Wie nah ist Weimar?

von am 12.10.2022 in Aktuelle Top Themen, Archiv, Digitale Medien, Gesellschaftspolitik, Journalismus, Medienethik, Medienwissenschaft

Wie nah ist Weimar?
Dr. Ortlieb Fliedner, Rechtsanwalt

Manche Medien schenken der Gefährdung der Demokratie zu wenig Aufmerksamkeit

12.10.2022. Von Dr. Ortlieb Fliedner, Rechtsanwalt, Kanzlei Fliedner & S. Hadamik

Die Wahlen in Schweden und Italien markieren einen deutlichen Rechtsruck in Europa. Auch die AfD wird nach neuesten Umfragen wieder stärker. Darüber hinaus bemühen sich Alt- und Jung-Nazis, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und andere rechtsextreme Gruppierungen die Werte des Grundgesetzes und die demokratischen Institutionen des Staates zu unterminieren. Der von Russland geführte Krieg gegen die Ukraine, ein dritter Corona-Winter, eine drohende Energiekrise und weiterhin die Klimakrise bedrohen den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die Zustimmungswerte zu unserer Demokratie sinken. Nach einer aktuellen Umfrage des Allensbach Instituts meinen 30 Prozent sogar, dass sie in einer Scheindemokratie lebten.

Nähern wir uns Weimarer Verhältnissen? Ist die Demokratie in Gefahr?

Dank einer geringen Arbeitslosigkeit, einer im internationalen Vergleich starken Volkswirtschaft sowie einer engagierten Zivilgesellschaft scheinen Weimarer Verhältnisse noch weit entfernt zu sein. Doch es gibt Gefährdungen der Demokratie, die unterhalb des Radars des öffentlichen Bewusstseins stattfinden. Ihr Potenzial kann mit dem Wirken von Termiten, die ein Haus befallen haben, verglichen werden: Einige Termitenarten nisten sich scharenweise in Holzhäuser ein, zerfressen das Holz von innen, verschonen aber die äußere Oberfläche. Sie scheuen das Licht und arbeiten nachts. So kann es geschehen, dass irgendwann, wenn die Termiten lange genug ihre zerstörerische Arbeit getan haben, ein äußerlich unversehrtes Haus bereits bei einer kleinen Erschütterung zusammenfallen kann. Damit unsere Demokratie nicht auf Grund einer an sich zu bewältigenden Krise zusammenbricht, sollten wir auch die Gefährdungen beachten, die im öffentlichen Diskurs kaum wahrgenommen werden, die aber langfristig die Demokratie in ihrer Substanz beschädigen können:

Die Integrität demokratischer Institutionen

Die Integrität der Institutionen, die den demokratischen Staat verkörpern, ist eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Denn sie ermöglicht das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die ordnungsgemäße Erfüllung der staatlichen Aufgaben. Diese Integrität kann von innen heraus beschädigt werden, zum Beispiel durch korruptes Verhalten von Amtsträgern, aber auch dadurch, dass die zugewiesene Aufgabe nicht oder nur schlecht erfüllt wird. Der Vertrauensverlust, der durch das Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der rechtsterroristischen Zelle NSU entstanden ist, war gravierend. Innerhalb von fast 10 Jahren konnten drei Personen ungehindert neun Menschen in Deutschland kaltblütig ermorden. Beendet wurde diese beispiellose Mordserie nicht durch die Ermittlungsbehörden, sondern durch den eigenhändigen Tod von zwei Mitgliedern des NSU. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wie viele Unterstützer diese Taten ermöglichten. Eine wirkliche Aufarbeitung des Versagens beim Verfassungsschutz und den ermittelnden Polizeibehörden hat trotz vieler parlamentarischer Untersuchungsausschüsse bis heute nicht stattgefunden.

