„Schuld sind immer die anderen“

Tom Buhrows Reformgedanken und die ARD-Wirklichkeit
04.11.2022. Von Helmut Hartung, Chefredakteur medienpolitik.net
Der Begriff „gespaltene Persönlichkeit“ steht laut Wikipedia für Schizophrenie oder eine Dissoziative Identitätsstörung. Beides kann man guten Gewissens Tom Buhrow nicht nachsagen. Doch wie kann ein amtierender ARD-Vorsitzender und Intendant der größten ARD-Anstalt öffentlich als Privatperson über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks reden, ohne, dass seine Überlegungen mit seiner Kompetenz und seinem Wissen als einer der wichtigsten Manager dieses Systems, assoziiert werden. Zurecht hat Reiner Haseloff, Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, gegenüber dem „Spiegel“ gesagt, es spiele für ihn keine Rolle, in welcher Eigenschaft Buhrow in Hamburg geredet habe. Seinen Gastbeitrag vom 23. März 2021, der in der FAZ unter dem Titel: „Wo die ARD im Jahr 2030 steht“ erschienen ist, hatte er wenigstens noch als WDR-Intendant verfasst. Anscheinend können nun 20 Monate später nicht einmal mehr die Mitarbeiter in seinem eigenen Haus seinen Gedanken folgen. Die Überlegungen des ARD-Vorsitzenden und WDR-Intendanten sind selbstverständlich der Diskussion und auch der konkreten Umsetzung wert. Doch sie wären noch wertvoller, wenn sie einer Erklärung aller ARD-Intendanten entstammen würden.
Darüber, dass Tom Buhrow in Hamburg nur für sich spricht, wundert sich in einer Stellungnahme auch der Verband Deutscher Drehbuchautoren: „Sie sind der bestbezahlte festangestellte Mitarbeiter des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Sie sind seit über 37 Jahren für die ARD tätig. Nun haben Sie am Mittwochabend vor dem Hamburger Überseeclub [sic!] eine vielbesprochene Rede über die Zukunft des Senderverbunds gehalten. Darin fordern Sie – im Alter von 64 Jahren und am Ende ihrer Karriere – massive Reformen und Einschnitte in das System. Sie wollen einen „gesamtgesellschaftlichen runden Tisch“, an dem es keine „Tabus und Denkverbote geben“ darf, stellen die Existenz von ZDF und ARD in Frage, kritisieren das föderale System. Sie stellen Klangkörper, Radio- und Regionalprogramme zur Disposition. Interessant ist, dass Sie zum Beispiel kein Wort über die Renten- und Altersvorsorgeaufwendungen verlieren. Allein für Ihre Altersversorgung sind gerade vier Millionen zurückgestellt worden. Und noch bestürzender ist die Tatsache, dass Sie mit vielen Fragen, aber kaum Antworten nach Hamburg gekommen sind. Darf man von einem Intendanten des WDR und ARD-Vorsitzenden nicht mehr Problemlösungen statt nur Fragen erwarten? Fragen, denen sich Ihre Nachfolger stellen müssen? Denn Sie sind dann ja in Rente.“
Viele der revolutionären Vorschläge sind nicht neu. Die Mehrzahl davon hat Tom Buhrow bereits in seinem FAZ-Artikel vom März vergangenen Jahres verarbeitet. Auch wenn er diesmal viele Fragen aufwirft, die er nicht selbst beantworten möchte. Eine seiner Kernfragen, „Was wollen wir vom gemeinnützigen Rundfunk im 21. Jahrhundert?“, hat das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet. Auf die andere Frage, „Wieviel gemeinnützigen Rundfunk wollen wir?“, könnten die Anstalten selbst eine Antwort geben. Unter anderem zeigt der 3. Medienänderungsstaatsvertrag mit der Flexibilisierung der Fernsehangebote dafür den Weg. Auch in den Staatsverträgen zu den Landesrundfunkanstalten ist zunehmend von einer Flexibilisierung der Radioangebote die Rede. Stattdessen bauen die Anstalten ihre Podcasts massiv aus, worauf erst jüngst der Vaunet hinwies.
