Der Dysfunktionalität sozialer Medien nicht tatenlos zusehen

11. Juli 2022
Der Dysfunktionalität sozialer Medien nicht tatenlos zusehen

Grundrechte und soziale Medien ? Primat der Meinungsfreiheit oder Gewährleistung einer dienenden Medienfreiheit?

11.07.2022. Von Prof. Dr. Christoph Wagner, Rechtsanwalt, Berlin

Die empirischen Untersuchungen der Landesmedienanstalten zeigen Jahr für Jahr, wie rasant die Nutzung sozialer Medien im Vergleich zu herkömmlichen Massenmedien wächst.  Jüngere Menschen bis etwa 40 Jahren beziehen ihre Nachrichten und Informationsinhalte heute primär über soziale Medien und nur nachrangig über linearen Rundfunk oder Zeitungen. Nur bei den über 60-Jährigen überwiegt der klassische Fernsehempfang noch deutlich, sonst liegen soziale Medien und Fernsehnutzung fast gleichauf. Ausgehend von der rasant wachsenden Bedeutung sozialer Medien für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess zeichnet der Beitrag ihre Wirkungsweise nach, bevor sich aus einer knappen grundrechtlichen Einordung schließlich konkreter Handlungsbedarf für den Gesetzgeber ableiten lässt.

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1.         Gestiegene Wirkkraft sozialer Medien

Drastische Beispiele für die ? wahlbeeinflussende ? Auswirkung der Kommunikation in sozialen Medien gibt es inzwischen viele. Das bekannteste unter ihnen ist wohl das Rezo-Video zur ?Zerstörung der CDU?. Das Bundesverfassungsgericht hat dem größten sozialen Netzwerk in Deutschland daher ?überragende Bedeutung? für die wahlvorbereitende politische Kommunikation beigemessen. Über diesen auch empirisch belegbaren Befund besteht in Literatur und Rechtsprechung weitgehend Einigkeit, auch wenn es durchaus Wirkungsunterschiede zwischen den einzelnen sozialen Medien (soziale Netzwerke, Video-Sharing-Plattformen und Suchmaschinen) gibt. Hier lässt sich zunächst konstatieren, das soziale Medien heute ?Medium und Faktor? (BVerfG) der öffentlichen Meinungsbildung sind wie herkömmlich Presse und Rundfunk. Das heißt, sie dienen nicht nur als Kommunikationsraum, sondern sind selber wahlbeeinflussender ?Faktor? mit eminenter Bedeutung für den demokratischen Willensbildungs- und Meinungsbildungsprozess. Dass die Kommunikation über soziale Medien im Extremfall die Grundfesten der Demokratie erschüttern kann, zeigte nicht zuletzt der Sturm auf das Kapitol in Washington, der ? wie gerade aufgearbeitet ?  von dutzenden Tweets (Twitter) mit behaupteten Wahlfälschungen mobilisiert und über soziale Medien von langer Hand koordiniert wurde.

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2.         Dysfunktionale Wirkungsweise sozialer Medien

Soziale Medien sind Resonanzforen und Verstärker für individuelle Meinungsäußerungen. Sie geben dem ?Jedermann? ein bisher den Massenmedien (Presse, Rundfunk und Film) vorbehaltenes kommunikatives Wirkungspotenzial, fungieren also wie große Lautsprecheranlagen einzelner Personen in einer Menschenmenge. Wer den Lautsprecher hat, wird von vielen gehört, andere gar nicht oder nur von wenigen. Algorithmen messen die Interaktion der Nutzenden mit Inhalten und begünstigen solche Beiträge, auf die Nutzende stärker reagieren, die also zum Beispiel häufiger oder länger konsumiert, geliked und geteilt werden etc. Reagiert ein Nutzender stark auf Inhalte mit Gewaltdarstellungen oder radikalen Äußerungen (Hassrede), erhält er durch den Algorithmus neue Vorschläge für Inhalte, die noch deutlicher in diese Richtung gehen. Vorhandene Neigungen und Auffassungen werden be- oder verstärkt, ohne dass der Nutzende dies unbedingt bemerkt. Der Absender solcher ? durch Algorithmen verstärkt verbreiteten ? Beiträge sieht den Erfolg unmittelbar in Form von gesteigerten Abrufzahlen, Likes, sozialer Geltung (Follower, Freunde etc.) und ggf. auch monetären Vergütungen (YouTube). Er fühlt sich bestärkt und wird, um den Erfolg zu wiederholen oder zu vergrößern, Beiträge mit ähnlichen Tabuverletzungen oder noch deutlicherer Polarisierung einstellen. Fazit: Die Algorithmen begünstigen also tendenziell ?laute? Inhalte, die Nutzende ?beschäftigen, emotional berühren, aufwühlen?. Das sind eher polarisierende oder populistische Inhalte und kaum je ausgewogene, maßvolle Beiträge. Moderate Sprache und eine für demokratische Prozesse wichtige, auf Kompromiss angelegte Debattenkultur wird von scharfmachenden Formulierungen und simplifizierenden ?Totschlagsargumenten? verdrängt.

