„Die Kräfte auf die digitale Audiowelt konzentrieren“

11. Oktober 2023
Jona Teichmann, Programmdirektorin und Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios
Jona Teichmann, Programmdirektorin und Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios
Deutschlandradio baut digitale Angebote aus und reduziert lineare Inhalte

Interview mit Jona Teichmann, Programmdirektorin und Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios

Zum Markenzeichen des Deutschlandradios gehöre in erster Linie der Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Wissenschaft, Kultur, Information, Recherche, aufwendige Hintergrundberichte und Features, sagt Intendant Stefan Raue in einem Gespräch.  Aber auch das künstlerische Hörspiel, neue Musik oder Literatur zählten dazu. „Das sind alles Bereiche, mit denen jeweils kein Massenpublikum gewonnen werden kann. Aber es existieren viele Interessenten für diese Spezialangebote und so erreichen wir täglich über 3 Millionen Hörer. Wir versuchen mit diesen sehr scharf profilierten und spezialisierten Angeboten unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen“, so Raue. Das Deutschlandradio will sich mit aufwendig recherchierten zeitgeschichtlichen Angeboten, anspruchsvollen Podcasts und einem speziellen Empfehlungssystem gegenüber der digitalen Konkurrenz behaupten. So wolle man nach eigenen Angaben innerhalb von fünf Jahren zum wichtigsten Anbieter hochwertiger journalistischer und künstlerischer Audioformate im deutschsprachigen Raum werden.

medienpolitik.net: Herr Raue, Sie haben im Hörfunkrat über die Digitalstrategie des Deutschlandradios informiert. Das ist nicht die erste Digitalstrategie des Senders. Was unterscheidet die „neue“ Strategie im Kern vom bisherigen digitalen Konzept?

Raue: Wir haben im Deutschlandradio eine Entwicklung hinter uns, wie andere Medien auch: In der ersten Phase der Digitalisierung mussten wir uns für die Anforderungen und Nutzung kompetent machen. So mussten die Redaktionen entsprechend ausgebildet, die Online-Auftritte mussten gestaltet werden und wir sind davon ausgegangen, dass wir die linearen Angebote problemlos in die digitale Welt verpflanzen können. Inzwischen haben wir alle gelernt, dass die digitale Medienwelt andere Anforderungen stellt, dass die lineare Radiosendung nicht per se in der Onlinewelt funktioniert,  dass dafür neue Formate wie Podcasts entwickelt werden müssen. Mit der angepassten Strategie wollen wir unsere Kräfte auf die neue digitale Audiowelt konzentrieren.

medienpolitik.net: Wenn Sie neue digitale Formate entwickeln wollen, bedeutet das auch lineare Angebote nicht mehr zu produzieren. Also mehr Podcasts und dafür weniger „normale“ Hörfunkprogramme?

Teichmann: Wir haben für unsere neuen digitalen Angebote keine zusätzlichen Beitragsmittel bewilligt bekommen. Also müssen wir Ressourcen aus dem linearen Programm nutzen, um z.B. Podcasts zu produzieren. Einige Podcasts senden wir auch im Hörfunkprogramm. Dennoch müssen wir dem Radio etwas wegnehmen, damit wir mit neuen digitalen Angeboten präsent sein können.  

medienpolitik.net: Mit welchem Tempo kann dieses „wegnehmen“ erfolgen? Das Deutschlandradio hat eine anspruchsvolle, treue Hörerschaft, die den Sender wegen seiner Inhalte hören. Bleiben diese Hörer Ihnen auch weiterhin treu?

Teichmann: Die Umschichtung der Finanzmittel darf nicht zulasten der Qualität gehen. Wir reduzieren deswegen mit Fingerspitzengefühl die Anzahl der Neuproduktionen fürs Radio. Außerdem bieten wir jetzt etwas weniger Service für das Radioprogramm an, indem wir beispielsweise weniger Sendungsmanuskripte ins Netz stellen. Den dadurch gesparten Aufwand nutzen wir, um digitale Audioangebote besser zu distributieren. Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten Jahren durch die Umschichtung vorhandener Mittel mehr digitale Angebote produzieren können, ohne dass die linearen Radiohörer, die immer noch die Mehrzahl unseres Publikums bilden, unzufrieden werden. Entgegen dem Trend gewinnen wir mit unseren Radioprogrammen weiterhin Hörerinnen und Hörer dazu und das möchten wir nicht gefährden.

„In einem anspruchsvollen Audiomarkt wollen wir ganz vorn mitspielen, das ist unser Ziel.“ Stefan Raue

 medienpolitik.net: Mit dieser beschlossenen Strategie will Deutschlandradio innerhalb von fünf Jahren zum wichtigsten Anbieter hochwertiger journalistischer und künstlerischer Audioformate im deutschsprachigen Raum werden. Das heißt, die Audioformate der anderen öffentlich-rechtlichen Sender, sind weniger hochwertig, sozusagen zweitklassig?

