Öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Pionier in der Online-Medienlandschaft?

19. April 2022
Öffentlich-rechtlicher Rundfunk als Pionier in der Online-Medienlandschaft?

Kann eine Reform des Medienstaatsvertrages den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zukunftsfest für die Online-Welt machen?

Von Valerie Rhein und Stephan Dreyer

19.04.2022. Über den Jahreswechsel 2021/2022 hat die Staatskanzlei des federführenden Landes Rheinland-Pfalz einen Entwurf für eine Reform des Medienstaatsvertrags zur Diskussion gestellt, mit dem die Länder den Auftrag und die Binnenorganisation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland modernisieren wollen. Auch das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) hat im Januar eine Stellungnahme zum ?Diskussionsentwurf zu Auftrag und Strukturoptimierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? abgegeben. Vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu öffentlich-rechtlichen Medieninnovatoren? Die Angebote der öffentlich-rechtlichen Anbieter sind längst nicht mehr auf lineare Fernseh- oder Radioprogramme begrenzt, seit vielen Jahren zählen Online-Angebote zum öffentlich-rechtlichen Repertoire. Dies unterscheidet ihn nicht von anderen Online-Angeboten, die von privaten Medienschaffenden zur Verfügung gestellt werden. Weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk aber im Gegensatz zu privaten Angeboten über eine gesicherte, von aktuellen Marktbedingungen unabhängige Finanzierung verfügt, wird seit Langem diskutiert, ob ihm ein besonderer Auftrag zur Innovation zukommen sollte.

Der MStV-Entwurf gibt Anlass zur Vermutung, dass der Gesetzgeber einen solchen Innovationsauftrag nun vorsieht. Im Entwurf wird formuliert, dass die öffentlich-rechtlichen Medienschaffenden durch ?eigene Impulse und Perspektiven? zur medialen Angebotsvielfalt beitragen sollen (§ 26 Abs. 1 S. 5 MStV-E). Die Betonung des öffentlich-rechtlichen Innovationspotenzials findet sich auch an anderer Stelle des Entwurfs, der vorsieht, dass künftig Online-Pilotprojekte für einen begrenzten Zeitraum vereinfacht umgesetzt werden könnten (§ 32 Abs. 8 MStV-E). Nach der derzeitigen Regelung bedarf es aufgrund der besonderen Finanzierungsweise spezifischer Verfahrensschritte unter Einbeziehung verschiedener Beteiligter, um öffentlich-rechtliche Telemedien zu etablieren. Dieses mehrstufige Verfahren (der sog. Drei-Stufen-Test) hat den Nachteil, dass experimentelle, innovative Projekte, deren Akzeptanz durch Nutzende nur begrenzt absehbar ist, in einem dynamischen Medienmarkt gegbenenfalls erst gar nicht umgesetzt werden.

Aus der Zusammenschau eines möglichen Innovationsauftrags und der Möglichkeit zur zeitlich begrenzten vereinfachten Umsetzung von Pilotprojekten ergibt sich hier die Möglichkeit, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk künftig zu einem relevante(re)n Akteur medialer Innovation werden könnte.

Unterhaltung gehört mit zum Auftrag

Der Entwurf sieht daneben eine programmauftragsbezogene Klarstellung vor, die sich darauf bezieht, dass Unterhaltung Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist (§ 26 Abs. 1 S. 9 MStV-E) ? soweit sie einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entspricht. Die Diskussion, ob die Öffentlich-Rechtlichen einen genuinen Unterhaltungsauftrag haben, wird so ganz im Sinne der Karlsruher Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit beendet.

Alle audiovisuellen Angebote auf einer gemeinsamen öffentlich-rechtlichen Plattform?

Spannend ist außerdem, dass der Entwurf die Einführung einer gemeinsamen Plattformstrategie für die Telemedien der in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, des ZDF und des Deutschlandfunks vorsieht (§ 30 Abs. 1 MStV-E). Er normiert und erweitert somit das, was jedenfalls teilweise bereits in der Praxis angelegt ist, wie Online-Kooperationen öffentlich-rechtlicher Medienangebote, die über reine gegenseitige Inhaltsverlinkungen hinausgehen.

Bei der gemeinsamen Plattformstrategie bleiben jedoch viele Fragen offen: Wie bindend und wichtig ist diese Strategie, wie kommt sie zustande und wer verabschiedet sie, und wie steht sie zu anderen Beschlüssen und Dokumenten der Anstalten? Aus der Bestrebung geht zumindest hervor, dass Online-Kooperationen und Vernetzungen künftig jedenfalls ein integraler Bestandteil des öffentlich-rechtlichen Profils werden sollen.

Demokratische Empfehlungssysteme per Gesetzesvorschrift?

Der grundsätzliche Eindruck des Entwurfs, dass er dem Online-Angebot zu mehr Strahlkraft verhelfen könnte, setzt sich darin fort, dass erstmalig explizit auf Anforderungen an Empfehlungssysteme zur Inhalte-Aggregation, -Selektion und -Vermittlung eingegangen wird (§ 30 Abs. 4 S. 2 MStV-E). Wie wir im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts ?Coding Public Value? gezeigt haben (Gutachten ?Rechtliche Vorgaben für die Gestaltung von Software öffentlich-rechtlicher Medienplattformen?), hat der Einsatz solcher Systeme zwar in der Praxis der öffentlich-rechtlichen Medienschaffenden Einzug erhalten, wird aber trotz seiner Relevanz für die Umsetzung des öffentlich-rechtlichen Funktionsauftrags bislang vom gesetzlichen Ordnungsrahmen nicht hinreichend berücksichtigt.

