Wir müssen für die Bürger einen Wert darstellen

Zweite Europäische Public Value Konferenz des MDR „Gemeinwohl durch Vielfalt in den Medien“
06.10.2022. Von Prof. Dr. Karola Wille, Intendantin des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR)
Vor drei Monaten war auch der Bundespräsident in Leipzig zu Gast und hielt bei der 30-Jahr-Feier unseres Medienhauses ein leidenschaftliches Plädoyer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er nannte ihn den Garanten eines öffentlichen Raums, in dem sich Menschen unterschiedlicher Auffassung begegnen können. Ein solches gemeinwohlorientiertes Medium sei in einer Demokratie unverzichtbar. Und „erst recht ist es unverzichtbar in einer Gesellschaft, in der die große Öffentlichkeit immer mehr in Teilöffentlichkeiten zerfällt. Wir brauchen eine gemeinsame demokratische Öffentlichkeit, um als Gesellschaft miteinander im Gespräch zu bleiben, auch um miteinander zivilisiert zu streiten“. Manchen mögen diese klaren Worte der Bestätigung und Ermutigung wie eine kleine Ewigkeit vorkommen.
Denn wenig später setzte vielerorts ein Sturm der Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein, ausgelöst durch die Krise beim Sender in Berlin-Brandenburg. Das Einzelne wurde in einer Generalverurteilung fürs Ganze genommen. Und in Krisendebatten geht vergessen oder wird wissentlich übersehen, was dieses System tatsächlich leistet. Z.B. eine crossmediale Themenwoche in der ARD „Wir gesucht, Was hält uns zusammen? Anfang November. Auch, dass wir intensiv und immer wieder diskutieren, an welchen Stellen und mit welcher Zielrichtung Bestandteile des Systems reformiert werden sollen, reformiert werden müssen, um neuartigen Anforderungen zu genügen und sich weiterzuentwickeln. Nicht zuletzt auch, um in Zeiten tiefer zeitgleicher Krisen unsere mediale gesellschaftliche Aufgabe weiter gut erfüllen zu können. Ein bester Beleg für diese Reformdiskussionen sind auch die drei „Leipziger Impulse“. Der letzte wurde in diesem Mai verabschiedet, getragen von allen öffentlich-rechtlichen Medienhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz, weiter von der Handelshochschule Leipzig und vom Weizenbaum-Institut mit seinem Forschungsschwerpunkt der vernetzten Gesellschaft – eine wahrlich beeindruckende Phalanx aus Praxis und Wissenschaft.
Alle drei Impulse kreisen um den zentralen Begriff des Gemeinwohls, international geläufig als Public Value. Entsprechend firmiert unser jetziges neues Treffen als 2. Europäische Public-Value-Konferenz. Damit ist es eine dynamische Fortsetzung der ersten Diskursplattform vor knapp drei Jahren – damals der Auftakt einer sehr produktiven Debatte.
Public Value, so habe ich damals gesagt, bedeutet unverändert, dass wir für unsere Gesellschaft von Nutzen sein und für die Gesellschaft wie für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger einen Wert darstellen müssen. Was praktisch bedeutet: „Wir müssen demokratische, kulturelle, soziale Bedürfnisse befriedigen.“ Das klingt für Außenstehende vielleicht so einfach wie selbstverständlich. Doch wissen wir alle hier: Es ist ein Auftrag mit einem äußeren und einem inneren Anspruch, der keineswegs so leicht auf einen für alle einsichtigen Nenner zu bringen ist. Und wir wissen auch, der gesellschaftliche Nutzen muss im Diskurs mit der Gesellschaft immer wieder selbstkritisch reflektiert und belegt werden.
„Unser Gemeinwohlwert entsteht im Auge des Betrachters, des Bürgers als Individuum und als Teil der Gesellschaft.“
Insofern bin ich froh, dass wir hier mit höchstkarätiger Besetzung die zweite Auflage einer produktiven Arbeitsplattform starten, um das auszuloten, was den Kern unseres Auftrags ausmacht: sprich, dem Gemeinwohl zu dienen. Dieses Mal verknüpft mit der Hauptfrage, wie dieses Grundziel mit dem heutigen Verständnis von Vielfalt verbunden ist. Und welche Anforderungen sich daraus für die Praxis ergeben.
