Vielfalt, die sich fordert

von am 10.10.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Gesellschaftspolitik, Kommunikationswissenschaft, Medienethik, Medienordnung, Medienwissenschaft, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Social Media

Vielfalt, die sich fordert
Timo Meynhardt, Handelshochschule Leipzig

Die Vielfaltsicherung ist ein zentraler Mechanismus des Gemeinwohls

10.10.2022. Von Prof. Dr. Timo Meynhardt, Handelshochschule Leipzig

Der aktuelle Krisenmodus, in dem wir uns befinden, macht es offenbar besonders dringlich darüber zu sprechen, wie wir in der Öffentlichkeit gemeinsam Lösungen zur Bewältigung entwickeln und worin dabei die Qualität des Öffentlichen besteht. Gemeint ist dieser Ort zwischen nicht vermachteter Zivilgesellschaft und dem vermachteten politischen System – also genau diese Sphäre, in der sich genau jene kollektiven Einstellungen bilden, die dem Einzelnen als Orientierung in der Gesellschaft dienen können und seinen Gemeinsinn ansprechen. Sollte nun die historisch mühsam erarbeitete Idee des Öffentlichen durch Fragmentierung und Entgrenzung ins Wanken geraten, entwickeln sich unter Umständen neue Orte und vielleicht auch Nicht-Orte für das Gemeinwohlerleben, an denen neue Formen öffentlicher Kommunikation entstehen. So interessant dies erscheinen und manchmal auch befreiend dies sein mag, so wichtig bleibt der stete Versuch, immer wieder Brücken zu bauen und auf Verständigung zu setzen.

Die COVID-19-Pandemie, der Ukraine-Krieg und die alles dominierende Klimakrise erfordern schon allein im Eigeninteresse Aushandlungsprozesse, bei den Polarisierungen und Zerreißproben vermieden werden. Doch worauf können wir setzen, wenn wir heute von der Öffentlichkeit sprechen? Einen anregenden Versuch macht Jürgen Habermas, spricht 60 Jahre nach seinen Betrachtungen dazu von einem erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit. Niemand vermag heute zu sagen, ob wir es nicht sogar eher mit einer Strukturkrise der Öffentlichkeit zu tun haben, weil – so Habermas – „die Digitalisierung der öffentlichen Kommunikation die Wahrnehmung (der) Grenze zwischen privatem und öffentlichem Lebensbereich verschwimmen lässt, obgleich sich die sozialstrukturellen Voraussetzungen für diese auch rechtssystematisch folgenreiche Unterscheidung nicht verändert haben.“ (2022, S. 29)

Man muss das nicht verfallstheoretisch deuten und Krisen können der Keim für Neues sein. Die Auflösung starrer Grenzen und eine neue Pluralität in der Sender- und Empfängerlandschaft hat durchaus emanzipatorische Züge und erleichtert für viele die Teilhabe am öffentlichen Diskurs. Wie man es auch akademisch wendet: Für die öffentlich-rechtlichen Medien ist damit auf alle Fälle ein Auftrag im Auftrag verbunden, den Jürgen Habermas so formuliert: „Es ist keine politische Richtungsentscheidung, sondern ein verfassungsrechtliches Gebot, eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit und einen deliberativen Charakter der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht.“ (2022, S. 67)