Hinzu kommt, dass Kommunikationsinhalte sozialer Medien nicht nach journalistischen Grundsätzen erzeugt werden und keinem Faktencheck unterliegen. Sie sind keinerlei Ausgewogenheitsverpflichtungen, Tendenz- oder Herausgeberdirektiven unterworfen. Inhalte werden nicht ex ante im Redaktionskollektiv durchgesprochen, sondern entstehen oft spontan, unreflektiert und sind wegen (vermeintlicher) Anonymität häufig deutlich enthemmter und aggressiver als Offline-Äußerungen.

Natürlich gibt es im Netz auch positive, demokratiefördernde Beiträge. Im Vergleich zu polarisierenden Beiträgen erfahren sie in einer Gesamtschau jedoch eine sehr viel geringere Verstärkung durch die Algorithmen-basierte Netzsteuerung. Soziale Medien sind gegenüber Inhalten nicht neutral, denn sie verstärken desintegrative Beiträge und hemmen integrative und auf Ausgewogenheit bedachte Beiträge, die naturgemäß eine geringere emotionale Stimulanz haben. Dementsprechend konstatiert die Gesetzesbegründung zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz massive Veränderungen ?des gesellschaftlichen Diskurses im Netz und insbesondere in den sozialen Netzwerken?, und eine ?große Gefahr für das friedliche Zusammenleben einer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft.?

Im Unterschied zu herkömmlichen Massenmedien, insbesondere dem Fernsehen, führen soziale Medien Gesellschaften nicht an einem ?Lagerfeuer? zusammen (z. B. ?Wetten, dass?? am Samstagabend), wo es einen Common Sense zu Tabus, Werten und Ausdrucksformen gibt, sondern sie liefern den Nutzern individuelle News Feeds und Posts ausschließlich aus dem Umfeld, das den Neigungen der Nutzenden entspricht (Echokammern oder Filterblasen). Nutzende und Nutzergruppen werden dadurch in ihren (ggf. extremen) Auffassungen bestätigt und bestärkt. Soziale Medien führen nicht zusammen, sondern desintegrieren gesellschaftliche Gruppen in kleiner werdenden Zirkeln, die auch nicht mehr erfahren, was die Mehrheit der ?billig und gerecht Denkenden? meint. Diese Gruppen verlieren das Verständnis für die ?Mitte der Gesellschaft?. Das kann in extremen Fällen, wie das Beispiel Halle zeigt, zu einer Hassspirale führen, die Einzelne radikalisiert und zu terroristischen Gewalttaten inspiriert oder animiert.

Auch wenn die Medienwirkungsforschung hier das letzte Wort haben muss, sind die angestellten Beobachtungen zur Funktionsweise sozialer Medien zugegebener Maßen besorgniserregend. Man muss sich deshalb fragen, ob der Gesetzgeber den beschriebenen Dysfunktionalitäten sozialer Medien weiter tatenlos zusehen kann. Bekanntlich ist nach der Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch potenziellen Risiken für den Meinungsbildungsprozess frühzeitig zu begegnen, weil in diesem Bereich einmal eingetretene Fehlentwicklungen, wenn überhaupt, nur bedingt und unter erheblichen Schwierigkeiten rückgängig gemacht werden können.

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3.         Meinungsäußerungsfreiheit vs. ?dienende? Medienfreiheit

Ob die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs.1 S.1 GG) auch bei rechtlich (noch) erlaubten Äußerungen durch Gemeinschaftsstandards sozialer Netzwerke eingeschränkt werden kann, wird in der Judikatur bisher uneinheitlich beurteilt. Einzelne Urteile sehen es als zulässig an, in Einzelfällen rechtlich zulässige, aber gleichwohl inflammatorische Beiträge zu löschen und ggf. auch Nutzende auszuschließen. Andere sehen darin eine Verletzung der Meinungsfreiheit, die hier über die Drittwirkung zur Geltung kommt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher nur in dem Eilverfahren der rechtsextremen Partei ?Der III. Weg? mit der Frage beschäftigen können und dabei in einer reinen Folgenabwägung zugunsten des Antragstellers entschieden.  Es betonte weitreichende Verpflichtungen eines dominanten Betreibers sozialer Medien, verwies aber für die eigentliche Grundrechtsanalyse auf die Entscheidung in der Hauptsache, die es mangels Antrags aber nicht geben wird.

