Ein großer Wurf, der nicht weit fliegen wird

von am 04.10.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, EU-Politik, Medienordnung, Medienpolitik, Medienrecht, Medienregulierung, Medienwirtschaft

Ein großer Wurf, der nicht weit fliegen wird
Prof. Dr. Christoph Wagner, Rechtsanwalt, Berlin

Zum Entwurf des Media Freedom Act der EU-Kommission

04.10.2022. Von Prof. Dr. Christoph Wagner

Nachdem die EU-Kommission mit dem Digital Markets Act und Digital Services Act zwei wichtige Regelungsvorhaben erstaunlich schnell auf den Weg brachte und damit den großen US Plattformen weitreichende Vorgaben auferlegt, geht sie mit dem nun vorgestellten Entwurf eines „Media Freedom Act“ ans „Eingemachte“ der nationalen Medienordnungen, das bislang der nationalen Gesetzgebung vorbehalten war. Es geht um die Sicherung von Medienfreiheit, Pluralismus und journalistischer Unabhängigkeit in öffentlichen und privaten Medienhäusern, einschließlich der Presse, und um Vorgaben für die Medienkonzentrationskontrolle und die Reichweitenmessung für die Werbevermarktung. Damit hat sich die Kommission viel vorgenommen in einer Zeit, in der die Konsensfindung schwerer wird, wahrscheinlich zu viel. 

Soweit in Art. 4 EMA-E die Absicherung der Medien von staatlichen Einflussnahmen formuliert wird, entspricht dies unserem Verständnis von der Staatsfreiheit der Medien und dürfte vor allem problematische Entwicklungen in Polen und Ungarn im Auge haben. Deren erbitterter Widerstand dürfte daher vorprogrammiert sein. Art. 5 EMA-E möchte speziell die Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medienhäuser absichern, indem für die Wahl ihrer Führung ein transparentes, offenes und diskriminierungsfreies Verfahren vorgeschrieben wird, die Amtszeit ausreichend bemessen ist und die Abberufung nur aus Rechtsgründen möglich sein soll, die auch gerichtlich überprüft werden können. Das sollte aus deutscher Sicht eigentlich selbstverständlich sein, weshalb die Ablehnung durch den ARD Vorsitzenden etwas verwundert. Zumal die Unabhängigkeit der Anstalten durch eine angemessene und verlässliche Finanzierung garantiert werden soll, wie dies in Deutschland durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährleistet wird. Eine zusätzliche EU-rechtliche Finanzierungsgarantie ist aber sicher kein Nachteil. Soweit, so aus deutscher Sicht wohl noch unkritisch und wohl auch ohne große Probleme umsetzbar.

Wohl nicht zu Ende gedacht, und aus deutscher Sicht schon deutlich schwerer verdaulich, jedenfalls für die weniger streng regulierte Presse, sind die Bestimmungen über die redaktionelle Unabhängigkeit in Art. 6 MFA-E, die dem „Editor“, also Herausgebern und/oder Redakteuren die individuelle Freiheit einräumen soll, im Rahmen der Berufsausübung frei (so wie jetzt formuliert auch unabhängig vom Verleger bzw. der Intendanz) über die Veröffentlichung von Themen und Meinungen zu entscheiden. Eine solche „innere“ Pressefreiheit oder Medienfreiheit gibt es im deutschen Mediensystem weder im „binnenpluralen“ öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wo das Prinzip der Intendantenverantwortlichkeit gilt, noch schon gar in der Verleger-dominierten „außenpluralen“ Presse, bei der sich die Pluralität der Meinungen erst über die Mehrzahl unterschiedlicher Presseorgane ergeben soll, die als „Tendenzbetriebe“ selbst regelmäßig einer verlegerischen Linie folgen – und diese dann auch in den Redaktionen durchsetzen können müssen. Konzepte für „Redaktionsstatute“, die die Verlegerdominanz brechen sollten, gab es in der deutschen Medienpolitik von Zeit zu Zeit, sie konnten sich aber nie in der Weise durchsetzen, dass die individuelle journalistische Freiheit gegenüber der Verlegerfreiheit gesetzlich garantiert wurde.  Im privaten Rundfunk gilt einzig im NRW-Lokalfunk ein sehr komplexes, sogenanntes Zwei-Säulen-Modell, dass die programmliche Unabhängigkeit einer Veranstaltergesellschaft vom wirtschaftlichen Eigentümer abgrenzen und sichern soll. Der Entwurf widerspricht damit sowohl der presserechtlichen Tendenzfreiheit als auch dem Prinzip der Intendantenverantwortlichkeit im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, weshalb die harsche Ablehnung durch den BDZV („Medienunfreiheitsakt“) und der ARD nicht überraschen kann.