Es ist verständlich, dass die unterschiedlichen Interessensgruppen ihre Vorstellungen über einen gemeinnützigen Rundfunk äußern, dass jede Gruppierung in der Gesellschaft mit möglichst vielen ihrer Ziele in ARD, ZDF und Deutschlandradio vertreten zu sehen möchte, wie Tom Buhrow beklagt. Denn es soll ja ein „Programm für alle“ geboten werden, wie es der 3. Medienänderungsstaatsvertrag formuliert, schließlich finanzieren nahezu alle Bürger diesen Rundfunk.
Seit Jahrzehnten befragen die Anstalten ihre Zuschauer, gibt es eine sehr gut ausgebaute Zuschauerforschung. Nach dem MDR wollen nun auch der NDR und das ZDF eine Plattform starten, auf der sich die Beitragszahler zusätzlich äußern können. Der ARD-Vorsitzende weiß sehr genau, was die Zuschauer wollen und schon heute könnten sich die Anstalten mehr danach richten.
„Die Anstalten können kein Zusammengehen beschließen, sie können aber durch gemeinsame Projekte, eine engere Zusammenarbeit und Kooperation, die Voraussetzungen mit schaffen.“
Es brauche keine Sparrunden stellt der ARD-Vorsitzende interessanterweise fest, also solle man doch dieses lästige Klein-Klein lassen, und sich mehr um das Große, Ganze kümmern. Denn Tom Buhrow geht um mehr als einen von den Bürgern akzeptierten Rundfunkbeiztrag, ihm es geht um eine große Reform, eine Strukturreform, die möglicherweise nur einen nationalen TV-Sender vorsieht und eine Reduzierung der Landesrundfunkanstalten. Eine solche Strukturreform wird von der Öffentlichkeit seit Jahren angemahnt und auch einige Politiker machen sich diese Forderungen zu eigen. Vor allem leider auf Medienkongressen oder in Interviews und nicht in der Rundfunkkommission der Länder. Über Fusionen von Landesrundfunkanstalten müssen die Landtage entscheiden. Die Fusion von ORB und SFB, auf die Tom Buhrow stolz verweist, als ob es das Werk der ARD war, kam nur zustande, weil beide Länder ein Zusammengehen planten, was dann am Einspruch der Wähler scheiterte. Die Anstalten können kein Zusammengehen beschließen, sie können aber durch gemeinsame Projekte, eine engere Zusammenarbeit und Kooperation, die Voraussetzungen mit schaffen.
Überhaupt ist die Medienpolitik der Länder der Hauptschuldige an dem Dilemma, in dem sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk gegenwärtig befindet. Eine Einschätzung die sein ZDF-Kollege Norbert Himmler nicht teilt. Er nehme sie „als beweglicher wahr, als Tom Buhrow das tut“, so der ZDF-Intendant. Auch die „pauschale Skepsis des ARD-Vorsitzenden in Bezug auf die Reformfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“, macht sich Norbert Himmler nicht zu eigen. „Wir sind offen und bereit für diese grundsätzliche Debatte und scheuen dabei auch keinen Vergleich der Systeme. Als nationaler, zentral organisierter Sender ist das ZDF effizient aufgestellt und dabei lern- und veränderungsfähig.“ Das ZDF habe in den vergangenen Jahren bewiesen, dass erfolgreiche Reformen möglich seien, sagte Himmler gestern in Berlin.
Die Idee eines „Runden Tisches“ für alle Antworten und die Lösung der Probleme ist ja nicht dumm, hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk damit noch mehr Akteure als die Medienpolitik der Länder, auf die man verweisen kann, wenn keine Übereinkunft zustande kommt. Die Grundsatzfragen die Tom Buhrow damit klären will, hat bereits das Bundesverfassungsgericht geklärt. Das Schwierige ist die Umsetzung in eine sich verändernde Medienwelt und hier ist vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk gefragt. Aber eines haben die obersten Verfassungsrichter auch gesagt, dass die wachsende Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Meinungsbildung kein quantitativer sondern ein qualitativer Prozess ist. Aber genau den anderen Weg beschreitet die ARD.
