Politische Dokumentarfilme legen Zeugnis ab

29. April 2022
Politische Dokumentarfilme legen Zeugnis ab

Die ARD will dem Dokumentarischen mehr Sendezeit in der Primetime geben

29.04.2022. Von Patricia Schlesinger, ARD-Vorsitzende und RBB-Intendantin

Der Überfall auf die Ukraine, wir wissen es alle, ist ein Angriff auf Europa. Auf unsere Werte, auf unsere Demokratien. Der Überfall zeigt unsere Ohnmacht, unsere Verletzlichkeit. Denn unsere Werte laufen ins Leere, wenn sie verachtet werden. Unsere Meinungsfreiheit kann keine Panzer stoppen, unsere Demokratie kann keine Bomben abwehren. Die Pressefreiheit, die Medienfreiheit, in Russland und in der Ukraine erleben den Ausnahmezustand. Alle Diktaturen in allen Zeiten haben freie Meinungsäußerungen unterdrückt ? wie aktuell in Russland werden Demonstranten verprügelt und verhaftet. Zeitungen und Sender werden zensiert, angegriffen, geschlossen. In der Ukraine arbeiten ukrainische Kolleginnen und Kollegen ? wie ebenso auch alle ausländischenKriegsberichterstattenden ? unter Lebensgefahr.

Eine ukrainische Kollegin hat auf tagesschau.de die Gefahr in den Gebieten, die von russischen Streitkräften erobert wurden, beschrieben. Hier seien ukrainische Pressevertreter verhaftet, drangsaliert, bedroht und tätlich attackiert worden. Ein Kriegsverbrechen. In der ?Erklärung von Perugia für die Ukraine? richtete die Europäische Journalistenförderation (EFJ) am 9. April gemeinsam mit bisher 145 internationalen Medien-Organisationen einen Appell an die russische Armee in der Ukraine. Sie fordern: ?Stoppt das Beschießen, Foltern und Töten von Journalisten und Journalistinnen?. Alle Diktaturen zu allen Zeiten haben die Pressefreiheit angegriffen, sie verboten, sie haben auch Vertreterinnen und Vertreter von Presseorganen verfolgt, verhaftet, getötet.

Freier Journalismus, wir sehen das auch heute auf der ganzen Welt, wird in autoritären politischen Systemen lebensgefährlich. Doch trotz des Leids, trotz des Tötens, der Zerstörungen und der Barbarei des Krieges in der Ukraine, gibt es Hoffnung. Mit jedem Interview, das aus den zerstörten Städten gesendet wird, mit jedem Bild von geretteten Menschen, jedem Tweet, jedem Post, mit jedem Bericht von Radioreportern wird eine andere Geschichte ? Gegengeschichte - geschrieben, wird Wahrheit dokumentiert, wird Hoffnung geweckt. Weil Hoffnung Menschen leben und überleben lässt. Hoffnung entsteht auch, wo Menschen für Menschen eintreten. Wo sie sich solidarisch zeigen, wo sie einander helfen und unterstützen ? über Ländergrenzen hinweg, vereint im gemeinsamen Wertekanon von Freiheit und Respekt. Um den geflüchteten Menschen aus der Ukraine freie und verlässliche Informationen über das Geschehen in ihrer Heimat zu liefern, hat die ARD neben anderen Anstrengungen die 20 Uhr Tagesschau zum On-Demand-Abruf auf tagesschau.de, in der ARD-Mediathek sowie auf dem YouTube-Kanal der ARD mit ukrainischen und russischen Untertiteln versehen. Ein wichtiges Zeichen der Solidarität, das Mindeste, das wir tun können und doch ist es viel zu wenig. Die Geschichte zeigt, dass Diktatoren, Autokraten, Tyrannen ein Verfallsdatumhaben. Zugegeben, ein sehr schwacher Hoffnungsschimmer am Horizont des Krieges. Für die Menschen in den Kriegsgebieten zählt derzeit nicht eine ferne Zukunft. Für sie sind die nächsten Stunden überlebenswichtig.

Ich weiß, dass der ARD auch schon vorgeworfen wurde, zwar den politischen Dokumentarfilm stolz zu seiner DNA zu zählen, aber mit Sendeplätzen und mit Geld zu geizen. Lassen Sie es mich einmal so sagen: Das könnten wir uns heute, im Jahr 2022, mitten in der digitalen Transformation, gar nicht mehr leisten. Denn längst sind gut recherchierte und sorgsam produzierte Dokumentarfilme als Gegenmittel, gegen hastig ins Netz gepostete Fake News bekannt, erwartet, gewünscht. Linear und digital. Wir beobachten in der ARD-Mediathek einen regelrechten Sog zum langen und mittellangen Dokumentarfilm. Diesem Interesse an Tiefenschärfe, an Analyse zu einzelnen Themen, zu mehr Hintergrund, mehr Einordnung in größere Zusammenhänge, will die ARD entsprechen. Und so geben wir dem Dokumentarischen mehr Sendeplätze in der Primetime ? zuletzt dem wichtigen Coming Out-Film in der katholischen Kirche ?Wie Gott uns schuf?, der an einem Montag um 20: 30 Uhr nach einem Brennpunkt gesendet wurde.