Der Entwurf macht deutlich, dass Empfehlungssysteme auf das verfassungsrechtliche Ziel öffentlich-rechtlichen Rundfunks, insbesondere der Gewährleistung von Vielfalt, Einfluss haben können. Für die Umsetzung des Auftrags kommt es nicht nur auf das Bereithalten vielfältiger Inhalte an, sondern auch darauf, dass bei inhaltebezogenen Kuratierungs- und Selektionsentscheidungen der Funktionsauftrag als Maßstab Einzug hält. Dies hatte zuvor die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung aufgenommen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch im Netz die Aufgabe zuweist, ein Gegengewicht zu kommerziellen (Medien-)Plattformen zu bilden. Öffentlich-rechtliche Telemedien und die algorithmischen Entscheidungen, mit deren Hilfe Inhalte zu den Nutzer*innen gelangen, sollen gerade nicht zum primären Ziel haben, die Verweildauer der Nutzer*innen zu erhöhen.

Das öffentlich-rechtliche Dashboard: Kommen nun (auch technikbezogene) Qualitätsanforderungen und standardisierte Prozesse?

Es ist jedoch eine komplexe Herausforderung, solche Empfehlungssysteme zu entwickeln, die den vorgegebenen abstrakten Konzepten wie Vielfalt oder Zusammenhalt entsprechen. Dafür notwendig ist das Einbeziehen einer Vielzahl von Akteur*innen, die über das notwendige rechtliche Kontextwissen sowie über Kenntnisse im Software Engineering verfügen.

 Solchen Entwicklungsprozessen hilft, sie zu standardisieren und auf Erfahrungen basierend zu optimieren. Dies kann zu einer Vergleichbarkeit (über Anbieter und/oder über Zeit) führen und erlauben, dass die Rundfunkanstalten voneinander lernen können. Solche Prozesse sind dem bisherigen Ordnungsrahmen unbekannt, werden jedoch vom besprochenen Entwurf ins Spiel gebracht: § 31 Abs. 2b MStV-E sieht vor, dass die Rundfunkanstalten inhaltliche und formale Qualitätsstandards und standardisierte Prozesse für deren Überprüfbarkeit festlegen. So könne gewährleistet werden, dass die verschiedenen Ebenen der öffentlich-rechtlichen Anstalten auch bei der Entwicklung von Softwaresystemen auftragsorientiert agieren.

 Die Vorgabe zur Schaffung von Prozessen und Qualitätssicherungsverfahren im Entwurf ist nicht auf den Bereich der Entwicklung technischer Infrastrukturen begrenzt, sondern legt sich vielmehr ganzheitlich auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Entwicklung vielfaltsfördernder Empfehlungssysteme ist aber ein Beispiel, für das dieser Bestandteil des entworfenen neuen Ordnungsrahmens besonders förderlich wäre.

Öffentlich-rechtliche Inhalte auf Videoplattformen: Reichweite vs. Abhängigkeit?

Als ambivalent im Feld der Digitalisierungsbestrebungen fällt ins Auge, dass durch den Entwurf implizit darauf abgezielt werden könnte, öffentlich-rechtliche Inhalte verstärkt auch auf privaten Plattformen anzubieten (§§ 26 Abs. 1 S. 10; 30 Abs. 4 S. 5 MStV-E), z. B. um die Nutzendenzahlen zu erhöhen. Dies schiene im Konflikt mit den erwähnten Vorgaben stehen, ein vielfältiges Angebot zu machen. Das Bundesverfassungsgericht schreibt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine klare Gegengewichtsfunktion zu, die die Anstalten aber dort nur zum Teil selbst gewährleisten können, wo sie ihre Inhalte den Empfehlungslogiken privater Anbieter anheimstellen.

Der MStV-Entwurf als Schritt in eine digitale öffentlich-rechtliche Zukunft?

Die ausführliche Stellungnahme nimmt weitere Aspekte auf, die innerhalb dieses Blog-Beitrags keinen Platz gefunden haben. Insgesamt wird aber deutlich, dass der MStV-Entwurf einige Aspekte aufgreift, die vom aktuellen Rechtsrahmen nicht hinreichend berücksichtigt werden. Es zeigt sich jedoch auch, dass an einigen Stellen noch Bedarf zur Konkretisierung, Nachbesserung und Klarstellung besteht.

Der Entwurf stellt jedenfalls wichtige erste Weichen für die medienpolitische Diskussion, wie die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Medienangebote in Deutschland aussehen soll. Dass an dieser Auseinandersetzung ein großes gesellschaftliches Interesse besteht, zeigt sich auch anhand der Anzahl der eingereichten Stellungnahmen: Derzeit sichten die Länder die mehr als 2.600 eingegangenen Beiträge.

Derr Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Leibniz-Instituts für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut: https://www.hans-bredow-institut.de/de/blog

Zur Stellungnahme des Instituts:  https://leibniz-hbi.de/de/publikationen/stellungnahme-zum-diskussionsentwurf-zu-auftrag-und-strukturoptimierung-des-oeffentlich-rechtlichen-rundfunks.

Valerie Rhein ist Kommunikationswissenschaftlerin und Juristin. Sie ist als Doktorandin im Projekt ?Coding Public Value? tätig. Das Projekt ist am Bayerische Forschungsinstitut für digitale Transformation (bidt) der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt, das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) ist als Konsortialpartner daran beteiligt.

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am HBI. Das Forschungsinteresse des Juristen gilt den regulatorischen Aspekten medienvermittelter Kommunikation in einer datafizierten Gesellschaft; er analysiert Herausforderungen, denen sich rechtliche Steuerung angesichts neuer Technologien, Angebotsstrukturen und Nutzungspraktiken gegenüber sieht.

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