„Ein runder Tisch könnte den Blick der von Eigen- und Standortinteressen geprägten Länder- und Senderpolitik weiten“

Renommierter Medienrechtler sieht keine verfassungsrechtlichen Vorbehalte gegenüber den Reformvorschlägen von Tom Buhrow
15.11.2022. Interview mit Professor Dr. Karl-E. Hain, Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität zu Köln
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts biete erheblichen Konkretisierungsspielraum für die Gesetzgebung der Länder und die Anstalten im Rahmen ihrer Programmautonomie, so Professor Dr. Karl-E. Hain, Direktor des Instituts für Medienrecht und Kommunikationsrecht der Universität zu Köln. Eine Reform und Verschlankung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks würde, so Hain, nicht im Widerspruch zur Funktionsbeschreibung der obersten Verfassungsrichter stehen. Auch die Entrichtung des Rundfunkbeitrages sei dadurch nicht obsolet, denn „den Vorteil, der die Erhebung des Rundfunkbeitrags rechtlich rechtfertigt, hat das BVerfG in der Möglichkeit der Nutzung der öffentlich-rechtlichen Angebote gesehen. Diese Möglichkeit wird auch weiterhin nicht nur für die tatsächlichen Nutzerinnen und Nutzer bestehen.“ Bei dem Ausbau der Kooperationen sieht Hain vor allem die Sender in der Pflicht. „Die konkrete Umsetzung von Kooperationen wird zum großen Teil den Anstalten selbst im Rahmen ihrer Programmautonomie und ihrer Selbstverwaltungsrechte obliegen“, sagt der Medien- und Verfassungsrechtler.
medienpolitik.net: Herr Hain, Tom Buhrow wirft in seiner Hamburger Rede die Frage auf „Wieviel gemeinnützigen Rundfunk wollen wir?“. Was sagt dazu das Bundesverfassungsgericht? Wieviel öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss sein?
Hain: Im Rahmen des dualen Rundfunksystems bildet – so das BVerfG – die vollständige Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags die Bedingung für die Verfassungsmäßigkeit des Gesamtsystems, auch seiner privaten Säule. Der Auftrag umfasst zunächst die Grundversorgung, die nicht im Sinne einer Mindestversorgung zu verstehen ist. Die Grundversorgung ist durch drei Elemente gekennzeichnet: eine den Empfang für alle sichernde Übertragungstechnik, die volle Erfüllung des Rundfunkauftrags, die wirksame organisatorische und prozedurale Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt. Inhaltlich umfasst der Rundfunkauftrag die Rolle des Rundfunks für Meinungs- und politische Willensbildung, über laufende Berichterstattung hinausgehende Information, kulturelle Verantwortung und Unterhaltung. Diese Rechtsprechung enthält weithin prinzipielle Aussagen und bietet erheblichen Konkretisierungsspielraum für die Gesetzgebung der Länder und die Anstalten im Rahmen ihrer Programmautonomie.
medienpolitik.net: Wenn das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem „schlanker“ wird, darauf laufen die Antworten auf die Fragen von Tom Buhrow hinaus, ist damit zu rechnen, dass er weniger Nutzer als heute erreicht. Ist dann noch ein Rundfunkbeitrag, den alle entrichten müssen, zu rechtfertigen?
Hain: Den Vorteil, der die Erhebung des Rundfunkbeitrags rechtlich rechtfertigt, hat das BVerfG in der Möglichkeit der Nutzung der öffentlich-rechtlichen Angebote gesehen. Diese Möglichkeit wird auch weiterhin nicht nur für die tatsächlichen Nutzerinnen und Nutzer bestehen. Ob ein grundlegend reformierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk tatsächlich weniger Nutzer haben wird, ist übrigens noch nicht erwiesen. Ob wiederum der Rundfunkbeitrag zukünftig politisch zu rechtfertigen sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine tragfähige Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bewerkstelligt werden und es den Sendern gelingen wird, durch ihr Angebot gerade auch jüngere Nutzerinnen und Nutzer zu überzeugen.
medienpolitik.net: Der Auftrag ist vor allem eine qualitative Beschreibung. Wovon hängt die Entscheidung ab, welche Anzahl von Programmen, Sendern, Hörfunkwellen oder digitalen Angeboten ARD, ZDF und Deutschlandradio produzieren?
