Vielfalt ist Ausdruck von Humanität in der Demokratie

24. Mai 2022
Vielfalt ist Ausdruck von Humanität in der Demokratie

Leipziger Impuls III: Öffentlich-rechtliche Medien wollen Gemeinwohl durch Vielfalt sichern

24.05.2022. Gemeinsam verabschiedeten alle Rundfunkanstalten der ARD, ZDF, Deutschlandradio sowie SRG, ORF und ARTE zusammen mit der Handelshochschule Leipzig und dem Weizenbaum-Institut Berlin den Leipziger Impuls III. Darin bekennen und verpflichten sie sich zu ihrer Verantwortung für Vielfalt als Schlüsselkategorie einer modernen, offenen und pluralistischen Gesellschaft. Die ersten beiden Leipziger Impulse gab es 2019 und 2020. Das Verhältnis von Gemeinwohl und Vielfalt werde, so der Text der Entschließung, im weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit eine immer zentralere Rolle spielen. Diese Überzeugung eine die Unterzeichnenden des dritten Leipziger Impulses. Alle öffentlich-rechtlichen Medienhäuser in Deutschland, der Schweiz, Österreich würden in der Sicherung der Vielfalt durch gemeinwohlorientierte Medien einen elementaren Wert einer freien und offenen demokratischen Gesellschaft sehen. Die integrative Aufgabe von öffentlich-rechtlichen Medien bestehe vor allem im Sichtbarmachen und Einordnen der gesellschaftlichen Vielfalt beispielsweise hinsichtlich Themen, Akteuren, Meinungen, Erfahrungen, Werthaltungen und Perspektiven in zeitgemäßen Angebotsformen und vielfältigen Genres.

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Leipziger Impuls III -  Gemeinwohlorientierung der öffentlich-rechtlichen Medien (Wortlaut)

Gemeinwohl durch Vielfalt

Im ersten Leipziger Impuls haben die Unterzeichnenden formuliert, in welchen Handlungsfeldern die Gemeinwohlorientierung (Public Value) der öffentlich-rechtlichen Medien besonders relevant ist. Im zweiten Leipziger Impuls erfolgte eine Aktualisierung unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Darauf aufbauend zielt der dritte Leipziger Impuls auf ein Grundsatzthema, welches im weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle spielt: das Verhältnis von Gemeinwohl und Vielfalt. Die Relevanz der Thematik wird deutlich, wenn das Bundesverfassungsgericht in Deutschland die Verankerung der öffentlich-rechtlichen Medien insbesondere auch im Digitalen in einem ?viel- faltsichernden und Orientierungshilfe bietenden Gegengewicht sieht?. Dies gilt grundsätzlich zur Sicherung der Meinungsvielfalt, und aktuell besonders auch mit Blick auf das Wirken intermediärer Plattformen und ihrer algorithmischen Empfehlungssysteme. Das Bundesverfassungsgericht hat hier insbesondere Mechanismen der Machtkontrolle im Blick. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen mit ihren unterschiedlichen Standpunkten am demokratischen Diskurs teilnehmen können. Somit geht es um die Sicherung demokratischer Kommunikationsstrukturen in der Gesellschaft als Ganzem.

Vielfalt oder Diversität gilt zu Recht als Schlüsselkategorie im Verständnis moderner, pluralistischer Gesellschaften. Dahinter steht der Gedanke eines selbstbestimmten Lebens, in dem jede und jeder sich frei entfalten kann, aber auch die Lebensentwürfe anderer respektiert. In einer sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft ist dies eine besondere Herausforderung. In der Achtung von Unterschieden und Besonderheiten kommt der Respekt vor der Würde des Einzelnen zum Ausdruck ? ein Wesensmerkmal unserer freiheitlichen Ordnung. Vielfalt ist Ausdruck von Humanität in der Demokratie.

Verantwortungsvoll gelebte Vielfalt trägt zum Gemeinwohl bei, weil Menschen andere und anderes erst dann anerkennen, wenn sie selbst anerkannt werden. Die integrative Aufgabe von öffentlich-rechtlichen Medien besteht somit vor allem auch im Sichtbarmachen und Einordnen der gesellschaftlichen Vielfalt, u.a. hinsichtlich Themen, Akteuren, Meinungen, Erfahrungen, Werthaltungen und Perspektiven in zeitgemäßen Angebotsformen und vielfältigen Genres. Damit leistet der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Erfahrung einer wertschätzenden Gemeinwohlkultur ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, um Vielfalt ohne Angst und in Würde in einem Klima von Offenheit und Toleranz leben zu können.