Im ersten Impuls haben alle Impulsgeber gemeinsam formuliert, auf welchen Handlungsfeldern in einer entgrenzten und fragmentierten Kommunikationswelt öffentlich-rechtliche Medien auch neu denken müssen, wie ein Gemeinwohlbeitrag geleistet wird, der nachweisbar alle Bürgerinnen und Bürger anspricht. Hauptstichworte waren dabei: Innovationen für die öffentliche Meinungsbildung, Qualität sichern und weiterdenken, das Schaffen von Gemeinwohlnetzwerken, Verantwortung für Transparenz, Unabhängigkeit durch Einbindung sichern, gemeinwohlorientierte Führung vorleben. Dies wurde im zweiten Impuls mit Blick auf die speziellen Bedingungen der Corona-Pandemie aktualisiert.
Der dritte Impuls zielte jetzt auf ein Grundsatzthema, dem beim weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zukomme: dem Verhältnis von Gemeinwohl und Vielfalt. Vielfalt oder Diversität gelte, so wird unterstrichen, als „Schlüsselkategorie im Verständnis moderner, pluralistischer Gesellschaften“. Dahinter steht der Gedanke eines selbstbestimmten Lebens in dem jede und jeder sich frei entfalten kann, aber auch die Lebensentwürfe anderer respektiert. In die Welt der Medien übersetzt bedeutet dies: Die Vielfalt der Meinungen, Perspektiven, Werthaltungen oder Erfahrungen in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit darzustellen, das ist das Ziel und zugleich der Kern der Freiheit des Rundfunks in unserer demokratischen Gesellschaft geprägt durch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts– für öffentlich-rechtliche und für kommerzielle Medien gleichermaßen, wobei der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Leistungsangebot hervorbringen soll, das einer anderen Entscheidungsrationalität, als der der ökonomischen Anreize folgt. Allerdings sind heute in der Welt der Netzwerk- und Plattformökonomie vielfaltsgefährdende Risiken unübersehbar. So können mit Hilfe von Algorithmen gezielt Meinungen verstärkt oder herausgefiltert und damit die öffentliche Meinungsbildung mitgesteuert werden. Hinzu kommen ein komplexes Informationsaufkommen mit einseitiger Darstellungen, Desinformation, Fake News und Deep Fakes.
„Vielfalt trägt zum Gemeinwohl bei, weil Menschen andere und anderes erst dann anerkennen, wenn sie selbst anerkannt werden.“
Deshalb wächst im Digitalen die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Medien als vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes so das verfassungsrechtliche Fazit des Karlsruher Gerichts. Jürgen Habermas beschreibt die demokratiepolitische Herausforderung in „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“, wie folgt: „Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr gewährleisten kann.“ Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen mit ihren unterschiedlichen Standpunkten am demokratischen Diskurs teilnehmen können. Es geht um die Sicherung demokratischer Kommunikationsstrukturen in der Gesellschaft als Ganzem. Wie gelingt die Einordnung von Vielfaltsbelangen in die strategische Ausrichtung der Häuser? Wie spiegelt sich dies in den sicht-, hör- und lesbaren Inhalten? Wie gelingt Einbindung und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger? Welche Rolle spielen Weltanschauungen und ideologische Modelle? Welche Bedeutung ist Merkmalen und Herkünften beizumessen?
Eine Beobachtung drängt sich jedenfalls auf: Vielfalt ist in den letzten Jahren – in der Folge gesellschaftlicher Bewegungen – ein umstrittenes Thema geworden. Ein Thema, das leidenschaftliche Befürworter ebenso kennt wie Kritiker, die es als reine Mode ansehen, auch als Medienphänomen oder ideologisches Instrument. Festzustellen ist: Identitätspolitische Forderungen, die sich auf ein bestimmtes Verständnis von Diversität beziehen, lösen erkennbar Kontroversen und Probleme beispielsweise im Hinblick auf einen rationalen und toleranten Diskurs aus. Ein Stichwort genügt: Gendern. Eine alte Feststellung aber dürfte unstrittig sein: Vielfalt ist nicht gleichzusetzen mit Vielzahl. Eine hohe Zahl von Anbietern und Angeboten allein führt noch nicht automatisch zu Qualität und Vielfalt in den Medien. Auf uns selbst als Institutionen bezogen, heißt das dann häufig in der Außenkritik: vielzuviele, vielzuviel, vielzugroß.
Auch dieser Vorwurf, verpflichtet uns, Vielfalt auf dieser Konferenz so vielfältig wie möglich zu erörtern. Um unter diesem Aspekt nicht nur die Konsequenzen eines modernen Vielfaltsverständnisses herauszufiltern. Sondern auch, um die innere und äußere Vielfalt unserer eigenen Existenz zu reflektieren. Gerade unter diesem Aspekt ist es beileibe kein Glasperlenspiel, wenn wir über die Konferenzen und die Impulse die Grundlagen unseres gemeinwohlorientierten Auftrags solide unterfüttern. Und sie dabei auf ihre heutige Gesellschaftstauglichkeit und Relevanz überprüfen.