Hain: Die Rundfunkfreiheit gibt den öffentlich-rechtlichen Anstalten prinzipiell das Recht, im Rahmen ihrer Programmautonomie selbst über Anzahl und Umfang ihrer Angebote zur Erfüllung ihres Auftrags zu entscheiden. Zugleich besteht aber ein Ländergesetzesvorbehalt zur Ausgestaltung bzw. Konkretisierung des Auftrags auch im Hinblick auf die Anzahl der Rundfunkprogramme und telemedialen Angebote. Bei der Auftragskonkretisierung sind wesentliche grundrechtsrelevante Fragen zu lösen. Daher sind die Legislativen der Länder zur Konkretisierung des Auftrags berufen. Der Gesetzesvorbehalt verpflichtet sie zur Lösung der wesentlichen Fragen, was übrigens auch dem mit dem dritten MedienÄndStV beschrittenen Weg der Flexibilisierung Grenzen setzt. Die Regelungen zur Konkretisierung des Auftrags im Hinblick auf Programme und Angebote müssen i.Ü. im Hinblick auf die Programmautonomie der Anstalten zu rechtfertigen sein.
„Ob der Rundfunkbeitrag zukünftig politisch zu rechtfertigen sein wird, hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine tragfähige Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bewerkstelligt werden und es den Sendern gelingen wird, durch ihr Angebot gerade auch jüngere Nutzerinnen und Nutzer zu überzeugen.“
medienpolitik.net: Tom Buhrow plädiert für einen Runden Tisch, ein Expertengremium, das einen neuen „Gesellschaftsvertrag ausarbeitet“. Widerspricht diese Idee nicht der Rundfunkkompetenz der Bundesländer? Werden sie damit entmachtet?
Hain: Es ist klar, dass die politischen Entscheidungen über die Konkretisierung des Auftrags der Anstalten und auch über die Anzahl der Anstalten letztlich den Legislativen der Länder obliegt. Sie verfügen über die Gesetzgebungskompetenz sowie die notwendige demokratische Legitimation und tragen auch die Verantwortung dafür, die wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Ein runder Tisch oder eine andere Variante der Einbeziehung von Experten und Gesellschaft bzw. Publikum könnte aber durchaus dem Entscheidungsprozess der Länder vorgeschaltet werden und den Blick über die Tagesroutinen der von Eigen- und Standortinteressen geprägten Länder- und Senderpolitik hinaus weiten helfen.
medienpolitik.net: Einer der Vorschläge läuft darauf hinaus, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk von seinen Orchestern und Chören trennt. Besteht nicht ein verfassungsrechtlicher Kulturauftrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der das verhindert?
Hain: Wenn ich es recht verstanden habe, geht es Tom Buhrow nicht darum, dass die Anstalten sich vollständig von Orchestern und Chören trennen sollen. Über eine Reduktion auf ein sinnvolles Maß darf und muss durchaus im Rahmen der kulturellen Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nachgedacht werden. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Erhaltung des status quo besteht nicht.
„Die konkrete Umsetzung von Kooperationen wird zum großen Teil den Anstalten selbst im Rahmen ihrer Programmautonomie und ihrer Selbstverwaltungsrechte obliegen.“
medienpolitik.net: Steht einer Fusion von ARD und ZDF verfassungsrechtlich etwas dagegen?
Hain: Was immer genau unter einer „Fusion“ zu verstehen sein soll: Das Grundgesetz schreibt die derzeitige Anzahl von Landesrundfunkanstalten, die Existenz des ZDF oder des Deutschlandradio nicht vor. Es besteht insoweit ein weiter politischer Gestaltungsspielraum. Unter den Bedingungen des dualen Rundfunksystems muss allerdings ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk bestehen, der in der Lage ist, seinen verfassungsrechtlich vorkonturierten Funktionsauftrag zu erfüllen, um die hinsichtlich der angemessenen Repräsentation der bestehenden Meinungsvielfalt gegebenen und vom BVerfG mehrfach beschriebenen Dysfunktionalitäten der unter Marktbedingungen agierenden privaten Veranstalter zu kompensieren.
medienpolitik.net: Die Kooperationen und Gemeinschaftsprojekte von ARD und ZDF sind nach wie vor sehr gering. Warum können die Länder hier nicht konkretere Festlegungen treffen, zum Beispiel eine gemeinsame Mediathek oder eine gemeinsame Kulturplattform oder ein gemeinsames Korrespondentennetz für ARD und ZDF? Oder könnten die Sender das sogar selbst entscheiden?
Hain: Ich weiß nicht, ob die Zahl der Kooperationen und Gemeinschaftsprojekte tatsächlich immer noch so gering ist. Was die rechtliche Situation anbelangt, haben die Länder die Anstalten zur Kooperation verpflichtet und eine Betrauung für die Zusammenarbeit zur Erfüllung ihres Auftrags bei der Herstellung und Verbreitung von Angeboten ausgesprochen (§ 26 Abs. 3, 4 MStV). Die konkrete Umsetzung von Kooperationen wird zum großen Teil den Anstalten selbst im Rahmen ihrer Programmautonomie und ihrer Selbstverwaltungsrechte obliegen.