„Wir brauchen einen Neustart im dualen System“

Private Sender erwarten durch Flexibilisierung und Hyperlokalisierung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk erheblichen Wettbewerbsdruck
03.11.2022. Interview mit Claus Grewenig, Vorstandvorsitzender, Vaunet – Verband Privater Medien
Nach Auffassung des Vaunet, des Verbands Privater Medien, muss die Medienpolitik eine Aufwertung erfahren, um der wirtschaftlichen und der konstitutiven Bedeutung der privaten Medien für Demokratie und Meinungsvielfalt Rechnung zu tragen. „Medienpolitik gehört auf die große Bühne, sie ist mehr als eine bloße Fachdisziplin. Wir brauchen einen orchestrierten Dreiklang von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Digitalpolitik mit Kohärenz auf allen Regulierungsebenen – Länder, Bund und Europa“, sagt der Vorstandsvorsitzende Claus Grewenig in einem medienpolitik.net-Gespräch. Konkret bedeute das eine bessere Abstimmung in diesen Themen. Als Fazit aus den Skandalen bei der ARD schlussfolgert Grewenig, dass ein wohlüberlegter Neustart im dualen System nötig sei, weil sich Änderungen in einer Säule des dualen Mediensystems immer auch in der anderen Säule auswirken. Als nachteilig für die private Seite bewertet er den Ausbau der Audioaktivitäten angeht durch die Flexibilisierung des Auftrags, ebenso, wie die Tendenz der Hyperlokalisierung, das heißt die Besetzung durch lokaljournalistische Berichterstattung oder sonstige lokale Präsenz, z.B. auf Städte-, Gemeinde- oder Stadtteil-Ebene. Hierfür gäbe es keinen Auftrag für die landesweit konzipierten ARD-Anstalten.
medienpolitik.net: Herr Grewenig, angesichts der mutmaßlichen Verschwendung und des teilweise nicht programmbezogenen Einsatzes von Beitragsmitteln wenden sich Politiker gegen weitere Erhöhungen des Rundfunkbeitrages und fordern mindestens ein Einfrieren des Beitrages. Wäre ein solcher Schritt auch im Interesse der privaten Veranstalter?
Grewenig: Auch wenn wir die im Raum stehenden Vorwürfe nicht im Einzelnen kommentieren – sie müssen durch die Zuständigen lückenlos aufgeklärt werden und zeigen die Notwendigkeit einer größeren Transparenz bei den Rundfunkanstalten. Generell gilt: Wir brauchen einen wohlüberlegten Neustart im dualen System, weil sich Änderungen in einer Säule des dualen Mediensystems immer auch in der anderen Säule auswirken. Nachteilig für die private Seite ist dies insbesondere bei Fehlentwicklungen im öffentlich-rechtlichen System, wenn die Grenzen zum Kommerziellen, etwa durch die Kommerzialisierung des Auftrags oder bei kommerziellen Tätigkeiten der Tochterunternehmen, berührt werden. Aktuelle Beispiele sind eine stärkere Lokalisierung im Audio – und Textbereich sowie die Podcast-Vermarktung auf Drittplattformen trotz bestehenden Online-Werbeverbots. Um den Beitrag nachhaltig zu stabilisieren, bedarf es klarer Einschnitte und einer Fokussierung des Auftrags. Hier sind erste, allerdings nicht besonders mutige Schritte durch den 3. Medienänderungsstaatsvertrag der Länder getan. Die Politik muss aufpassen, hier nicht in derselben Sackgasse zu landen wie 2020.
medienpolitik.net: Die öffentlich-rechtlichen Sender begründen eine mögliche Beitragserhöhung mit der Inflation, gestiegenen Energiepreisen, höheren Tarifabschlüssen und angewachsenen Rechtekosten. Wie wird der private Rundfunk mit diesen zusätzlichen wirtschaftlichen Belastungen fertig?