Die Bund-Länder-Kommission zur Medienkonvergenz, eine Runder Tisch mit Bundes- und Länderpolitikern, Juristen und Medienexperten, hat zwei Jahre getagt und kaum Antworten auf die drängenden Fragen zur medienpolitischen „Arbeitsteilung“ zwischen Bund und Ländern gegeben. Es ist deshalb zweifelhaft, ob es beim Thema öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein besseres Resultat gibt.
Heike Raab, die Koordinatorin der Medienpolitik der Länder, hat gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ ihre Verwunderung gezeigt, dass der ARD-Vorsitzende nicht in der Rundfunkkommission der Länder am 19. Oktober seine Überlegungen eingebracht habe. Wie man weiß, haben die dort eigeladenen Intendanten keine Reformvorschläge präsentiert. Oliver Schenk, Chef der Sächsischen Staatskanzlei, betont seine Freude darüber, dass Tom Buhrow die Notwendigkeit von Reformen sieht. Stellt aber gleich klar, dass die Forderung nicht neu sei, sie habe durch die jüngsten Vorfälle aber eine neue Dynamik erhalten. Die Länder befassen sich seit Jahren intensiv mit der Fragestellung, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk zukunftssicher und modern aufgestellt werden kann. Und dabei geht es keinesfalls nur um die viele Menschen bewegende und alle vier Jahre in den Landtagen anstehende Debatte um die Höhe des Rundfunkbeitrages, auch wenn dies ein sichtbarer, spürbarer und sehr ernst zu nehmender Aspekt ist. Es geht um Akzeptanz und Vertrauen, um den Anspruch auf Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit und Objektivität, um die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für unser demokratisches Gemeinwesen, um die Anpassung an Nutzerverhalten und technische Möglichkeiten.“
Eine große Reform lässt sich auch ohne Runden Tisch, ohne „verfassungsgebende Versammlung für den gemeinnützigen Rundfunk“ in mehreren Schritten erreichen. Hilfreich wäre dazu ein konkreter Vorschlag aller öffentlich-rechtlichen Sender, welche Prioritäten sie sehen, in welchen Zeitabschnitten die Reformen verwirklicht werden sollten und welchen Beitrag sie dazu leisten. Ein solches Konzept würde auch den Druck auf die Länder erhöhen, dafür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. An der Umsetzung eines solchen konstruktiven Reformpapiers würde auch der Verband Deutscher Drehbuchautoren sicher mitarbeiten: „Sie erzählen, dass Sie sich als „Reformer“ Gebührenkritikern gestellt hätten. Sie hätten ja so viel ändern wollen, aber was kann man in knapp zehn Jahren Intendanz der größten Sendeanstalt der ARD schon ausrichten? Schuld sind immer nur die anderen. Schuld ist die KEF, schuld sind die Politikerinnen und Politiker, schuld sind gar die Interessenverbände, also Menschen wie wir. Sie befürchten, sollten Sie sich mit uns anlegen, „heftigsten Widerstand zu bekommen“. Ja, wir leisten Widerstand, denn wir kämpfen für faire Arbeitsbedingungen für alle Kolleginnen und Kollegen. Wir kämpfen dafür, dass das reichste Fernsehen der Welt Programm macht, das international mithalten kann. Wir kämpfen für plurale, meinungsstarke fiktionale Stimmen der Demokratie. Wir spiegeln die Probleme der Menschen in Geschichten wider, und verschaffen ihnen so Gehör, geben ihnen ein Gesicht. Mit unseren Filmen und Serien erfüllen wir Ihren Auftrag, der Ihnen per Medienstaatsvertrag aufgegeben ist. Wir versuchen genau das immer wieder aufs Neue und so klar und komplex wie wenige andere.“