Wachsende Sorge um die Meinungsfreiheit

Ein medienpolitischer Jahresrückblick auf 2022
20.12.2022. Von Helmut Hartung, Chefredakteur medienpolitik.net
Die Sicherung der Medien- und Meinungsfreiheit gehörte zu den prägenden Themen des Medienjahres 2022. Das Jahr begann medienpolitisch mit einer Debatte über den negativen Einfluss demokratiefeindlicher Propaganda und endet mit der Sorge, ob diese wichtigen Stützen der Demokratie durch die Änderung von Besitzverhältnissen und Geschäftsmodellen bei sozialen Netzwerken gefährdet sein könnten. Nach Chaos, Entlassungen und der Abmeldung prominenter Nutzer, hat Elon Musk nun die Nutzer entscheiden lassen, ob er weiter Chef von Twitter bleiben soll. Ob er dem Abwahlvotum folgt, ist fraglich. Und kurz vor Jahresende hat Berlusconis MediaForEurope (MFE) ihre Übernahmeabsichten von ProSiebenSat.1 bekräftigt. Beruhigend ist das alles nicht. Doch die Regulierung der sozialen Netzwerke ist das eine, das noch dazu wegen der damit verbundenen Konsequenzen manchmal fragwürdig ist. Ebenso wichtig ist die Unterstützung der nach journalistischem Standard arbeitenden Medien. Hier haben der Bund und die Länder 2022 nicht viel erreicht: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bedarf einer tiefgreifenden Reform, der Vertrieb von Zeitungen und Zeitschriften muss endlich alimentiert werden und die lokalen Medien müssen mehr gefördert werden, als es die Landesmedienanstalten mit ihren oft schmalen Budgets vermögen.
Am 1. Februar hatte die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Medienanstalten die Veranstaltung und Verbreitung des Fernsehprogramms „RT DE“ in Deutschland beanstandet und untersagt, weil die dafür erforderliche medienrechtliche Zulassung nicht vorlag. Damit bestätigte die ZAK eine Entscheidung der MABB vom 22. Dezember 2021, nach der die Verbreitung über den Satelliten eingestellt worden ist. Dieses Verbot, so die Medienanstalten, basiere nicht auf einer inhaltlichen, sondern ausschließlich auf einer medienrechtlichen Bewertung.
Am 1. März beschloss der EU-Ministerrat in der Verordnung 2022/350 dagegen mit einer inhaltlichen Begründung ein Sende- und Verbreitungsverbot für das Nachrichtenportal Sputnik sowie die Programme von RT in Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch. „Diese Medien spielen eine maßgebliche Rolle, um die Aggressionen gegen die Ukraine mit Nachdruck voranzutreiben und zu unterstützen und die Nachbarländer der Ukraine zu destabilisieren“, so die EU.
Die Entscheidung des EU-Rates hat auch in Deutschland zur Diskussion geführt. Sie mache ihn „mindestens unruhig“, erklärte beispielsweise der Hamburgische Senator für Kultur und Medien, Carsten Brosda. „Wir haben aus guten Gründe die Staatsferne bei der Aufsicht“, erläuterte der SPD-Politiker seine Bedenken. Hier „entscheiden jetzt die Regierungen“. Der Senator mahnte zu „Vorsicht bei zu viel staatlichem Regulierungseifer“. Den russischen Propagandamedien gelang es teilweise, die Sperren zu umgehen und mit den Inhalten weiter im Netz präsent zu sein.
Aus einer anderen Perspektive traten am 28. Oktober mögliche Gefahren der Manipulation und Einschränkung der Meinungsfreiheit in das öffentliche Bewusstsein: Elon Musk hatte Twitter für 44 Milliarden Dollar gekauft. Erstmals entscheidet damit eine Einzelperson, ohne Aufsichtsgremium, über die Inhalte eines Mediums. Seitdem reißen die Spekulationen über die wirtschaftliche Lage und die künftige Ausrichtung des sozialen Netzwerkes nicht ab. Laut der Agentur für neue Medien „Kontor 4“ können wöchentlich bis zu 2,8 Millionen Deutsche über Twitter erreicht werden. Im Jahr 2021 belief sich die Zahl der weltweiten Twitter-Nutzer auf 362,6 Millionen. Soziale Medien hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Prozesse der öffentlichen Kommunikation und Meinungsbildung tiefgreifend verändert haben, sagt Dr. Wolfgang Kreißig, Vorsitzender der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten. Zum Schutz vor einem möglichen Missbrauch hatte der Medienstaatsvertrag für Intermediäre wie Twitter, bereits 2020 Vorgaben zur Transparenz und Diskriminierungsfreiheit festgelegt.