Grewenig: Zunächst besteht bei unseren Mitgliedern nicht die Möglichkeit, Mehrkosten lediglich anzumelden. Vielmehr führen sie zu unmittelbarem Handlungsdruck, entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten – die von der Überprüfung von geplanten Investitionen bis hin zu unmittelbaren Sparmaßnahmen reichen. In Kombination mit der herausfordernden Lage im Werbemarkt können Sie sich vorstellen, dass schon eine unveränderte Investitionsmöglichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als unmittelbarer Wettbewerber zu erheblichem Wettbewerbsdruck führt. Dennoch: Reaktionsschnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Kreativität sind seit jeher Stärken des privaten Rundfunks – umso mehr in Zeiten der Krise. Allerdings muss die Politik dann ähnlich agil sein und die Rahmenbedingungen für uns ebenso schnell sichern – das reicht vom Verhindern weiterer Werbeverbote über den Stopp von Markteingriffen a la Investitionsverpflichtung bei der Filmförderung bis zur Absicherung des Status der privaten Rundfunkunternehmen als kritische Infrastruktur im Falle von Versorgungsengpässen.
medienpolitik.net: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk baut seine Online-Präsenz mit neuen Apps, Podcasts und neuen Portalen weiter aus. Inwieweit ist eine solche digitale Expansion für ein ausgewogenes duales System bedenklich?
Grewenig: Sie ist leider sehr bedenklich – vor allem, was den Ausbau der Audioaktivitäten angeht. Denn durch die Flexibilisierung des Auftrags entsteht ein zusätzlicher Druck, weil die Einstellung linearer Programme und der Ersatz durch non-lineare Angebote jedes Mengengerüst erodieren lässt. Daher bedarf es dringend einer länderübergreifenden Gesamtschau im Bereich Audio – wie wir es bereits im Rahmen des 3. Medienänderungsstaatsvertrags angeregt haben. Erste Gespräche auf Fachebene soll es nun geben – es bedarf unseres Erachtens aber unbedingt auch einer zeitnahen politischen Befassung. Zum Beispiel sehen wir verstärkt die Tendenz der Hyperlokalisierung, d.h. die Besetzung durch lokaljournalistische Berichterstattung oder sonstige lokale Präsenz, z.B. auf Städte-, Gemeinde- oder Stadtteil-Ebene. Hierfür gibt es keinen Auftrag für die landesweit konzipierten ARD-Anstalten und Hyperlokalisierung konnte bisher über die linearen Angebote auch nicht richtig abgebildet werden. Anders im Online-Bereich – hier treten die öffentlich-rechtlichen Angebote nun verstärkt mit lokalen/regionalen Medien in Konkurrenz. Das lässt unseren Hauptabgrenzungsfaktor immer weiter verschwimmen. Insgesamt lässt sich sagen, dass eine Begrenzung des öffentlich-rechtlichen Angebotes nur durch den Faktor „Geld“ keine gestalterische Lösung der Medienpolitik sein kann. Es muss genauer definiert werden, was von ARD und ZDF erwartet wird – und dieser, im Zweifel eingeschränkte, Funktionsumfang ist dann auch Basis für die unabhängige, nicht politische Ermittlung des Finanzbedarfs.
„Reaktionsschnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Kreativität sind seit jeher Stärken des privaten Rundfunks – umso mehr in Zeiten der Krise.“
medienpolitik.net: Das Bundesverfassungsgericht hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu neuen digitalen Angeboten „ermuntert“. Bedeutet das, dass die Politik keinen Handlungsspielraum mehr für eine Begrenzung hat?
Grewenig: Im Gegenteil: Das Bundesverfassungsgericht hat den Gestaltungsauftrag gerade den Ländern übertragen, um eine politische Steuerung über Finanzmittel auszuschließen. Je präziser der Auftrag inhaltlich und auch im Gesamtumfang definiert ist, desto weniger Konflikt wird es auch mit den privaten Wettbewerbern – von Print über Radio bis TV und Streaming – geben. In der Praxis müssen dann alle Interessen gleichermaßen gewahrt werden. Die aktuellen Schlichtungsgespräche von ARD und Verlegern zu presseähnlichen Angeboten etwa finden nicht im luftleeren Raum statt. Die Verlinkung auf kommerzielle Angebote wirkt sich stets auch auf andere Marktteilnehmen wie den privaten Rundfunk aus. Wenn bei der Übernahme von Themen aus Zeitungsangeboten die Quellen genannt werden und die Beiträge nach Möglichkeit verlinkt werden, dann muss das entsprechend und diskriminierungsfrei auch für alle anderen Medienquellen gelten.
medienpolitik.net: Welche Auswirkungen hat der 3. Medienänderungsstaatsvertrag für den privaten Rundfunk?
