Hundert Jahre und kein bisschen alt

02. November 2023
Helmut Hartung promedia Verlag Chefredakteur
Helmut Hartung promedia Verlag Chefredakteur
Audio-Angebote sind weiterhin von großer Relevanz, doch medienpolitisch ist die Hörfunklandschaft umstritten

Von Helmut Hartung, Chefredakteur medienpolitik.net

In diesen Tagen wird von den ARD-Hörfunksendern, dem Deutschlandradio und auch privaten Radioveranstaltern ihr Medium gefeiert. Hundert Jahre ist der Rundfunk in Deutschland alt, so heißt es in historischen Rückblicken, in Sondersendungen und auch anlässlich des jährlichen Benefizkonzerts des Bundespräsidenten in Leipzig. Dabei ist der Rundfunk in Deutschland sogar einige Monate älter. Das Radio ist auch noch heute als Informations- und Unterhaltungsmedium gefragt. Technische Innovationen versprechen seinen Inhalten auch in Zukunft eine große Relevanz. Medienpolitisch ist die deutsche Hörfunklandschaft durchaus umstritten. Private Anbieter beklagen ein Übermaß an öffentlich-rechtlichen Audio-Angeboten und mit dem Rundfunkbeitrag werden Orchester und Chöre finanziert, die programmlich nur noch schwer zu begründen sind.

Am 22. Dezember 1920 wurde erstmals öffentlich ein kurzes Programm über einen Lichtwellensender der Reichspost verbreitet. „Hallo Hallo, hier ist Königs Wusterhausen auf Welle 2700“ – so lautete die Begrüßung zur ersten Rundfunksendung aus Deutschland. Anschließend ertönte das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Reichspostmitarbeiter der Hauptfunkstelle Königs Wusterhausen bei Berlin spielten ein Weihnachtskonzert. Ab 1920 belieferte der Rundfunk vorerst nur Banken und Zeitungsredaktionen mit Nachrichten. Rundfunkhören war für Privatpersonen noch unmöglich. Das änderte sich am 29. Oktober 1923. Auch hier ist der Start überliefert: „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren, wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt. Die Benutzung ist genehmigungspflichtig.“ Danach wurde das Stück „Andantino“ des seinerzeit populären Komponisten Fritz Kreisler (1875-1962) uraufgeführt. Schnell entstanden ab 1924 neben der „Berliner Funk-Stunde AG“ acht weitere regionale Sendegesellschaften. Für die Ausstrahlung der Programme war eine Konzession der deutschen Post erforderlich, denn diese errichtete und betrieb die Sendeanlagen. Während sich die Politik in der Weimarer Republik kaum in den Rundfunk einmischte, änderte sich die Funktion des Radios ab 1933 dramatisch. Mit dem „Volksempfänger“ entwickelte sich das Radio zum faschistischen Propagandainstrument und zum Massenmedium. Die Anzahl der Haushalte, die Rundfunk hörten, stieg innerhalb der nächsten zehn Jahre auf rund 16 Millionen an.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges organisierten die westlichen Alliierten den Neuaufbau des Rundfunks in ihren Besatzungsgebieten in seiner heutigen Form als demokratisches Medium. In der sowjetischen Besatzungszone blieb das Radio weiterhin ein Propagandamittel, jetzt allerdings im Sinne der marxistischen Doktrin. Im Juni 1950 gründeten die Intendanten der sechs westlichen Rundfunkanstalten die ARD. In der DDR bestimmte das Staatliche Rundfunkkomitee, dass es hier drei von der SED-kontrollierte Sender geben soll: Radio DDR, den Berliner Rundfunk und den Deutschlandsender. Später kam noch das Jugendradio DT64 dazu. Mitte der 1980er-Jahre entstanden die ersten privaten Radios in der Bundesrepublik und es etablierte sich das duale Rundfunksystem. Nach dem Fall der Mauer 1989 wurde dieses Modell auch in den neuen Bundesländern installiert. Während eines durchschnittlichen Werktags im Jahr 2022 erreichten die privaten Radioprogramme 29,5 Millionen Hörer ab 14 Jahren (2021: 28,6 Mio.) und die öffentlich-rechtlichen Wellen 35,2 Millionen Hörer (2021: 35,9 Mio.).