Wenden wir uns den Leitbegriffen unserer Konferenz „Vielfalt“ und „Gemeinwohl“ zu. Ich möchte die beiden etwas genauer in den Blick nehmen und einige sozialtheoretische Bezugspunkte ins Spiel bringen. Zunächst zur Vielfalt: In der Begründung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Anpassung des Rundfunkbeitrages im Sommer 2021 wird der Begriff allein 13 mal genutzt. Im Kern geht es dabei immer um die Sicherung von Vielfalt – sei es in den Angeboten oder in den Meinungen. Im Medienstaatsvertrag findet sich ein eigenes Unterkapitel dazu. Die Diskussion um Vielfalt bzw. Diversity ist mittlerweile in der Gesellschaft omnipräsent. Schaut man allerdings etwas weiter in die Vergangenheit zurück, dann fällt auf, welche erstaunliche Entwicklung der Vielfaltsbegriff genommen hat. Er hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte. So richtig Karriere macht er erst seit den 1970er – und da eher im Englischen mit „Diversity“ –, insbesondere zunächst im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen und Emanzipationsbestrebungen. Die Präsenz reicht heute reicht bis hin zur „Charta der Vielfalt“, der sich seit 2007 viele Unternehmen und Organisationen angeschlossen haben. Natürlich gab es den Begriff schon viel früher. In der deutschen Sprache wird das Wort „Vielfalt“ mindestens seit dem 18. Jahrhundert nachgewiesen. Offenkundig als Gegenbegriff zur „Einfalt“ gedacht, sollte „das Vorhandensein in vielen Arten, große Mannigfaltigkeit“ betont werden. Allein in der Evolutionsbiologie wurde früh die Vielfalt der Arten als ein evolutionärer Vorteil in der Anpassung an veränderte Lebensbedingungen herausgestellt. Oder wie der Evolutionsbiologie Edward O. Wilson in seinem Buch „The Diversity of Life“ formuliert: „Homogenität bedeutet Verletzbarkeit.“ Vielfalt ist also ein Schutzmechanismus im Umgang mit Veränderung und damit evolutionär sinnvoll.

„Unter „Gemeinwohl“ verstehen wir jene kollektiven Werte und Institutionen, die das Miteinander prägen, dem Einzelnen Orientierung bieten und im besten Fall eine Ressource für ein gelingendes Leben sind, in dem die Einzigartigkeit zum Tragen kommt.“

Die Grundidee von Vielfalt in Form von Differenzen zwischen Menschen und Gruppen ist seit der Antike in Literatur und Philosophie ein schillerndes Thema. Und auch in den modernen Sozialwissenschaften ist das Thema von Anfang präsent. Bezeichnend ist allerdings auch, dass weder Meyers Konversationslexikon von 1897 das Stichwort „Vielfalt“ kennt, noch die Encyclopedia of the Social Sciences von 1930 einen Eintrag „Diversity“ hat. Mehr noch: Bis heute tut sich Wikipedia mit dem Begriff „Vielfalt“ schwer. Mit „Diversity“ sieht es nur etwas besser aus. Ich kann hier und heute den unterschiedlichen Diskursen um Anerkennung, Inklusion oder Exklusion, Minderheiten und Mehrheiten nicht nachspüren, in denen Vielfaltsargumente in unterschiedlichsten Facetten zum Einsatz kommen und ihre rechtlichen Normierungen gefunden haben.

Ich möchte stattdessen kurz auf ein Kernproblem eingehen, welches dann auch im Zusammenhang mit der Gemeinwohlfrage wieder auftaucht. Es geht um die Paradoxie, einen nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Gleich- und Sonderbehandlung, so zu sein wie alle und so wie keiner. Im Umgang damit muss man Annahmen treffen: Leiten sich besondere Rechte des Einzelnen aus der Zugehörigkeit von Gruppen – so die angelsächsische Tradition – ab oder werden gerade dem Einzelnen Rechte als Bürger: in der Tradition der europäischen Aufklärung bzw. der französischen Revolution zugebilligt? Die Antworten darauf müssen sich immer neu bewähren und offenkundig leben wir in einer Zeit einer neuen Verunsicherung und des Aufbrechens alter Gewissheiten – oder wie es meine Vorrednerin Frau Professor Wille ausdrückte in einer „großen Unordnung“. Sehr plastisch wird die Doppelnatur des Menschen – so zu sein wie keiner und doch so wie alle – in einem Ausspruch der Ethnologin Margaret Mead: «Always remember that you are absolutely unique. Just like everyone else.» Hier klingt etwas an, was auf das Gemeinsame, ja Verbindende verweist. Denn Einzigartigkeit einer Person kann sich nur dadurch zeigen, indem sie sich von etwas Allgemeinerem abhebt – wie die Figur vor einem Hintergrund.