Grewenig: Wir haben ein gemischtes Fazit gezogen. Es ist nicht der „große Wurf“, der Länder und Anstalten wieder aktiv in die Debatte bringt. Einen wesentlichen Einschnitt in den Auftragsumfang hat es nicht gegeben, im Gegenteil: Die Flexibilisierung kann am Ende dazu führen, dass die Grenzen dessen, was angeboten wird, sich eher an den verfügbaren Finanzen bemisst. Der 3. Medienänderungsstaatsvertrag hat allerdings auch einige positive Festlegungen gebracht: So wurde nach langer Definition der Kernauftrag ein Stück weit geschärft, indem die anderen Kategorien als Kernauftrag von der Unterhaltung abgesetzt wurden und ein öffentlich-rechtliches Profil eingefordert wurde. Bei der Ausweitung der non-linearen Auswertungsmöglichkeiten sind einige Einwände der TV-Seite gehört worden, sodass die Mediatheken nun nicht unbegrenzt Lizenzware anbieten und damit noch mehr als bisher in den Markt eingreifen können.
medienpolitik.net: Die Länder haben lange über eine neue Auftragsdefinition diskutiert. Bis zum Schluss war die „Unterhaltung“ umstritten. Erwarten Sie von der jetzigen Festlegung im Entwurf des Medienänderungsstaatsvertrages, dass der Unterhaltungsanteil reduziert wird?
Grewenig: Das liegt nicht in unserer Hand, sondern in der Verantwortung der Gremien. Durch die Absetzung des Unterhaltungsbegriffs in der Auftragsdefinition ist eine Anforderung der Länder deutlich geworden. Was aber in der Bewertung der Neuerungen im Verhältnis viel zu kurz kommt, ist eine deutlich weitreichendere Änderung: Die Anforderung, dass der Auftrag in seiner gesamten Breite in den Hauptnutzungszeiten oder dort, wo besonders viel Aufmerksamkeit herrscht, zur Geltung kommen muss. Waren vor der Pandemie ein Großteil der Inhalte in der TV-Prime Time Unterhaltung und Fiktion wie z.B. Krimis, sollten wir dort nun auch vermehrt Dokumentation oder Kultur sehen. Um das feststellen zu können, müssen die Gremien nun auch die Voraussetzungen einer Überprüfung schaffen, indem die entsprechende Zahlenbasis erhoben wird. Im Übrigen ist das nicht nur eine programmliche Vorgabe – auch das Geld sollte erkennbar in Information, Kultur und Bildung zu Hauptnutzungszeiten fließen. Erste Gelegenheit, das entsprechend festzuhalten, bieten die von den Ländern eingeforderten „finanzwirksamen Selbstverpflichtungen“ der Anstalten.
Uns ging es in der Debatte auch nie darum, einzelne Formate im öffentlich-rechtlichen Angebot als „Unterhaltung“ oder „Nicht-Unterhaltung“ zu qualifizieren. Gerade weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk in seiner Refinanzierung nicht von den Marktanteilen in der Primetime oder der Drivetime (Radio) abhängt, sollte er dort auch nicht verstärkt nach kommerziellen Erwägungen programmieren. Dieser Vorteil müsste seitens von ARD und ZDF sehr viel mehr ausgefüllt werden. Aktuell sehen wir, dass die besonders kommerziellen Strecken im TV genau dann laufen, wenn der private Rundfunk Regionalfensterprogramme ausstrahlt.