Raue: Nein, das wollen wir damit auf keinen Fall ausdrücken. Das trifft auch nicht zu: Die Landesrundfunkanstalten der ARD bieten sehr gute Programme. Aber auch von den Verlagen und kommerziellen Plattformen kommen qualitativ anspruchsvolle und interessante Audioformate. Der Audiomarkt hat sich innerhalb weniger Jahre stark verändert. Das Hören hat eine neue Qualität erhalten, so dass man ohne Übertreibung von einer Renaissance des Audio sprechen kann, was auch zu einem neuen Publikum geführt hat. Das muss einen Sender wie Deutschlandradio, der besonderen Wert auf Qualität und spezifische Angebote legt, herausfordern. Dieser Satz beschreibt vor allem einen Auftrag an uns selbst, es ist keine Klassifizierung der Konkurrenz. In einem anspruchsvollen Audiomarkt wollen wir ganz vorn mitspielen, das ist unser Ziel.

medienpolitik.net: Qualität ist nicht eindeutig definiert. Wo ist für Sie der Maßstab?

Raue: Der Medienmarkt und damit auch der Audiomarkt leiden nicht unter einer Dürre. Sie leiden eher unter einer Fülle von Angeboten. Um hier eine Überlebenschance zu haben, muss sich ein Medienunternehmen so stark profilieren und seine Marken so pflegen, dass sie gesucht und aufgefunden werden und dass man sich ihrer auch wieder erinnert. Zu unserem Profil gehört auch der Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Wissenschaft, Kultur, Information, Recherche, aufwendige Hintergrundberichte und Features. Aber auch das künstlerische Hörspiel, neue Musik oder Literatur. Das sind alles Bereiche, mit denen jeweils kein Massenpublikum erreicht werden kann. Aber es existieren viele Interessenten für diese Spezialangebote und so erreichen wir täglich über 3 Millionen Hörer. Wir versuchen mit diesen sehr scharf profilierten und spezialisierten Angeboten unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen.

medienpolitik.net: Was befähigt das Deutschlandradio zu einem solchen anspruchsvollen Vorhaben?

Teichmann: Deutschlandradio ist ein Haus voller kluger Köpfe. Das ist unser Kapital. Wir wollen die Hörer zum Mitdenken und Nachdenken anregen. Hier haben wir im Hörfunk einen guten Ruf und erreichen unser Ziel. Bei den digitalen Audioangeboten müssen wir das Tempo erhöhen, um auch dort den Ansprüchen vor allem jüngerer Hörer zu entsprechen. Als nationaler, beitragsfinanzierter Hörfunkanbieter haben wir im Radiomarkt wenig Konkurrenz, im Digitalen ist die Konkurrenzsituation eine ganz andere. Da sind wir einer unter vielen und müssen uns im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer behaupten. Das gelingt uns teilweise schon sehr gut. So bieten wir mit „Eine Stunde History“ von Deutschlandfunk Nova einen reichweitenstarken Geschichtspodcast, der ein Alleistellungsmerkmal hat. Auch unser neuer Podcast „Tatort Kunst“ läuft hervorragend. Hier geht es um die Aufdeckung von True-Crime-Fällen in der Kunstwelt. Gleichzeitig lernen die Hörerinnen und Hörer, wie der Kunstmarkt funktioniert.  Ganz offensichtlich interessiert sich unser Publikum also auch im Digitalen für anspruchsvolle Themen.

medienpolitik.net: Was bedeutet die Umsetzung dieser Strategie konkret?

Teichmann: In einigen Redaktionen wird parallel linear und non-linear gearbeitet und gedacht, andere Reaktionen arbeiten bereits weitgehend nichtlinear, wieder andere gestalten wie bisher vor allem das Radioprogramm. Einige Redaktionen haben während des laufenden Radiobetriebes also auch digitale Formate an den Start gebracht. Zum Beispiel wurde in der Geschichtsredaktion ein wöchentliches Format „Der Rest ist Geschichte“ entwickelt, das zuerst für die digitale Nutzung gedacht war, das wir aber auch im Radio ausspielen. Die Entwicklung war aufwendig und hat einigen Vorlauf benötigt. Ein Teil des Teams musste etwa neue Arbeitsweisen erlernen. Das ist jetzt aber in das „normale“ Radiogeschäft integriert worden. Ein anderes Beispiel aus unserer Abteilung Hörspiel Feature Radiokunst: Deutschlandradio hat den ganzen Sommer Repertoire aus dem Archiv gespielt und die dadurch gewonnene Kapazität genutzt, um im Studio Neues auszuprobieren und Podcast-Entwicklung noch besser zu verstehen und damit für unser digitales Publikum ebenso professionell produzieren zu können wie für ihre Radiohörer.   

„Ganz offensichtlich interessiert sich unser Publikum auch im Digitalen für anspruchsvolle Themen.“ Jona Teichmann

medienpolitik.net: Sie wollen bis 2024 ein Radio-Recommender-Systems einführen. Warum ist ein Empfehlungssystem auch für das Radio wichtig?