Die Fortschreibung der Handlungsfelder aus den ersten beiden Impulsen seit Ende 2019 erfolgt im Leipziger Impuls III mit besonderem Blick darauf, wie die öffentlich-rechtlichen Medien die Qualität des Öffentlichen mitgestalten können, indem sie das Verhältnis von Vielfalt und Gemeinwohl im demokratischen Miteinander immer wieder neu ausbalancieren. Das demokratische Miteinander bedingt zuallererst ein friedliches Miteinander. Diese alte Erkenntnis wird uns im Moment auf schmerzhafte Weise wieder bewusst: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine führt uns drastisch vor Augen, wie zentral der Frieden für eine offene, demokratische und pluralistische Gesellschaft ist und wie gerade auch Medienschaffende in ihrer Arbeit auf besondere Weise gefordert sind, unter den Bedingungen eines Krieges vielfaltsichernd und gemeinwohlorientiert in Europa und der Welt zu wirken.

1.      Innovationen für die öffentliche Meinungsbildung generieren

Der Vielfalt auf zeitgemäße Weise Stimme zu geben, benötigt direktere Interaktion mit und zwischen allen Beteiligten. Die Innovationen aus der Pandemie-Zeit sind zusammen mit der rasant fortschreitenden Digitalisierung Schritte in diese Richtung. Öffentlich-rechtliche Medien stellen sich insbesondere der Herausforderung einer sich verändernden Rolle des Journalismus, der ? neben Berichterstattung und Moderation ? vor allem auch Einordnung der Vielfalt an Meinungen, Werthaltungen und Lebensentwürfen leisten muss. Sie unterstützen eine respektvolle demokratische Streitkultur durch die Schaffung neuer digitaler Diskussionsformate. Im Verhältnis von Vielfalt und Gemeinwohl spiegelt sich eine Grundspannung moderner Gesellschaften. Daraus erwachsen Chancen, aber auch Konfliktlinien. Öffentlich-rechtliche Medien sollten stärker die Rolle der Vermittler übernehmen, die Orientierungshilfe geben.

     2.       Qualität sichern und weiterdenken

Gelebte Vielfalt ist eine Qualitätsdimension. Die Herausforderung besteht in Auswahl und Abwägung zwischen Breite und Tiefe in den Angeboten. Dafür sind die Relevanzkriterien zu stärken und die Maßstäbe zur Einordnung und Bewertung von Vielfalt in all ihren Facetten zu überprüfen. Dazu gehört die Frage, wo die Berücksichtigung von Vielfalt beginnt und wo sie endet. Sachverhalte, Fakten und wissenschaftlich akzeptierte Erkenntnisstände sind abzugrenzen von Meinungs- und Perspektivenvielfalt. Fakten werden durch Fakten-Checks überprüft, um die Richtigkeit von Nachrichten abzusichern und um Fake News als solche zu kennzeichnen. Vielfalt erfordert vor allem auch fachkundigen Journalismus (z.B. Klimajournalismus) und die Vernetzung und Bündelung von Fachkompetenzen. Daneben werden Mut zur kompetenten Kritik in der Berichterstattung, aber auch die Fähigkeit zu Selbstkritik und transparenter Fehlerkultur der öffentlich-rechtlichen Medien zum Maßstab der Glaubwürdigkeit.

3.       Gemeinwohlnetzwerke schaffen

Gemeinwohlnetzwerke können einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Vielfaltskompetenz der öffentlich-rechtlichen Medien und zur Stärkung ihrer Orientierungsfunktion leisten. Aktive Kooperationsarbeit der öffentlich-rechtlichen Medien untereinander und auch mit privatrechtlichen Medien, z.T. über nationale Grenzen hinweg, gehört bereits zum Alltag, ebenso Kooperationen mit unterschiedlichen Partnern beispielsweise im Wissenschafts-, Kultur- und Kunstbetrieb. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Aufbau eines gemein- wohlorientierten Kulturnetzwerkes von ARD, ZDF und Deutschlandradio. Bei der Etablierung und Pflege von Gemeinwohlnetzwerken sind Vielfalts- belange in den Mittelpunkt zu stellen.