„Eine Begrenzung des öffentlich-rechtlichen Angebotes nur durch den Faktor ‚Geld‘ ist keine gestalterische Lösung der Medienpolitik.“
medienpolitik.net: Die Radios sind ein wichtiges Standbein des privaten Rundfunks. Werden mit dem Entwurf des Medienänderungsstaatsvertrages die Interessen des privaten Hörfunks angemessen berücksichtigt?
Grewenig: Radio ist nach Aussagen der Länder nicht Gegenstand des 3. Medienänderungsstaatsvertrags. Wir haben demgegenüber angemahnt, dass gerade die Frage des Gesamtumfang Audios, der Bestandteil des Medienstaatsvertrages ist, auf der Stufe I der Auftragsdebatte behandelt werden muss. Nun sollen zeitnah Gespräche mit den Ländern zu Audio stattfinden. Aus unserer Sicht muss dort insbesondere der Gesamtumfang sowie die Einhaltung des Online-Werbeverbots als auch das Thema Hyperlokalisierung in den Blick genommen werden. Die Ausgestaltung der Vorgaben für die Radioprogramme sind dann Gegenstand einzelner Länderstaatsverträge, der Rahmen muss aber in einer Gesamtschau abgesteckt werden. Andernfalls sind die Entwicklungen absehbar, denn auf Ebene der einzelnen Rundfunkanstalten werden die zuständigen Länder aller Voraussicht nach keine Einschränkungen vorsehen. Dieses Muster „Einschränkungen gern, aber nicht bei der Anstalt vor Ort“ konnte man in vergangenen Novellen allzu oft beobachten – wenn ich das recht verstehe, hat auch der ARD-Vorsitzende diese Erfahrungen in den Landtagen gemacht.
medienpolitik.net: Sie haben jüngst auf der VAUNET-Mitgliederversammlung eine „Aufwertung der Medienpolitik“ gefordert. Was heißt das konkret und was versprechen Sie sich davon?
Grewenig: Die Pandemie und die derzeitige Multifaktor-Krise haben mehr denn je verdeutlicht, dass es unabhängige Medien geben muss –selbstverständlich mit zwei starken Säulen im System, die ihren jeweiligen Aufgaben auf unterschiedliche Weise nachkommen. Alle Themen der Medienpolitik betreffen Millionen von Menschen: Zuschauern, Zuhörern und Nutzern – die Mitglieder des VAUNET erreichen mit ihren Angeboten pro Tag über 50 Millionen Menschen in Deutschland. Darauf sind wir sehr stolz, daraus erwächst aber auch eine besondere Verantwortung. Um der wirtschaftlichen und der konstitutiven Bedeutung der privaten Medien für Demokratie und Meinungsvielfalt Rechnung zu tragen, muss die Medienpolitik eine Aufwertung erfahren: Medienpolitik gehört auf die große Bühne, sie ist mehr als eine bloße Fachdisziplin. Wir brauchen einen orchestrierten Dreiklang von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Digitalpolitik mit Kohärenz auf allen Regulierungsebenen – Länder, Bund und Europa. Konkret bedeute das eine bessere Abstimmung in diesen Themen. Wir begrüßen, dass mit Michael Kellner nun ein Ansprechpartner der Bundesregierung für die Kultur- und Kreativwirtschaft berufen wurde, der hierzu einen Beitrag leisten kann.
Klar ist auch: Wer plurale Medien möchte, muss ihren Rahmen aktiv gestalten. Gerade in Zeiten großer wirtschaftlicher Belastungen braucht es daher für alle regulatorische Initiativen hinsichtlich möglicher negativer Auswirkungen auf unsere Branche eine Medienverträglichkeitsprüfung. Und verträglich ist es eben nicht, wenn die privatwirtschaftlichen Refinanzierungsgrundlagen als Voraussetzung für Qualitätsjournalismus und gute Inhalte eingeschränkt werden. So muss es für immer neue Werbeverbote ein klares Stopp-Schild geben. Kommunikationsverbote verhindern Wettbewerb und mindern Vielfalt.
medienpolitik.net: Angesichts des neuen Wettbewerbs mit den Tech-Giganten, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk genauso betrifft – müssten die großen Konfliktlinien zwischen beitragsfinanzierten und privaten Anbietern nicht ad acta gelegt werden können?