Die Integrität staatlicher Institutionen kann aber auch von außen beschädigt werden. Mangelnder Respekt gegenüber Polizistinnen und Polizisten, gegenüber Feuerwehrleuten oder Sanitätern bis hin zu Behinderungen bei deren Tätigkeit verletzen diese Integrität. Verbale und tätliche Angriffe auf politische Amtsträger sind an der Tagesordnung. Sie erlangen bisweilen tagesaktuelle Aufmerksamkeit, führen aber nicht zu langfristigen Konsequenzen im Hinblick auf die Beschädigung unserer Demokratie. Auch die Verächtlichmachung demokratischer Institutionen kann wie ein langsam wirkendes Gift die Demokratie beschädigen. Mit dem Begriff Schwatzbude machten die Nationalsozialisten das Parlament in der Weimarer Republik verächtlich. In der Bundesrepublik setzte sich der 2016 verstorbene, angesehene Literaturprofessor und Journalist Roger Willemsen ein Jahr in das Plenum des Deutschen Bundestages und schrieb darüber ein Buch. Das Parlament wird von ihm als Kasperle-Theater dargestellt: „So entwickeln sich die Abgeordneten allmählich zu Charaktermasken. Wie die handelnden Personen im Kasperletheater erfüllen sie die Auflagen ihrer Rollen-Charaktere: Gretel, Polizist, Teufel, Hanswurst, Krokodil.“ Willemsen zeichnet darüber hinaus ein ganz falsches Bild von der Arbeit des Parlaments, indem er allein die Plenardebatten zum Gegenstand seiner Darstellung macht. Fraktionssitzungen und Ausschusssitzungen, in denen die zu treffenden Entscheidungen diskutiert und vorentschieden werden, kommen überhaupt nicht vor.

Willemsens Blick auf das Parlament gleicht der Beschreibung eines Dampfers, die sich auf das sichtbare Oberdeck beschränkt und verschweigt, dass es auch einen Maschinenraum gibt und unter Deck viel passiert. Besonders erschreckend ist, dass diese negative und falsche Darstellung des Parlaments nicht kritisiert, sondern ganz überwiegend gelobt wurde: Messerscharfer Blick hinter die Kulissen des Bundestags und auf das Treiben unserer Volksvertreter („Der Spiegel“). Ein grandioses Buch. („stern.de“). Beim Lesen entsteht das Gefühl, selten ein wichtigeres Buch über politische Prozesse und über die Menschen in diesem Betrieb gelesen zu haben („Nürnberger Nachrichten“). Wenn das Herzstück der Demokratie, das Parlament, derart schlecht gemacht wird, sollten eigentlich rote Warnlichter angehen, statt Beifall zu klatschen.

Politische Diskussionen – Parteiengezänk

Demokratie ist Diskussion. Auf diese einprägsame Formel brachte der Philosoph und Staatsmann Masaryk ein Essential der Demokratie. Diktaturen unterbinden Diskussionen, wie wir es gerade in erschreckendem Ausmaß in Russland erleben. Sie haben Angst, ihre Politik auf den Prüfstand von Argument und Gegenargument zu stellen. Eine Stärke der Demokratie besteht gerade darin, die gesellschaftlichen und politischen Themen im offenen Diskurs zu verhandeln und sich für politische Entscheidungen in öffentlicher Diskussion rechtfertigen zu müssen. Diesem Stellenwert der politischen Diskussion für die Demokratie wird allerdings die Darstellung solcher Diskussionen in den Medien oft nicht gerecht. Häufig werden politische Debatten mit negativ konnotierten Begriffen belegt: Gezänk, Hickhack, Zoff sind übliche Begriffe, wenn von Debatten im Stadtrat oder im Parlament berichtet wird. Selbst Diskussionen über ganz sachliche Themen bleiben davon nicht verschont: „FDP und Grüne zanken über Geldpolitik“. „Politiker zanken weiter über Bahn-Börsengang“. Bemerkenswert ist auch, dass die politischen Diskussionen in den zahlreichen Talk-Shows nicht als Information eingestuft, sondern der Rubrik Unterhaltung zugeordnet werden und damit auf einer Stufe mit Kabarett- und Comedy-Sendungen stehen. Wenn die öffentliche Diskussion über gesellschaftliche und politische Themen, ein Wesenselement der Demokratie, immer wieder als abstoßendes Gezänk dargestellt wird, bestärkt das die Sehnsucht nach einfachen Lösungen, die allen gerecht werden soll.