Dies bringt mich zu einem zweiten Linienbegriff für unsere Konferenz, zum Gemeinwohl. Zunächst: Gemeinwohl geht uns alle an – eben «like everyone else». Zugehörigkeit, Unterstützung und Anerkennung sind grundlegende Bedingung für das Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft. Ein Gemeinwesen ist daher immer auf verantwortungsvolles Handeln angewiesen, das dem Gemeinwohl eine Stimme gibt und es mitgestaltet. Ein demokratisches Gemeinwesen ist als solches nur so lebensfähig, wie es von den Menschen getragen und geprägt wird. Das «gute Leben» erfordert von allen, etwas beizutragen. Unter „Gemeinwohl“ verstehen wir jene kollektiven Werte und Institutionen, die das Miteinander prägen, dem Einzelnen Orientierung bieten und im besten Fall eine Ressource für ein gelingendes Leben sind, in dem die Einzigartigkeit zum Tragen kommt. Oder maximal vereinfacht: „to flourish in community“. Nur: Sowohl das Gemeinwohl als auch die in diesem Kontext geförderten oder auch unterdrückten Individualitätsformen sind wandelbar und müssen immer neu bestimmt werden. Dies ist der Kern eines prozeduralen Gemeinwohlbegriffs, wie moderne Verfassungen demokratischer Staaten dies nahelegen. Menschen sind in ihrem Tätigkeitsein auf entsprechende natürliche, materielle, kulturelle und soziale Ressourcen angewiesen. Die Gestaltung dieser Rahmenbedingungen hängt ihrerseits von Menschen ab, die ein Bewusstsein für den Wert dieser Voraussetzungen haben und bereit sind beizutragen und sie, wo nötig, zu verteidigen. Insofern ist Gemeinwohl einerseits eine Voraussetzung des persönlichen und kollektiven Freiheitserlebens und andererseits selbst Ausdruck einer immer wieder hervorzubringenden zivilisatorischen Leistung.

„Es scheint angesichts von Fragmentierung und Entgrenzung der Öffentlichkeit immer schwerer auszuhandeln, worin das Gemeinwohl bestehen soll.“

Möchte man nun das Gemeinwohl inhaltlich bzw. substanziell bestimmen, kommen die Worte dagegen nicht so schnell und flüssig daher. Im deutschen Grundgesetz taucht der Begriff Gemeinwohl wohlweislich nicht auf, waren die Autoren des Textes doch der Auffassung, dass sich dieses – gerade in Anbetracht der Erfahrungen aus dem Dritten Reich – dann am besten einstellt, wenn die individuellen Grundrechte besonders geschützt werden. Es soll jeweils durch aufwändige Verfahren ermittelt wird, wo und wie sich die Einzelinteressen treffen und innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens die Gemeinwohlbelange berücksichtigt werden. In Österreich und der Schweiz ist dies ebenfalls ein tragender Gedanken in den Verfassungstexten. Es geht ja jeweils um eine Staatsverfassung, nicht um eine Gesellschaftsverfassung. Heute ist man allerdings etwas vorsichtiger, auf die deliberativen Prozesse zu vertrauen oder diese gar allein den Marktkräften zu überlassen. Die unsichtbare Hand (Adam Smith) des Marktes braucht ganz offensichtlich eine sichtbare Hand des Staates. Nur scheint es angesichts von Fragmentierung und Entgrenzung der Öffentlichkeit immer schwerer auszuhandeln, worin das Gemeinwohl bestehen soll. Ist es das wohlverstandene Eigeninteresse, die staatlich vermittelte Abwägung von Individualnutzen und Systemnutzen?