„Insgesamt ein vielseitiger und weitreichender Entwurf zur Medienfreiheitssicherung, der schon aus deutscher Perspektive nicht leicht verdaulich sein dürfte.“

Art. 17 MFA-E will schließlich die Medienfreiheit auf sehr großen Plattformen (über 45 Millionen Nutzer) sichern, die auch schon speziellen Vorgaben nach dem Digital Services Act unterliegen. Während sich der DSA aber vor allem um Rechtsgüterschutz bemüht und gegen die Verbreitung von  Desinformation und Hassrede richtet, geht es dem MFA um die verfahrensmäßige Sicherung der Freiheit der Inhalte-Anbieter gegenüber den Plattformbetreibern und Intermediären. Dabei privilegiert der Entwurf journalistische Inhalte, die sich auf der Plattform als staatlich unabhängige Medien-Diensteanbieter deklarieren können, die anerkannten journalistischen Standards verpflichtet sind. Inhalte solcher Anbieter sollen nicht ohne weiteres gelöscht werden dürfen, wenn sie gegen die Community Standards der Plattform (AGB) verstoßen, sondern nur nach Mitteilung einer begründeten Entscheidung, die auch die Auswirkungen der Löschung auf die Meinungsfreiheit und den Medienpluralismus reflektiert. Die von der Löschung betroffenen Inhalte-Anbieter müssen eine effektive Beschwerdemöglichkeit haben, d.h. die Plattformanbieter müssen sich mit der Beschwerde befassen und – im Wiederholungsfall – in einem ernsthaften Dialog mit dem betroffenen Anbieter mit um eine einvernehmliche Lösung und die Vermeidung künftiger Löschungen bemühen. Die Inhalteanbieter können sich bei Erfolglosigkeit der Beschwerde an das nach dem MFA neu zu bildende zentrale EU Medienaufsichtsgremium wenden (das „Board“, s. noch unten).

Ob Plattformanbieter rechtlich nicht verbotene Inhalte überhaupt löschen dürfen, ist bislang im deutschen Recht nicht geregelt. Die Frage ist umstritten und wird auch von der Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Das BVerfG hat die Sperrung des Social Media Accounts der rechtsradikalen Partei Der III. Weg vor der letzten Europawahl per einstweiliger Anordnung untersagt, eine Hauptsacheentscheidung ist bislang dazu nicht ergangen. Der BGH erkennt die Löschungsmöglichkeit von Social Media Anbietern auch von rechtlich an sich nicht verbotenen Inhalten grundsätzlich an, trifft aber jeweils Einzelfallentscheidungen unter Berücksichtigung aller Umstände. Das nach der letzten NetzDG-Novelle eingeführte Beschwerdeverfahren gegen Löschungen ist derzeit mangels EU Notifizierung durch eine Entscheidung des VG Köln suspendiert.  Dass die Löschung von Inhalten oder Sperrung von Accounts (wie z.B. das von Donald Trump) nicht der Willkür von Anbietern großer sozialer Medienanbieter ausgesetzt bleibt, sondern gesetzlich geregelt wird, schließt eine Lücke im deutschen Medienrecht und ist grundsätzlich sinnvoll. Auch die Privilegierung von journalistischen Angeboten, die sich auf der Plattform als solche deklarieren und damit auch namentlich zu erkennen geben, ist ein gelungener differenzierender Ansatz, da er die Löschung anderer, insbesondere anonymer Posts ohne die verfahrensmäßigen Erschwernisse weiterhin ermöglicht.  Richtig und auch nach deutschem Verfassungsrecht zulässig sollte auch die Möglichkeit sein, rechtlich eigentlich zulässige Inhalte aufgrund von Verstößen gegen Community Standards zu löschen, weil das die Verantwortlichkeit der Plattformanbieter ernst nimmt und ihnen kraft ihres virtuellen Hausrechts die Möglichkeit gibt, die Plattform von problematischen und unerwünschten Inhalte freizuhalten.

Sehr weitreichend und nicht weniger vage sind die Anforderungen des MFA-E an das Medienkonzentrationsrecht der Mitgliedstaaten. Es muss – anders als bislang in Deutschland – alle Mediengattungen umfassen, also auch die Print- und Onlinemedien. Jeder Medienzusammenschluss mit spürbaren Auswirkungen auf den Medienpluralismus oder die redaktionelle Unabhängigkeit muss einer ex-ante Kontrolle durch die Medienaufsicht unterworfen werden, die sich von der kartellrechtlichen Fusionskontrolle unterscheidet.  Was im deutschen Medienrecht bislang nur für das Fernsehen gilt und von der KEK eher wirkungslos praktiziert wird, müsste also gattungsübergreifend erweitert werden. Wann Medienzusammenschlüsse wegen negativer Auswirkungen auf den Medienpluralismus oder die redaktionelle Unabhängigkeit zu untersagen sind, konkretisiert der MFA-E nicht. Er definiert nicht einmal die zentralen Prüfungskriterien Medienpluralismus und journalistische Unabhängigkeit. Dies bliebe also der Ausgestaltung der Mitgliedstaaten überlassen, was dem Ziel einer EU Harmonisierung im Binnenmarkt sicher zuwiderläuft. Medienpluralismus ist ein schillernder und ohne -Schwellenwerte für Reichweiten oder Marktanteile kaum greifbarer Begriff. Auch konzeptionell gibt es mit Binnenpluralismus/Außenpluralismus bekanntlich sehr unterschiedliche Methoden der Pluralismus-Sicherung.  Angesichts der vielen Variablen und Unterschiede der einzelnen Mediengattungen ist es jedenfalls in Deutschland kaum vorstellbar, dass innerhalb der relativ kurzen Umsetzungsfrist ein stimmiger Umsetzungsplan auf Länderebene konsensfähig wird.