Nicht nur beim Verbot russischer Propagandamedien, sondern auch bei drei weiteren Gesetzesinitiativen der EU stand die Sorge um die demokratische Meinungsbildung im Vordergrund. Mit dem Gesetz über digitale Dienste (DSA) will die EU Internetkonzerne dazu verpflichten, künftig schneller und besser gegen Hetze, Desinformation und gefälschte Produkte vorzugehen. Dafür wurden verbindliche Regeln nach dem Prinzip festgeschrieben: Was offline unrechtmäßig ist, soll es auch online sein. Da nur wenige Konzerne wie Amazon, Alphabet, Meta, Microsoft oder Apple die digitalen Märkte und damit auch die Verbreitung von Inhalten als sogenannte Gatekeeper (Türsteher) bestimmen und mit ihrer riesigen Marktmacht dominieren, ist es das Ziel des Digital Markets Act (DMA) fairen Wettbewerb zu ermöglichen und die Eintrittshürden in die Märkte zu verringern.
Mit dem European Media Freedom Act (EMFA) initiierte die EU im September ein weiteres Regelwerk mit hoher Relevanz für die Medienbranche. Medienpolitiker, Verbände und Medienunternehmen sehen diese neue Verordnung jedoch kritisch. Sie warnen vor einer Harmonisierung im Binnenmarkt zulasten funktionierender Systeme in den Mitgliedstaaten, auch im Bereich der Selbstregulierung. Zudem müsse das Prinzip der Staatsferne bei der Medienaufsicht nicht nur postuliert, sondern auch durchgehend abgebildet sein.
Weitere wichtige medienpolitische Ereignisse und Entscheidungen 2022:
RTL kauf Magazinmarken von G+J
Seit 1. Januar 2022 gehören die Magazinmarken von Gruner + Jahr zu RTL. Der Kaufpreis betrug nach Angaben des Senders 230 Millionen Euro. Damit will sich die Bertelsmann-Tochter im Kampf gegen internationale Streaming-Anbieter stärken. Deutschland hat einen neuen „nationalen Medien-Champion“ – so sieht es jedenfalls Thomas Rabe, Bertelsmann- und RTL-Chef. Damit gehören bekannte Magazin-Titel wie „Stern“, „Brigitte“ oder „Geo“ von nun an zu RTL, und der Fernsehsender plant mit dieser Akquise, der Konkurrenz von internationalen Streaming-Anbietern etwas entgegenzusetzen. Die Übernahme solle „unsere Mediengeschäfte auf dem deutschen Markt im Wettbewerb mit den globalen Tech-Plattformen“ stärken, so Rabe im Intranet von Bertelsmann. Im September hatte Thomas Rabe angekündigt, das Magazin-Geschäft von Gruner + Jahr zur Disposition zu stellen. Das Magazingeschäft stehe „aktuell besonders unter Druck“, deshalb „werde das Titelportfolio überprüft und nur solche Titel mit RTL zusammengeführt, die synergetisch sind“, sagt Raabe.
23. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF)
Der 23. Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF), der im Februar veröffentlicht worden ist, sieht keine Veränderungen beim Rundfunkbeitrag vor. Ein Ausgleich für den Ausfall aus der verzögerten Beitragsanpassung mit rund 224,3 Mio. Euro erfolgte nicht. Die KEF verweist darauf, dass die Kosten für Telemedien und Livestreams auch in der Periode 2021 bis 2024 „erheblich“ ansteigen. Die erhöhten Aufwendungen sind vor allem auf eine Ausweitung des Angebots, auf einen höheren Verbreitungsaufwand aufgrund steigender Nutzungszahlen und höherer Video-Qualität (HD) sowie in geringerem Maße auf die Erweiterung der barrierefreien Angebote zurückzuführen. Innerhalb von zwei Jahren, so die KEF, kletterte der angemeldete Aufwand für Telemedien um 225,0 Mio. Euro (16,4 %). ARD und ZDF nahmen zudem mehr Geld mit dem Rundfunkbeitrag ein. 8,42 Milliarden Euro landeten 2021 an Erträgen aus dem Rundfunkbeitrag auf dem Konto von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Zuwachs von 3,8 Prozent. Hauptgrund für den Anstieg der Einnahmen war demnach die vom Bundesverfassungsgericht beschlossene Anpassung des Rundfunkbeitrags auf 18,36 Euro pro Monat.