Die Empirie lässt aufhorchen: Gemäß dem Gemeinwohl-Atlas Deutschland machen sich über 80 Prozent der Bürger Sorgen, dass dem Gemeinwohl nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wird. In der Schweiz ist der Wert etwas niedriger, aber weiterhin über 60 Prozent. Aus Österreich liegen aktuell keine Daten vor. Vielleicht ist genau da anzusetzen: bei den Bedürfnissen der Menschen, den menschlichen Grundbedürfnissen. Nicht umsonst wird im Medienstaatsvertrag der Funktionsauftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf die Erfüllung „der demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft“ ausgerichtet. Dafür wird der Rundfunkbeitrag von uns allen entrichtet. Daran wird der gesellschaftliche Wertbeitrag der öffentlich-rechtlichen Medien gemessen.

In der psychologischen Forschung herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, wie sich die Vielfalt menschlicher Grundbedürfnisse beschreiben lässt, unter welchen Bedingungen sich Menschen zu starken und verantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln können und was sie unzufrieden und krankmacht. Ein ganz zentraler Gedanke ist dabei immer der soziale Kontext, die materiellen und ideellen Rahmenbedingungen, die es dem Einzelnen erlauben, sich als Person zu entwickeln. Man kann sogar so weit gehen anzunehmen, dass sich höhere psychische Leistungen des Menschen überhaupt nur in der aktiven Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld entwickeln. In dieser kulturhistorischen Denkschule sind kollektive Werte eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung individueller Werte. Kinder können sich eben nicht allein erziehen.

Individualität oder besser: unterschiedliche Individualitätsformen bilden sich vor dem Hintergrund kollektiver Überzeugungen und Erwartungen heraus. Das Soziale ermöglicht das Individuelle oder: Ohne Wir kein Ich. So konnte die in der Besonderung und Individualisierung einzelner Bevölkerungsgruppen, wie sie der Soziologe Andreas Reckwitz in Form von „Singularitäten“ beschreibt, nur vor dem Hintergrund materieller und sozialer Konstellationen entstehen. Und sie wird auch genauso wieder vergehen. Umgekehrt bringen wir alle diese Rahmenbedingungen wieder und wieder hervor und stabilisieren damit das, was als das Verbindende und Gemeinsame – also das Gemeinwohl – gelten darf. Es gilt hier der Satz von eben nur in der anderen Richtung: Ohne Ich kein Wir – es handelt es eben um eine wechselseitige Abhängigkeit. Was aber passiert, wenn die Gesellschaft sich weiter fragmentiert, in Teilöffentlichkeiten zerfällt und eine gemeinsame Basis in weite Ferne rückt oder romantisch verklärt in der Vergangenheit gesucht wird? Dann schlägt die Stunde der Vereinfacher – mit allen Gefahren, aber auch mit neuen Chancen für Vielfalt und Diversität. Bevor ich diesen Gedanken zum Zusammenspiel von Gemeinwohl und Vielfalt wieder aufnehmen möchte, noch ein Wort zur Idee des Gemeinwohls. Wie kann man dieses heute denken? Taugt der Begriff heute überhaupt noch oder ist er eine leere Worthülse, um Partikularinteressen zu verschleiern?

„Es geht beim Gemeinwohl um intuitives Wissen, lebensweltliche Erfahrung des Sozialen, welches sich bei uns allen in Form generalisierter Einstellungen aufbaut und unser Handeln beeinflusst.“