„Die Ablehnung durch Verlage und Landesrundfunkanstalten, aber auch die privaten Veranstalter ist bereits formuliert und die Bundesländer werden einen so tiefen Eingriff in ihre Medien-Gesetzgebungskompetenz schon reflexartig zurückweisen.“

Ebenfalls alles andere als trivial sind die Vorgaben für die Reichweitenmessung in Art. 23 MFA-E, weil dies die Währung betrifft, auf deren Grundlage sich die kommerziellen Medienhäuser über Werbung refinanzieren. Sie soll den Grundsätzen der Transparenz, Unparteilichkeit, Inklusion, Proportionalität, Diskriminierungsfreiheit und Verifizierbarkeit entsprechen, was immer darunter im Einzelnen auch zu verstehen sein mag.  Mühsam gefundene Branchenkompromisse der Gesellschaft für Konsumforschung, AGMA oder von Nielsen könnten angesichts dieser neuen Vorgaben in Frage gestellt werden und eine Phase der Unsicherheit für die Werbe-Refinanzierung bedeuten. Auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder Unzufriedenheit mit einzelnen Aspekten der Reichweitenmessung gab, und auch das Bundeskartellamt damit wiederholt befasst war, ist eine Währung nur dann etwas Wert, wenn sie von allen akzeptiert wird. Schon das ist jedenfalls ein Wert an sich, dessen Erhalt bei der Einführung neuer Maßstäbe durch den MFA jedenfalls nicht sicher ist. Jede Änderung dürfte auch gerichtlich oder kartellbehördlich untersucht werden, und solche“ Verfahren sind zeitaufwendig.

Schließlich enthält der Entwurf noch weitreichende Institutionelle Vorgaben, insbesondere die Errichtung eines „Board“ aus Vertretern aller Mitgliedstaaten, das die bisherige – weniger straffe – Zusammenarbeit in der European Regulators Group ERGA ersetzen soll.  Das Board soll mit Zwei-Drittel-Mehrheit entscheiden, also keinem Veto einzelner Mitgliedstaaten unterliegen. Das Board soll in vielen nach dem MFA zentralen Fragen der Pluralismus-Sicherung zuständig sein und Empfehlungen geben können. Das ist weitreichend, auch wenn verbindliche Weisungs- oder Eingriffsrechte in die Angelegenheiten der Mitgliedstaaten nicht vorgesehen sind. Mit Blick auf die staatliche Unabhängigkeit ist problematisch, dass das Board auf ein Sekretariat der EU-Kommission angewiesen ist, um seine Entscheidungen vorzubereiten und umzusetzen. Auch wenn dieses Sekretariat keine eigenen Entscheidungsbefugnisse hat, wird es faktisch einen erheblichen Einfluss auf die Tätigkeit des Board nehmen können. Denn wer die Arbeit in der Sache macht, wird erfahrungsgemäß auch die Inhalte der Entscheidungen steuern können. Das wird in Deutschland verfassungsrechtlich kritisch gesehen werden.

Insgesamt also ein vielseitiger und weitreichender Entwurf zur Medienfreiheitssicherung, der schon aus deutscher Perspektive nicht leicht verdaulich sein dürfte: die Ablehnung durch Verlage und Landesrundfunkanstalten, aber auch die privaten Veranstalter ist bereits formuliert und die Bundesländer werden einen so tiefen Eingriff in ihre Medien-Gesetzgebungskompetenz schon reflexartig zurückweisen. Mit Blick auf die Regelungen zur Staatsferne dürften jedenfalls Polen und Ungarn das Vorhaben blockieren, und anders als bei den gegen die US-Plattformen gerichteten Regelungen des DSA und DMA wird hier auch die Konsensfindung auf EU-Ebene viel schwieriger werden, weshalb abzuwarten bleibt, ob dieser dem Anspruch nach große Wurf überhaupt fliegen wird.

Prof. Dr. Christoph Wagner, Rechtsanwalt und Notar, ist Honorarprofessor an der Universität Potsdam und lehrt Europäisches Medienrecht und zu Digitalisierungsthemen.

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