Der Wunsch nach der „besten Lösung“, dem „großen Wurf“

Politische Entscheidungen werden gerne in der Weise kritisiert und kommentiert, dass sie wieder einmal kein großer Wurf seien. Man habe nicht die beste Lösung gesucht, sondern sich im Klein-Klein der unterschiedlichen Parteiinteressen verheddert. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es aber sehr unterschiedliche Interessen, die miteinander konkurrieren und streiten. Um eine Mehrheit für eine Entscheidung zu bekommen, müssen zumeist unterschiedliche Interessen und Vorstellungen berücksichtigt werden. Die Folge ist, dass Kompromisse gemacht werden müssen und kein Interesse allein und zu 100 Prozent befriedigt werden kann. Der Kompromiss als Voraussetzung für Entscheidungen ist daher die Normalität in der Demokratie. Ohne Bereitschaft zum Kompromiss kann eine Demokratie nicht funktionieren. Die Ampel-Regierung, in der sich Parteien mit sehr unterschiedlicher inhaltlicher Ausrichtung zusammengefunden haben, demonstriert uns fast täglich, wie notwendig für alle drei Parteien Kompromissbereitschaft ist, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Der Ruf nach dem großen Wurf und die häufig erfolgende Herabwürdigung des Kompromisses als faul verkennt nicht nur ein Wesensmerkmal der Demokratie. Die Normalität der Demokratie wird dadurch negativ belegt. Dass dies dem Ansehen der Staatsform Demokratie bei den Menschen nicht förderlich ist, sondern mit dazu beitragen kann, dass das Vertrauen in diese Staatsform abnimmt, liegt auf der Hand.

Die Fokussierung auf Einzelpersonen

Die mediale Berichterstattung über Politik konzentriert sich immer stärker auf einzelne Personen. In den regelmäßigen Meinungsumfragen findet ein Ranking der zehn wichtigsten Politikerinnen und Politiker statt. Hinterfragt wird diese Wichtigkeit nicht. Wenn sich im Politbarometer des ZDF Sarah Wagenknecht, die nicht einmal ihre provokanten Reden verantworten muss, unter diesen zehn befindet, die Verteidigungsministerin, die die Verantwortung für die Bundeswehr trägt, aber nicht, kann man sich über die Maßstäbe, was bei uns „wichtig“ bedeutet, nur wundern. Aber auch die geringe Zahl 10 vermittelt ein völlig falsches Bild davon, wie Demokratie funktioniert. Nicht einzelne Personen haben in der Demokratie Entscheidungsbefugnisse. Immer muss eine Mehrheit erreicht werden, um Entscheidungen treffen zu können, die dann für alle verbindlich sind. Die Fokussierung auf einzelne Politikerinnen und Politiker verdeckt diesen normalen Funktionsmechanismus von Demokratie.

Aber sie ist noch in anderer Hinsicht gefährlich. Sie unterstellt nämlich, dass eine einzelne Person, die anstehenden Probleme lösen könnte. Das weckt Erwartungen an diese Person, die dann enttäuscht werden, wenn die eigene Wunschentscheidung nicht getroffen wird oder offensichtliche Fehler gemacht werden. Dieser Mechanismus kann an der Person des Wirtschaftsministers Robert Habeck sehr gut studiert werden. Seine Politik erklärenden Auftritte machten ihn zum Star des politischen Journalismus und dadurch auch zum beliebtesten Politiker in dem bereits erwähnten Ranking der „wichtigsten Politikerinnen und Politiker“. Ein unglücklicher Auftritt in einer Talkshow führte dann sofort zur Frage, ob er möglicherweise überschätzt wurde und gipfelte in der Überschrift: „Kann Robert Habeck etwa gar nicht übers Wasser gehen?“ (Die ZEIT 38/22)