Zunächst: Gemeinwohl sollte nicht primär als Handlungsmotiv verstanden werden, etwas für die Gemeinschaft tun zu wollen oder allgemein Gutes zu tun. Gemeinwohl sollte gedacht werden als eine Bewusstseinsdisposition (neudeutsch ein Mindset), die sich der Abhängigkeit und Verbundenheit mit anderen gewahr ist und sich als Produkt des eigenen Umfelds und damit seiner voraussetzungsreichen Autonomie bewusst ist. Das Gemeinwohl wird nicht rational erkannt, sondern emotional empfunden. Auch dies wissen Medienschaffende nur zu gut: Wenn Gefühle die Fakten überrennen oder ganz wertfrei gesprochen: völlige neue Affektbezirke der Vernunft auftauchen oder etwas lyrischer formuliert: Wenn Fakten in den Gefühlen ertrinken, wird es schwer für Argumente und rationale Logik. Gemeinwohl ist eine Erfahrungskategorie – und Medienleute wissen, wie man Erfahrungen ermöglicht – in der das Empfinden einer Zusammengehörigkeit essentiell ist.

Die politische Philosophie kennt für diese Empfindung den Begriff des Gemeinsinns, die Anthropologie den der kollektiven Intentionalität. Ohne die Annahme und Unterstellung von etwas Gemeinsamen im Sinne einer Erwartungsstabilität könnten wir als Menschen nicht verlässlich planen und uns in der Welt orientieren. Das Gemeinwohl bezeichnet damit sowohl eine affektive Ressource und eine notwendige Fiktion, ohne die wir als Individuen und vor allem auch als Gruppe bzw. als Gemeinwesen nicht existieren könnten. Gemeinwohlerfahrungen sind insofern Erfahrungen innerer Bejahung von Sozialverhältnissen. Gemeinwohl ist gerade nicht die Aggregierung von Individualnutzen oder individuellen Meinungen, sondern eine überlebenswichtige kollektive Fiktion.

Eine solche kollektive Fiktion ist beispielsweise die Vorstellung des kollektiven Überlebens in Zeiten einer Pandemie und erst Recht – wie zu erwarten ist – in Zeiten der Klimakrise. In dieser Denkweise ist der Gegensatz zwischen Eigenwohl und Gemeinwohl aufgehoben, weil sich beide Perspektiven ergänzen bzw. gegenseitig erst hervorbringen. Gemeinwohlargumente werden darin zur Begründung und Akzeptanzsteigerung von Maßnahmen herangezogen, etwa zur Einschränkung von Grundrechten oder bei Solidaritätsaufrufen. Es geht beim Gemeinwohl um intuitives Wissen, lebensweltliche Erfahrung des Sozialen, welches sich bei uns allen in Form generalisierter Einstellungen aufbaut und unser Handeln beeinflusst. Daher ist es auch kein Zufall, wenn vier von fünf Personen im Gemeinwohl-Atlas angeben, für sich selbst eine klare Vorstellung vom Gemeinwohl zu haben.

Ich möchte zum Schluss meiner Ausführungen auf das Verhältnis von Gemeinwohl und Vielfalt zurückkommen. Unser Konferenzthema heißt „Gemeinwohl durch Vielfalt“. Im dritten Leipziger Impuls hatten wir formuliert: „Verantwortungsvoll gelebte Vielfalt trägt zum Gemeinwohl bei, weil Menschen andere und anderes erst dann anerkennen, wenn sie selbst anerkannt werden. Die integrative Aufgabe von öffentlich-rechtlichen Medien besteht somit vor allem auch im Sichtbarmachen und Einordnen der gesellschaftlichen Vielfalt … Damit leistet der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Erfahrung einer wertschätzenden Gemeinwohlkultur ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, um Vielfalt ohne Angst und in Würde in einem Klima von Offenheit und Toleranz leben zu können.“

All das haben wir als Anspruch formuliert. Dieser ist hoch. Wie sieht die Realität aus? Haben die Verantwortlichen den Mut zur kompetenten Kritik in der Berichterstattung, aber auch die Fähigkeit zu Selbstkritik und transparenter Fehlerkultur? Die RBB-Krise hat das ganze System der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland in eine Krise gestürzt, die nicht ohne Folgen bleiben wird. Krisenphänomene des öffentlich-rechtlichen Systems der Medien zeigen sich allerdings auch in anderen europäischen Ländern (in der Schweiz 2018 etwa rund um die No Billag-Initiative). Es ist, als ob die RBB-Krise in Deutschland lediglich der Auslöser einer Auseinandersetzung ist, deren Ursachen und Gründe tiefer liegen.