4.       Verantwortung für Transparenz übernehmen

Vielfalt bedeutet auch, bisher Unbekanntes und Unvertrautes abzubilden. Daraus erwächst die Anforderung, die Arbeitsweise und die Kriterien journalistischen Handelns offen zu legen sowie die Bedeutung journalistischer Inhalte für das Gemeinwohl zu beschreiben. In der Reflexion der verschiedenen Vielfaltsbereiche in den Medien entsteht Transparenz über ihre Voraussetzungen, Potenziale und Spannungsfelder. Dies betrifft insbesondere Situationen, in denen der Wert der Vielfalt mit anderen Werten oder Zielen, wie z.B. Gerechtigkeit, Fairness oder Toleranz, in Konflikt gerät. So birgt beispielsweise eine ?falsche Ausgewogenheit? über konträre Positionen - trotz eindeutiger wissenschaftlicher Beleglage -mit Verweis auf die Vielfaltsabbildung nachweislich die Gefahr einer Verzerrung der Wahrnehmung der Wirklichkeit durch die Bevölkerung. Im Ergebnis entstehen neue Wertkonflikte.

5.       Unabhängigkeit durch Einbindung sichern

Wer Vielfalt will, muss einbinden. Streitkultur braucht Regeln. Die öffentlich-rechtlichen Medien sichern dabei ihre Unabhängigkeit, indem sie einerseits Schauplatz und Mit-Moderator der Diskussion sind und andererseits ? entsprechend gekennzeichnet ? selbst Position beziehen, ohne den Meinungsbildungsprozess damit einseitig zu bestimmen bzw. zu verengen. Bei aller Vielfalt sind auch ? da wo nötig ? Grenzen zu setzen, wenn z.B. Verfassungswerte wie die Menschenwürde tangiert werden oder strafrechtliche Verbotsnormen. Die Rolle der öffentlich-rechtlichen Medien ist es, durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen.

6.       Gemeinwohlorientierte Führung vorleben

Das Verhältnis von Gemeinwohl und Vielfalt muss insbesondere durch die Führung vorgelebt werden. Dazu gehört die Einordnung von Vielfaltsbelangen in die strategische Ausrichtung öffentlich- rechtlicher Medienhäuser. Vielfaltsmanagement ist als Querschnittsfunktionalität in sämtliche Unternehmensprozesse zu integrieren. Konsequent ist die Diversität in der Personalauswahl im Sinne der ?Charta der Vielfalt? (https://www.charta-der- vielfalt.de) voranzutreiben. Zum Beispiel sollten die öffentlich-rechtlichen Medien Vorreiter für Geschlechtergerechtigkeit und für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen sein. Vielfältige Belegschaften müssen durch Führung integriert und auf gemeinsame Ziele hin orientiert werden.

Vielfalt und Gemeinwohl dürfen in der Praxis keinen Gegensatz bilden. Vielfalt ist zum einen eine Grundvoraussetzung der Demokratie und zum anderen Mittel zum Gemeinwohl. Mehr noch, es bedarf einer Einbettung und Selbstbindung der Vielfalt, andernfalls kann es zum Auseinanderdriften und Verlust des Gemeinwohls kommen. Eine vielfältige Medienlandschaft muss geschützt werden. Positiv formuliert, findet die Vielfalt ihren Bezugspunkt in der Entdeckung des Gemeinsamen, des gemeinsamen Nenners. Es gilt, Unterschiede und Trennendes zu erkennen, um das Gemeinsame und das Gemeinschaftsstiftende im Blick zu behalten. Mediale Vielfalt und thematische Einordnung und der freie Zugang aller Menschen dazu sind zentrale Voraussetzungen für Teilhabe, Bildung und Orientierung. Diese sind Garanten für den Zusammenhalt in modernen demokratischen Gesellschaften.

Die Unterzeichnenden erkennen in den Herausforderungen zwischen Zerreißprobe und Entwicklungspotenzial eine besondere Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien, ihren Auftrag verantwortungsvoll und kreativ wahrzunehmen und laden zur weiteren Debatte ein.

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