?Mit jedem Interview, das aus den zerstörten Städten gesendet wird, mit jedem Bild von geretteten Menschen, jedem Tweet, jedem Post, mit jedem Bericht von Radioreportern wird Wahrheit dokumentiert, wird Hoffnung geweckt.?

Allerdings: Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir einen Dokumentarfilm über den Krieg in der Ukraine sehen werden. Ich mache hier einen deutlichen Unterschied zwischen den Genres des Dokumentarfilms und der Dokumentation, der Reportage und dem Bericht. Die einen sind aktuell, unmittelbar, die anderen analysieren umfassend den Kontext. Ein Dokumentarfilm benötigt Zeit, eine gewisse zeitliche Distanz vom Ereignis. Erst, wenn die letzten Fragmente nach einer Explosion auf dem Boden gelandet sind, beginnen Dokumentarfilmerinnen und ? filme ihr Werk. Es dauerte 40 (!) Jahre, bis Claude Lanzmann mit ?Shoah? 1985 einen bahnbrechenden Dokumentarfilm über den Holocaust und die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten veröffentlichen konnte. Der Dokumentarfilm verlangt nach Zeit für die Recherche, nach Geduld für die Produktion und nach Zeit im Schnitt. Ein Dokumentarfilm folgt einer eigenen Dramaturgie und einer eigenen Ästhetik. Diese Ästhetik ist seit den frühen Tagen des Dokumentarfilms den Macherinnen und Machern immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Bei einem Interview zu seinem 100 Geburtstag sagte Georg Stefan Troller, er habe niemals die Ästhetik der Geschichte nachgeordnet. Vielen von Ihnen sind Trollers stilsichere filmischen Porträts aus seiner legendären 70 (!) teiligen ZDF-Serie ?Personenbeschreibung? (von 1972 ? 1993) in Erinnerung oder zumindest bekannt. Darin näherte er sich den unterschiedlichsten Exponenten seiner Zeit - vom israelischen Intellektuellen und Friedensaktivisten Uri Avnery bis zur schwedischen Schauspielerin Liv Ullmann. Auch über Roman Brodmann ? den Namenspatron des neuen Preises für ein ?herausragendes Werk des politisch-investigativen und gesellschaftlich relevanten Dokumentarfilms? ? hat man gesagt, er habe nie eine Entscheidung gegen die Ästhetik gefällt. Denn der politische und kulturelle Wert des Dokumentarfilms hat viel mit seiner Ästhetik zu tun, mit der Kunst der Montage. Mit der Gestaltung, die Wesentliches von Unwesentlichem trennt, die einen tiefenscharfen Blick auf das Geschehene, auf das Ereignis, auf die behandelte Persönlichkeit, erlaubt.

?Längst sind gut recherchierte und sorgsam produzierte Dokumentarfilme als Gegenmittel, gegen hastig ins Netz gepostete Fake News bekannt, erwartet, gewünscht.?

Gerade habe ich von dem Coming-Out-Film ?Wie Gott uns schuf? gesprochen. Ich bin mir sicher, die Tränen der katholischen Menschen, die sich nach jahrelangem Schweigen zu ihrer sexuellen Identität bekannten, haben jeden berührt, der den Film gesehen hat. Oder erinnern Sie sich noch an den schüchternen, aber doch so entschlossenen Blick des amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden bei seinem ersten Interview vor laufender Kamera? ?My name is Edward Snowden, I go by Ed.? Es war ein besonderer Blick ? in dem Wissen, dass sich von dieser Minute an, sein Leben für immer und unwiederbringlich dramatisch ändern würde. Es sind beides Bilder, die man die man nicht vergisst. Regisseurin Laura Poitras und Regisseur Hajo Seppelt sind mit ?Wie Gott uns schuf? und ?Citizenfour? wichtige, große Dokumentarfilme gelungen, von historischem Wert. Filme, die aufklären, die aufrütteln, sie behalten ihre Bedeutung. Solche Filme halten Geschichte fest, sie bleiben auch für nachfolgende Generationen aussagekräftig, weil sie Schrecken, Angst und Verzweiflung dokumentieren und so den Menschen, Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Politische Dokumentarfilme legen Zeugnis ab. Sie erheben Einwand gegen das Vergessen. Wir brauchen den Blick der Kamera, der festhält und bewahrt, sich aufs Wesentliche richtet. Der kein Unrecht übersieht, das Dunkle erhellt, der, unbesungene Heldinnen entdeckt und Themen Gerechtigkeit schafft. Dabei bleibt Dokumentarfilm eines der schwierigsten Genres. Bei Planung und Produktion bleibt er häufig bis zum Schluss unvorhersehbar. Wie heißt es beim Dreh so häufig: ?Realität schlägt Planung.? Alfred Hitchcock (der großen Respekt, wenn nicht sogar Angst vor den Herausforderungen der dokumentarischen Arbeit hatte), hat es einmal auf den Punkt gebracht. Er sagte: ?Beim Spielfilm ist der Regisseur Gott. Beim Dokumentarfilm ist Gott der Regisseur.?

Aus der Keynote von Patricia Schlesinger, ARD-Vorsitzende und rbb-Intendantin bei der Verleihung des Roman Brodmann-Preises und Kolloquiums ?Medienfreiheit im Ausnahmezustand? am 28.April 2022 in Berlin.

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