Durch die Fokussierung auf einzelne Personen wird Politik zur Showbühne, auf der es nur noch darum geht, ob der Auftritt gut oder miserabel war. Das Publikum klatscht Beifall oder buht den Akteur aus. Die in der Demokratie meist mühsamen Entscheidungsprozesse, die Diskussionen über die Sachfragen geraten völlig in den Hintergrund oder werden ganz verdeckt. Und die Sehnsucht nach dem deus ex machina, der politischen Lichtgestalt, die alle Krisen vom Publikum fern halten und alle Probleme lösen kann, wird befeuert. Die Fokussierung auf wenige Politikerinnen und Politiker in der medialen Berichterstattung hat noch einen weiteren negativen Effekt. Die vielen engagierten Ratsmitglieder und Abgeordneten bleiben anonym. Das ermöglicht dem Stammtisch, aber auch vielen Intellektuellen sich munter am Volkssport Politikerbashing zu beteiligen: Sie seien korrupt, auf den eigenen Vorteil bedacht und kennten die Sorgen und Nöte der Menschen nicht mehr. Im Ansehen der Berufe rangieren Politiker deshalb auch weit unten. Und der populäre Sänger Reinhard Mey darf singen: „Ob schwarz, gelb, grün oder rot: Sie sind gleich farblos und gleich schal. / Wenn sie weg sind, merkt man ihre Abwesenheit nicht einmal.“ Dass immer weniger Menschen bereit sind, sich politisch zu engagieren und es teilweise schon schwierig ist, Kandidaten zu finden, die bei Wahlen bereit sind, ein politisches Amt zu übernehmen, kann daher kaum verwundern.

Weimar könnte näher sein als wir denken

Alle diese Sachverhalte, die beispielhaft für viele Fehldarstellungen und Herabwürdigungen demokratischer Normalität sind, haben das Potenzial, langfristig die Demokratie zu beschädigen. Wahrscheinlich haben sie ihre schädliche Wirkung schon entfaltet. Sinkende Wahlbeteiligung und wachsende Unzufriedenheit mit unserer Demokratie könnten ein Indiz dafür sein. Eine besondere Gefahr für die Stabilität unserer Demokratie besteht aber vor allem darin, dass das Gefährdungspotenzial dieser Sachverhalte nicht erkannt und deshalb auch nicht thematisiert wird. Sie können deshalb wie die Termiten das Holzhaus unbemerkt, langsam aber stetig, das Demokratiegebäude von innen heraus zerstören. Es ist daher dringend geboten, nicht nur den eingangs angeführten sichtbaren Gefährdungen der Demokratie durch immer neue Hilfspakete zu begegnen, sondern das zerstörerische Potenzial dieser Sachverhalte bewusst zu machen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Insbesondere die Medien sind hier in der Pflicht, ihre überwiegend negative und zum Teil falsche Darstellung von Politik in der Demokratie zu ändern. Die freie, unzensierte Ausübung medialer Tätigkeiten ist ein Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie. Wenn aber die Medien von dieser Demokratie ein Zerrbild vermitteln und damit Ansehen und Vertrauen der Menschen in die Demokratie beschädigen, zerstören sie letztendlich die Grundlage ihrer eigenen Existenz. Wie autoritäre Regime und Diktaturen mit den Medien umgehen, kann in viel zu vielen Ländern ausreichend studiert werden. Aber nicht nur die Medien, auch die Politik trägt in diesem Zusammenhang Verantwortung. Denn sie gibt durchaus hin und wieder Anlass zu negativer Berichterstattung. Zudem gibt sie den medialen Tendenzen, sich lieber mit Personen als mit Sachthemen zu beschäftigen, zu oft Nahrung und verdeckt damit ebenfalls die normalen Funktionsmechanismen einer Demokratie mit ihren mühsamen Entscheidungsprozessen und notwendigen Kompromissen.

Gegen sichtbare Krisen lassen sich Kräfte mobilisieren, unerkannte Gefahren können plötzliche und unerwartete Ereignisse zur Folge haben. Wenn uns weiterhin die Normalität der Demokratie, ihre Funktionsmechanismen und ihre Stabilitätsfaktoren wie z.B. ein breites politisches Engagement so negativ und auch unzutreffend vermittelt werden, wie dies beispielhaft dargestellt wurde, könnte Weimar bald näher sein als wir dies heute noch denken.

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