Grewenig: Ja und Nein. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Herausforderungen, die private und öffentlich-rechtliche Medien gleichermaßen betreffen und denen sie teilweise auch gemeinsam begegnen. Auch die regulatorischen Anliegen, insbesondere wenn die Verbreitung unserer Inhalte über Plattformen betroffen ist, haben sich sehr angenähert. Die Zeiten eines rein ideologischen Konflikts oder einer Qualitätsdebatte – die wir ohnehin nie für berechtigt hielten – sind nach unserem Eindruck in der Tat vorbei und wir freuen uns, wenn man die gemeinsamen Anliegen artikulieren kann. Trotzdem müssen wir wettbewerbsrelevante Themen und Probleme im dualen Mediensystem deutlich, aber konstruktiv, äußern, da sie unsere Refinanzierungsgrundlagen berühren.
„Wir brauchen einen orchestrierten Dreiklang von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Digitalpolitik mit Kohärenz auf allen Regulierungsebenen – Länder, Bund und Europa.“
medienpolitik.net: Medienpolitik ist auch zunehmend ein Thema in Brüssel. Aktuell ist mit dem Entwurf der Verordnung über den European Media Freedom Act (EMFA) ein weiteres Regelwerk mit hoher Relevanz für die Medienbranche in der Beratung. Die Printmedien haben am EMFA starke Kritik geübt und es als „Unfreiheitsgesetz“ bezeichnet. Sehen Sie diese Brüsseler Initiative ebenso kritisch?
Grewenig: Diese Entwicklung beobachten wir schon seit Jahren. Hinzu kommt, dass Brüssel verstärkt nicht mehr in Form von Richtlinien mit nationalem Umsetzungsspielraum für die Mitgliedstaaten, sondern in Form von Verordnungen agiert. Das kommt der Dynamik und der Verfahrensdauer entgegen, um schneller auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. Gleichzeitig ist dies aber an der Schnittstelle zur Medien- und Vielfaltsregulierung, die Ländersache ist, besonders problematisch. So kann in funktionierende Systeme eingegriffen werden oder das Thema Staatsferne – im Falle der Einbindung von EU-Behörden oder von diesen errichteten Strukturen – auftauchen. Freie und unabhängige privatwirtschaftliche Medien sind unerlässlich, sodass wir hier auch mit einer Stimme auftreten.
Im Falle des EMFA sehen wir ähnliche Risiken, zugleich aber auch die Motivation der EU, in einigen Bereichen mehr eingreifen zu können. Dafür müssen aber Subsidiarität und Staatsferne gewahrt sein und Eingriffe in die unternehmerische Organisation der Medien unterbleiben. Hier beobachten wir beim EMFA eine erhebliche „Text-Wort-Schere“ – sprich: das, was die Kommission an Intentionen äußert und das, was die Texte hierzu zu Papier bringen, widerspricht sich. In seiner Multifunktionalität birgt der vorgelegte Entwurf die Gefahr, eine weitere Schicht der Medienregulierung einzuführen – selbst für Märkte, auf denen es kein Vielfaltsdefizit gibt. Deshalb darf eine Harmonisierung im Binnenmarkt nicht zulasten funktionierender Systeme in den Mitgliedstaaten, auch im Bereich der Selbstregulierung, gehen. Zudem muss das Prinzip der Staatsferne bei der Medienaufsicht nicht nur postuliert, sondern auch durchgehend im Verfahren abgebildet sein. Staatliche Eingriffe in die internen Strukturen von Medienhäusern mit einer bereits umfangreich gewährleisteten Unabhängigkeit der Redaktionen beispielsweise sind nicht angezeigt.