Teichmann: Ein zunehmender Teil vor allem des jungen Publikums verbringt immer weniger Zeit mit Radio, aber immer mehr Zeit auf Audio- und Streamingplattformen. Hier sind es die Nutzer gewohnt, dass Empfehlungen angeboten werden. So ein Empfehlungssystem, das steckt ja hinter dem Namen Radio-Recommender-System, wollen wir in unsere App, die Dlf Audiothek, einbauen. Wir wissen, dass das auch zur Nutzerbindung beiträgt und Interessierte in unserem Angebot hält. Die Algorithmen sollen die User dabei zu Inhalten führen, die sie selbst vielleicht nie gefunden hätten. Im besten Fall überraschen wir auch unsere Hörerinnen und Hörer, so wie wir das im Radio bereits tun. Allerdings wird die große Mehrzahl der Angebote in der Dlf Audiothek auch weiterhin von unseren Redaktionsteams zusammengestellt.

medienpolitik.net: Anscheinend betritt das Deutschlandradio hier für die öffentlich-rechtlichen Anstalten Neuland. Inwieweit bestehen Möglichkeiten, auch mit anderen ARD-Sendern zusammen zu arbeiten?

Raue: Die Entwicklung des Radio-Recommender-Systems ist ein wichtiges Projekt für die öffentlich-rechtlichen Sender in ganz Europa. Innerhalb der Europäischen Rundfunkunion (EBU) wird gemeinsam an einer technischen Lösung gearbeitet, dabei haben wir dann die Anforderungen unserer Audiothek besonders im Blick. Zur Zusammenarbeit mit der ARD: Deutschlandradio wurde vor 29 Jahren als Körperschaft von ARD und ZDF gegründet und der Staatsvertrag verpflichtet uns zu einer „engen Zusammenarbeit“, aber gleichzeitig zu publizistischer Unabhängigkeit. Das erreichen wir, indem wir in vielen Bereichen eng mit ARD und ZDF programmlich, technisch und in der Verwaltung kooperieren. So zum Beispiel erfolgen der Einkauf über den NDR, die Lohn- und Gehaltsabrechnung über den WDR, die Satellitennutzung beim ZDF. Wir sind auch in das SAP-Projekt und in das gemeinsame Datenbank- und Archivprojekt der ARD eingebunden. Im Publizistischen existiert hörfunkbedingt eine enge Zusammenarbeit mit ARD-Anstalten, im Programmaustausch, bei Kooperationen oder auch bei der Finanzierung des Auslandskorrespondentennetzes.

medienpolitik.net: Die ARD-Intendanten haben in diesem Jahr mehrere Entscheidungen zur engeren Kooperation, auch im Hörfunkbereich getroffen. Inwieweit ist das Deutschlandradio hier involviert?

Raue: Bei diesen Projekten handelt es sich um einen internen ARD-Prozess. Die ARD lebt von der Vielfalt ihrer Rundfunkanstalten und diese müssen zuerst einen gemeinsamen Weg finden. In diesen Prozess sind wir nicht eingebunden, das war eine Entscheidung von beiden Seiten. Wenn die Intendantinnen und Intendanten zu festen und klaren Vereinbarungen gekommen sind, zum Beispiel bei den Kompetenzzentren, wird die ARD mit uns in den Dialog treten und mit uns gemeinsam überlegen, wo wir kooperieren können. Wir produzieren unter anderem aufwendige Hörspiele gemeinsam mit ARD-Anstalten und sehen hier weitere Kooperationsmöglichkeiten.

medienpolitik.net: Sie haben sich in den letzten Wochen vehement gegen Überlegungen gewandt, dass das Deutschlandradio mit dem ZDF fusioniert. Existiert dennoch ein Argument, das sie bewegen könnte ihre Ablehnung zu überdenken?

Raue: Nach meiner Meinung ist eine Fusion nicht sinnvoll, weil sie sehr teuer ist und damit Ressourcen bindet. Die Radio- und Fernsehwelt haben sich sehr weit auseinanderentwickelt, inhaltlich und wirtschaftlich wäre das nicht vernünftig. Es würde sehr viel Geld kosten, das anzupassen. Mögliche Einspareffekte halte ich dagegen für sehr gering. Zum anderen gibt es ja dort, wo es Sinn macht, bereits eine Zusammenarbeit mit dem ZDF. Das ist über Jahre erprobte Praxis, auch inhaltlich. So haben wir zuletzt mit „Billion Dollar Apes“ ein gemeinsames Podcastprojekt über den Handel mit digitaler Kunst gestartet, bei dem beide Seiten viel lernen konnten. Wir denken auch über weitere Kooperationsmöglichkeiten im Programmbereich nach. Die Frage einer strukturellen Fusion ist aber eine ganz andere und hängt weniger mit dem Programm zusammen, denn hier werden wir die Zusammenarbeit ausbauen. Stattdessen geht es um eine politische Entscheidung, ob man die Ressourcen in eine fragwürdige Fusion investieren möchte, bei der ein weltweit agierendes öffentlich-rechtliches Milliarden-Unternehmen mit einem kleinen nationalen Hörfunk mit einem Etat von 250 Millionen verschmolzen würde.

 

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