Und all das eingebettet in eine fundamental veränderte Medienlandschaft. Getragen wird die rasante Umwälzung vom Netz als alles überwölbendes Mega-Medium. Der Philosoph Jürgen Habermas beschreibt das Gesamtphänomen als „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und sieht dabei, stark vereinfacht gesagt, vor allem eine Große Unordnung. Für unsere Konferenz bedeuten solche Einsichten in die radikalen Veränderungsprozesse, dass auch vermeintlich einfach zu verstehende Begriffe wie Gemeinwohl und Vielfalt gründlich auf ihr heutiges Verständnis und ihr Gestaltungspotential hin befragt werden müssen.
Eine Frage halte ich für überaus wichtig, sie ist im Programm mit dem Stichwort Balance genannt: Wenn Vielfalt häufig mit immer größeren Ansprüchen im Einzelnen gleichgesetzt wird, sei es von Personen, sei es von Gruppen: Wie können wir auf der anderen Seite das Verbindende suchen und schaffen, das für eine funktionierende Gesellschaft notwendige Gemeinsame? Denn diese Verbindende und Gemeinsame – in der Gemeinschaft – ist schließlich wesentlicher Kern des Gemeinwohls. Mit welchen Modellen können wir zur Integration in einem umfassenden Sinne beitragen? Und dies in einer sich zunehmend ausdifferenzierten und fragmentierten, sich polarisierenden Gesellschaft?
Im dritten unserer Impulse gibt es hierzu eine klare Forderung. Danach haben die öffentlich-rechtlichen Medien eine integrative Aufgabe eine public balance Aufgabe. Sie besteht darin, gesellschaftliche Vielfalt sichtbar zu machen und einzuordnen. Dies gelte u.a. für Themen, Akteure, Meinungen, Erfahrungen, Werthaltungen und Perspektiven in zeitgemäßen Angebotsformen und vielfältigen Genres. Damit „leistet der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft.“ Und dabei – so die übereinstimmende Auffassung der Impulsgeber – ist die Erfahrung einer wertschätzenden Gemeinwohlkultur die Voraussetzung, um Vielfalt ohne Angst und in Würde in einem Klima von Offenheit und Toleranz leben zu können. Diese Vermittlungsaufgabe hin zum Grundstock des Gemeinsamen – also auch des gemeinsamen Wohls – ist in einer das Singuläre betonenden Gesellschaft ebenso notwendig wie schwierig ist. Das gilt natürlich umso mehr, wenn es um hochrelevante Großthemen geht wie die gerade erlebte Pandemie oder um den alle bisherigen Maßstäbe sprengenden Klimawandel. Hier fokussieren sich alle unsere Herausforderungen wie unter einem Brennglas – folgerichtig bilden diese beiden Themen hier in unserer Konferenz besondere Schwerpunkte Pandemie und Klimawandel.
Alles in allem also: ein komplexes Fragenfeld. Und eines zudem mit offenen Grenzen. Doch wenn ich mir die ganze Bandbreite der Einzelthemen dieses Kongresses ansehe, dann bin ich sicher: Wir werden einen Ertrag haben, der in allen Aspekten beweist: Ja, dieses System ist lebendig, es ist diskursfreudig. Es kann Zukunft, und es hat Zukunft. Ein zentraler Satz des dritten Impulses wird stets mitschwingen: Verantwortungsvoll gelebte Vielfalt trägt zum Gemeinwohl bei, weil Menschen andere und anderes erst dann anerkennen, wenn sie selbst anerkannt werden. Was auch heißt: Identität bildet sich in einem gemeinsamen öffentlichen Gespräch –als Handlungsbasis für unser individuelles und unser gesellschaftliches Leben. Denn Handeln, so schrieb Hannah Arendt bereits 1958, kann man nur mit Hilfe der anderen und in der Welt. In dem Zusammen Handeln, dem ‚acting in concert’, realisiert sich die Freiheit und das gemeinsame Wohl. Und genau so verstehe ich auch unseren Dienst in der Gesellschaft, für die Gesellschaft. Mit einem Mehrwert, der ständig neu geschaffen wird, in einem nie abgeschlossenen und sich ständig veränderndem Prozess.
Aus der Rede von Karola Wille auf der Zweiten Europäischen Public Value Konferenz beim MDR in Leipzig, am 05.10.2022.