Unterzeichnung des Entwurfs des 3. Medienänderungsstaatsvertrages
Am 2. Juni hatte die Ministerpräsidentenkonferenz der Länder dem Entwurf des novellierten Medienstaatsvertrages zur Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ihre Zustimmung gegeben. Eine der kontrovers diskutierten Passagen war die Formulierung zum Unterhaltungsangebot: „Die öffentlich-rechtlichen Angebote haben der Kultur, Bildung, Information und Beratung zu dienen. Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil entspricht, ist Teil des Auftrags.“ Das bedeutet, dass nur die Unterhaltungssendungen, die einem solchen Profil entsprechen, künftig im Programm angeboten werden dürfen. Neben der Flexibilisierung des Programmangebotes und der damit verbundenen deutlich reduzierten Beauftragung von linearen Angeboten, finden sich wichtige Änderungen im § 31, zu den Aufgaben der Rundfunk- und Fernsehräte. So sollen die zuständigen Gremien künftig über die „Erfüllung des Auftrags sowie über eine wirtschaftliche und sparsame Haushalts- und Wirtschaftsführung“ wachen. Sie sollen zudem Richtlinien aufstellen, die „inhaltliche und formale Qualitätsstandards sowie standardisierte Prozesse zu deren Überprüfung“ umfassen. Auch sollen sie Maßstäbe festsetzen, um die „Kontrolle der Ressourceneffizienz zu ermöglichen.“
Skandal um Verschwendung und Missbrauch von Beitragsgeldern im RBB
Das Online-Portal „Business Insider“ hatte Ende Juni erstmals über Vorwürfe gegen die RBB-Intendantin Patricia Schlesinger und die Leitung berichtet. Der ehemaligen Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg wird Vetternwirtschaft, Vorteilsnahme und Verschwendung vorgeworfen. Dabei geht es u.a. um umstrittene Beraterverträge, Schlesingers Gehaltserhöhung auf 303.000 Euro, zusätzliche Boni und ein Abendessen in ihrer Privatwohnung auf RBB-Kosten mit angeblich falschen Rechnungen. Schlesinger selbst weist alle Vorwürfe zurück. Der RBB-Rundfunkrat hat sie als Intendantin abberufen, die Vorsitzende des Rundfunkrates sowie der Vorsitzende des Verwaltungsbeirates traten zurück, es wurde eine Interimsintendantin gewählt. Zudem ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft Berlin. Die Missstände beim RBB haben eine Vertrauenskrise des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgelöst und die Forderungen nach einer grundlegenden Reform verstärkt.
Bundesrat fordert schnelle Presseförderung
Der Bundesrat hat auf Anregung mehrerer Länder am 21. September eine Entschließung gefasst, die sich an die Bundesregierung richtet: Er fordert sie auf, schnellstmöglich Maßnahmen zu ergreifen, um die flächendeckende Versorgung mit Presseerzeugnissen weiterhin gewährleisten zu können. Er bittet die Bundesregierung, zeitnah ein Förderkonzept vorzulegen, das eine unabhängige journalistische Tätigkeit der Medienhäuser auch zukünftig gewährleistet. Die Zustellung von periodischen Presserzeugnissen wird vor allem in ländlichen Gebieten problematischer. Sinkende Auflagen, höhere Papierpreise und steigende Energie- und Spritausgaben führen bei der Belieferung der Abo-Kunden zu immer höherem finanziellem Aufwand. Dadurch werden zunehmend mehr Zustellgebiete unwirtschaftlich. Hinzu kommt eine seit Oktober 2022 deutliche Erhöhung der Lohnkosten, die weitere negative Auswirkungen für die Verlage mit sich bringen wird. Nach einer Studie vom Mai 2020 sind bis 2025 40 Prozent der Regionen Deutschlands nicht mehr kostendeckend mit Presseerzeugnissen zu versorgen. Das betrifft fast 5 Millionen Bürger.