Ein zentrales Moment hat dabei offenkundig mit dem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun. Ist es nicht paradox: Wir hatten noch nie so eine Informationsfülle und -vielfalt wie heute und fürchten gleichzeitig so stark wie lange nicht die Einschränkung genau dieser Vielfalt durch Monopolbildung und Mainstreaming. Aus psychologischer Sicht ist der Trend zur Simplifikation nachvollziehbar: Unser Gehirn strebt nach Eindeutigkeit und Konsistenz. Vielfalt ist anstrengend. Was auf dem Spiel steht, ist klar: Stellen wir uns für unser spezielles Konferenzthema nur einen Moment vor, was es bedeuten würde, wenn Vielfalt nicht als Konstituente für Gemeinwohl gesehen wird und dieses durch Homogenitätsannahmen und Exklusion anstelle von Inklusion codiert wäre. Dies wäre fatal für eine lebendige Demokratie! Es kommt also darauf an, die gemeinförderliche Rolle von gelebter Vielfalt nachvollziehbar zu machen. Dies ist umso anstrengender, je fragmentierter eine Gesellschaft ist, weil eine gemeinsame kollektive Fiktion über unterschiedliche Teilöffentlichkeiten hinweg schwerer aufzubauen und zu erhalten ist. Genau diese Hürde ist aber wiederum die tiefere Ursache für eine neue Gemeinwohlsehnsucht. Mit dem dritten Leipziger Impuls wollten wir das komplexe Wechselspiel zwischen Gemeinwohl und Vielfalt in den Blick nehmen und haben einzelnen Handlungsfelder definiert, die sich nun in den Konferenzthemen widerspiegeln. Weder ist Vielfalt noch ist Gemeinwohl für sich genommen ein Selbstzweck. Als kollektive Fiktionen verstanden, geht es dabei um Wertvorstellungen, die nie einseitig beherrschend werden dürfen, ohne der Gefahr einer Deformation und der Verletzung menschlicher Grundbedürfnisse ausgesetzt zu sein.

Die Vielfaltsicherung ist ein zentraler Mechanismus des Gemeinwohls ganz im Sinne des „E pluribus unum“ (aus vielen eines) bzw. „in variete concordia“ (Einheit in der Vielfalt). Solche gesellschaftlichen Werte lassen sich allerdings nicht steuern, wohl aber kann man darauf Einfluss nehmen. Für die öffentlich-rechtlichen Medien ist der Public Value-Ansatz deshalb so interessant, weil darin der Beitrag zum Gemeinwohl erfasst und analysiert werden kann. Ich habe für diesen Vortrag den Titel „Vielfalt, die sich fordert“ gewählt, weil ich meine, dass wir uns alle auch ganz persönlich fragen müssen, wie wir uns mit unseren Stärken und Talenten einbringen, gerade jetzt in der Krisenzeit das Gemeinwohl suchen und in unseren Verantwortungsbereichen stärken können.

Aus der Rede von Timo Meynhardt auf der zweitägigen Europäische Public Value Konferenz – ausgerichtet vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) in Kooperation mit der Handelshochschule Leipzig (HHL), am 5. Oktober in Leipzig.

Prof. Dr. Timo Meynhardt (geboren am 14. Juli 1972 in Rudolstadt) ist Psychologe und Betriebswirtschaftler. Seit Oktober 2015 ist er Inhaber des Arend-Oetker-Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der privaten Handelshochschule Leipzig. Zudem ist er Managing Director des Center for Leadership and Values in Society an der Universität St. Gallen.

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