Im Lichte der Rundfunkurteile des BVerfG muss sich die Meinungsäußerungsfreiheit der Nutzenden keineswegs zwingend gegen die Grundrechte sozialer Medienanbieter durchsetzen, zumal hier auch das Demokratieprinzip des Grundgesetzes für eine kompromissorientierte Kommunikation streitet. Wer einen Kommunikationsraum schafft, soll dafür auch verantwortlich gemacht werden können, muss dann aber auch in der Lage sein, im Zweifel für eine demokratisch orientierte Debattenkultur zu sorgen, und nicht nur bei gerichtlich festgestellten Gesetzesverletzungen löschen zu dürfen. Im Ergebnis muss der Gesetzgeber die Leitlinien selbst vorgeben, wie die Nutzungsbedingungen gestaltet werden sollen und wie das Verfahren bei Löschungen und bei Sperrungen von Accounts ablaufen soll. Für eine solche Ausgestaltung der sozialen Medienordnung bietet der ?dienende? Charakter (BVerfG) der Rundfunk- und Medienfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S.2 GG eine geeignete dogmatische Grundlage und einen größeren Spielraum als bei Grundrechtseingriffen.

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4.         Elemente einer ?positiven sozialen Medienordung?

Wie aber kann eine ?positive soziale Medienordnung? aussehen? Die bislang einzige konkret in diesem Kontext geäußerte Idee des Bundesverfassungsgerichts, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk finanziell und rechtlich abzusichern, kann angesichts der beschriebenen Defizite sozialer Medien und der erodierenden Nutzenden-Zahlen öffentlich-rechtlicher Angebote nicht ausreichen.

Die bisherigen Ansätze und Erfahrungen mit dem NetzDG und auch die vorliegenden Entwürfe für den Digital Services Act der EU sind wichtig und richtig für den Rechtsgüterschutz, sie adressieren aber nicht oder nur in ersten bescheidenen Ansätzen die beschriebene dysfunktionale Wirkungsweise sozialer Netzwerke und deren Gefährdungspotenzial für den demokratischen Willensbildungsprozess. Immerhin enthält der DAS-Entwurf konkrete Vorgaben für die Nutzungsbedingungen sozialer Medien und schreibt bei Löschungen vor, ?sorgfältig, objektiv und verhältnismäßig? zu handeln und ?dabei den Rechten und legitimen Interessen aller Beteiligten, einschließlich der in der Charta verankerten geltenden Grundrechte der Dienstleistungsempfänger gebührend Rechnung zu tragen? (Art. 12 Abs.2 DSA-E).

Für Medienplattformen und Benutzeroberflächen verlangt der Medienstaatsvertrag in § 85 Transparenz über die Kriterien, nach denen Inhalte sortiert, angeordnet und präsentiert werden und nach welchen grundlegenden Kriterien Empfehlungen erfolgen. Medienintermediäre wie soziale Medien treffen nach § 93 MStV Informationspflichten über Kriterien, die über den Zugang eines Inhalts zu einem Medienintermediär und über den Verbleib entscheiden, sowie über zentrale Kriterien der Aggregation, Selektion und Präsentation von Inhalten und ihre Gewichtung, einschließlich Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen. Von hier aus ist es (vermeintlich) ein kleiner Schritt zum Postulat, dass die algorithmischen Prozesse diskriminierungsfrei ?inhaltsneutral? gestaltet werden müssen. Die Umsetzung ist allerdings leichter gesagt als getan, zumal es hier um sich ständig verändernde Prozesse geht, die auch auf die Partizipation der Nutzenden rekurrieren. Die Herstellung eines ?Level Playing Field? für demokratieschädliche und demokratiefördernde Debattenbeiträge durch Anpassung der Algorithmen ist daher ? jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Technik ? wohl noch illusionär.

Schon eher vorstellbar sind Vorgaben für die Auffindbarkeit und Konfrontation der Nutzenden mit Public Value Inhalten, wodurch die dem Netz eigene Förderung schädlicher Beiträge zumindest ansatzweise relativiert werden könnte. Einen entsprechenden Regulierungsansatz kennt der Medienstaatsvertrag (§ 84 MStV) bislang nur für Plattformen, die auch journalistische Inhalte verbreiten, nicht aber für Medienintermediäre wie soziale Medien. Wenn neben dem individualisierten persönlichen Newsfeed in gleicher Größe und Prominenz ein Newsfeed mit Public Value Inhalten angeboten würde, gäbe es eine Art ?duales System? wie im Rundfunk, mit dem alle Nutzenden dann also zwangsläufig konfrontiert würden. Die Vorstellung ist zugegebener Maßen etwas paternalistisch und grundrechtlich auch nicht trivial, aber in der Ausgestaltungslogik der dienenden Freiheit, in der es einen weiten Spielraum des Gesetzgebers gibt, nicht von vornherein abwegig.

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