Korrigiert werden sollte im weiteren Verfahren zudem, dass den sehr großen Plattformen nach wie vor weitreichende Befugnisse zustehen, mit journalistischer Sorgfalt erstellte Inhalte allein auf Grundlage ihrer Geschäftsbedingungen und ohne Konsultation der redaktionell Verantwortlichen zu entfernen. Die Nennung von Gründen für eine geplante Löschung reicht nicht aus. Es bedarf darüber hinaus einer verfahrensrechtlichen Absicherung der Inhalteanbieter.
medienpolitik.net: Nach den Beschlüssen des Europäischen Parlaments zum Digital Markets Act (DMA) und Digital Services Act (DSA) – welches Fazit ziehen Sie hinsichtlich dieser Regulierungsinitiativen?
Grewenig: Das kann auch nach den parlamentarischen Beschlüssen nur ein Zwischenfazit sein. Wir haben begrüßt, dass es EU-weit nun erste einheitliche Regeln für Onlineplattformen im Allgemeinen und für marktmächtige internationale Tech-Plattformen im Speziellen geben wird. Mit dem DMA ist ein enorm wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Wettbewerbschancen mit den internationalen Tech-Plattformen gelungen. Der DSA ergreift zwar Maßnahmen zur Bekämpfung illegaler Inhalte, bleibt jedoch im Hinblick auf die Ausgestaltung der Pflichten und Haftung großer Plattformunternehmen hinter unseren Erwartungen zurück. Die Wahrung und Berücksichtigung der Medienfreiheit darf hier nicht zum bloßen Lippenbekenntnis in den Erwägungsgründen des Gesetzes werden und beschäftigt uns weiterhin auch beim EMFA. Eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung von DMA und DSA wird nun der Aufsicht zukommen: Deutschland hat mit dem Medienstaatsvertrag und dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen in der EU Maßstäbe gesetzt. Diese positive Entwicklung sollte durch die Umsetzung effizienter und staatsferner Aufsichtsstrukturen, wie sie z. B. durch die Landesmedienanstalten wahrgenommen werden, gestärkt werden.
medienpolitik.net: Ein weiteres Thema, das Europa bald intensiver beschäftigen könnte, ist die Ankündigung der EU-Kommission, die Möglichkeiten datenintensive Dienste, zu denen auch Video-on-Demand- und Streaminganbieter gehören, dazu gesetzlich zu verpflichten, sich an den Kosten für den Infrastrukturausbau – insbesondere bei 5G und dem Glasfasernetzwerk – in der Europäischen Union zu beteiligen. Sie griff damit entsprechende Forderungen von Telekommunikationsunternehmen auf. Bereits Mitte Dezember könnten Konsultation und ggf. eine entsprechende Initiative folgen. Wie bewerten Sie diese Debatte?
Grewenig: Die Inhalteanbieter haben auf „klassischen“ Verbreitungswegen lange dafür gekämpft, dass die Einbahnstraße der Zahlungen im Sinne der Aufwertung der Netze mit hochwertigen – journalistischen, informierenden oder unterhaltenden Inhalten – sich dahin entwickelt, dass auch der Wert der Inhalte Berücksichtigung findet. Die VAUNET Mitglieder investieren ca. 2,5 Mrd. € jährlich in Inhalte und schaffen damit einen Mehrwert für die Infrastrukturen, die diese Inhalte verbreiten: um mehr und qualitativ hochwertigere Inhalte sehen zu können, entscheiden sich immer mehr Nutzer für breitbandige Internetanschlüsse, was bereits zu entsprechenden Einnahmen der Telekommunikationsanbieter führt. Die wieder aufgewärmte Debatte hat ihre Wurzeln in der Frage, ob die großen Tech-Plattformen zukünftig solche Network Fees bezahlen sollen. Da aber nicht auszuschließen ist, dass die im VAUNET vertretenen Inhalteanbieter in den Kreis der mit dem Vorhaben „Zwangsbeglückten“ aufzurücken drohen – also durch unklare Schwellenwerte, durch fehlende Gatekeeper-Definitionen oder einen mangelnden expliziten Ausschluss, sehen wir hier ein Risiko und warnen vor einem Paradigmenwechsel in der Internetökonomie, der selbst nach Ansicht der zuständigen europäischen Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (BEREC) weitreichende Folgen für die Nutzer haben könnte.