ARD Kultur gestartet
Am 26. Oktober startete die ARD, drei Jahre nach dem ZDF, ein eigenes Kulturportal. Karola Wille, MDR-Intendantin und eine der Initiatoren von ARD Kultur betonte, dass das Portal den Kulturauftrag umsetze und den öffentlich-rechtlichen Markenkern in einer Zeit tiefer Krisen stärke. Insgesamt hat der MDR knapp fünf Millionen Euro eingeplant. Zum Start standen ca. 150 Beiträge (Video + Audio) im Portal. Die Angebote sollen möglichst von deutschlandweiter Relevanz sein, dazu können auch regionale Formate gehören, die für Tradition und einen spezifischen kulturellen Duktus stehen. Die Abstimmung über Portalinhalte erfolgt im Dialog mit den Landesrundfunkanstalten, die die Beiträge auch auf Laufzeiten-Rechte prüfen. Letztendlich liegt die Entscheidung jedoch bei ARD Kultur. Die Redaktion orientiere sich bei ihren Inhalten, so Wille, an der Definition des Medienstaatsvertrages. Zur Kulturdarstellung gehören danach insbesondere: Bühnenstücke, Musik, Fernsehspiele, Fernsehfilme und Hörspiele, bildende Kunst, Architektur, Philosophie und Religion, Literatur und Kino.
Rede Tom Buhrows in Hamburg
Tom Buhrow, Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR) und amtierender ARD-Vorsitzender, hat sich am 2. November in einer Rede vor dem Verein Übersee-Club in Hamburg, für eine große Rundfunk-Reform und einen neuen Gesellschaftsvertrag für die öffentlich-rechtlichen Sender ausgesprochen. „Mein fester Eindruck ist: Deutschland scheint uns in zehn Jahren nicht mehr in dem Umfang zu wollen – und auch finanzieren zu wollen wie heute“, sagte Buhrow. Der Intendant, der ausdrücklich als „Privatmann“ sprach und mehr Fragen aufwarf als Antworten gab, plädierte für einen „Runden Tisch“ und forderte die Länder zu mehr Reformmut auf. Es brauche keine Sparrunden, stellte der ARD-Vorsitzende fest, also solle man doch dieses lästige Klein-Klein lassen und sich mehr um das Große, Ganze kümmern. Seine Idee einer Strukturreform sieht möglicherweise nur einen nationalen TV-Sender vor und eine Reduzierung der Landesrundfunkanstalten. Heike Raab, die Koordinatorin der Medienpolitik der Länder, hat gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ ihre Verwunderung gezeigt, dass der ARD-Vorsitzende nicht in der Rundfunkkommission der Länder am 19. Oktober seine Überlegungen eingebracht habe. Die dort eigeladenen Intendanten hatten, trotz Aufforderung, keine Reformvorschläge präsentiert.
Tech-Konzerne mit gebremsten Wachstum
Zum Jahresende gab es mehrere Berichte über Stellenabbau und zurückgehende Umsätze bei den sogenannten Tech-Konzernen wie Amazon, Meta, Google, Apple und Microsoft, hauptsächlich wegen rückläufiger Werbeumsätze. So will Amazon mehr als 10.000 Mitarbeiter entlassen. Zur Debatte stehe dabei auch die Gerätesparte, zu der der Sprachassistent Alexa gehört, heißt es. Allein dieser Bereich des in vielen Geschäftsfeldern aktiven Konzerns, hatte zuletzt einen operativen Jahresverlust von mehr als fünf Milliarden Dollar gemacht. Die Corona-Pandemie hatte bei vielen Digitalkonzernen für eine Sonderkonjunktur gesorgt, deren Höhepunkt jetzt wohl überschritten ist. So kündete die Google-Mutter Alphabet bereits im Sommer an, das Einstellen neuen Personals zumindest zu verlangsamen. Meta, der Facebook-Mutterkonzern, plant den größten Stellenabbau in der Geschichte des Unternehmens. 11.000 Mitarbeiter, rund 13 Prozent der Belegschaft sind betroffen. Die Entwicklung des sogenannten Metaverse soll das Unternehmen Milliarden kosten, ohne das ein Profit absehbar ist. Elon Musk hat bei Twitter innerhalb von zwei Wochen die Hälfte der 6.000 Twitter-Mitarbeiter entlassen und die meisten Spitzenmanager hinausgeworfen. Trotz aller Probleme schreiben diese Unternehmen weiterhin schwarze Zahlen und verdienen Geld. Im dritten Quartal waren es bei Microsoft, Amazon, Facebook und Alphabet insgesamt 38,8 Milliarden Dollar.
Der Beitrag erschien, in leicht geänderter Form, zuerst in „Politik und Kultur“ Heft 12/22 und 1/23 des Deutschen Kulturrates