Radio als Informationsmedium noch immer relevant

Das Radio wurde prägend für unsere Kultur und Sprache. Es entstanden neue Kunstformen wie das Hörspiel, die Radiolesung oder die Radiodokumentation. Markante Radioereignisse wie Otto Brauns Live-Reportagen oder Herbert Zimmermanns legendäre Kommentierung des WM-Finales 1954, in Bern, mit seinem Ausruf „Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“, trugen zu seiner Popularität bei. Und es hat trotz digitaler Revolution und einem veränderten Nutzungsverhalten kaum etwas von seiner Popularität und Relevanz für die Meinungsbildung eingebüßt. Radiohören gehört noch immer zu den wichtigsten medialen Freizeitbeschäftigungen: Jeder Deutsche kommt im Durchschnitt auf eine tägliche Radiohördauer von mehr als drei Stunden (Stand: 2022). Insgesamt gibt es 464 Radiosender. Davon sind 290 private und 74 öffentlich-rechtliche Radioprogramme. Im Jahr 2023 hören rund 32,34 Millionen Personen in der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahre, täglich Radio. 2019 waren es noch etwa 36,5 Millionen tägliche Hörer. Inzwischen besitzt das Radio unter Jugendlichen weniger Relevanz als das Internet: Im Jahr 2022 hörten rund 26 Prozent der 12- bis 19-Jährigen täglich Radio, während 84 Prozent im Internet unterwegs waren. Allerdings nutzen Sie dabei auch die vielfältigen Audio-Angebote, eben nur über einen anderen Verbreitungsweg. Bei der informierenden Mediennutzung, insbesondere in den jüngeren Altersgruppen, liegt das Fernsehen knapp an der Spitze. Es ist mit 54 Prozent das Informationsmedium mit der höchsten Tagesreichweite bei der Bevölkerung ab 14 Jahren dicht gefolgt vom Internet (53%). Das Radio erreicht 47 Prozent vor Zeitungen (31%) sowie Zeitschriften (10%).

Audionutzung nimmt weiter zu

Die Radioangebote können heute über drei Wege empfangen werden: UKW, DAB und Internet. Die Ultrakurzwelle wird wohl noch für längere Zeit der Hauptweg bleiben, aber das Internet und DAB (Digitalradio) erobern sich Jahr für Jahr neue Nutzergruppen. So wird DAB heute innerhalb von 14 Tagen von 29 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren gehört und insbesondere in der Zielgruppe der 30- bis 59-Jährigen mit 34 Prozent überproportional genutzt. Konkurrenz erhalten die kuratierten öffentlich-rechtlichen und privaten Hörfunkprogramme immer stärker von Podcasts.

Nach Angaben des Online-Audio-Monitors 2023 der Landesmedienanstalten hört die Mehrheit der Bevölkerung ab 14 Jahren (60%) online Musik, während 52 Prozent Webradio nutzen und Podcasts bei 30 Prozent beliebt sind. Dieser Wert hat sich seit 2021 kaum verändert. Webradio beherrscht den Markt in den Kategorien Musik, Nachrichten, lokale Inhalte und Service-Themen, während Podcasts vor allem in den Bereichen Information, Wissen, Unterhaltung und Hörbücher punkten. Die Zahl der Podcast-Nutzer ist von 2021 zu 2022 um 300.000 auf 20,8 Millionen Menschen gestiegen. Je jünger die Befragten sind, desto intensiver nutzen sie Podcasts. Fast 10 Prozent der 14 bis 49-Jährigen hören täglich Podcasts. Bemerkenswert ist, dass rund ein Drittel der Befragten mehr als drei Stunden pro Woche für Podcasts und Radiosendungen zum Nachhören aufwenden, was etwa acht Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht.

Obwohl immer mehr Menschen in Deutschland Zugang zu digitalem Radioempfang haben, setzt die Mehrheit aber noch immer auf das klassische UKW. "Nach wie vor gibt etwas mehr als die Hälfte der Personen ab 14 Jahren das analoge UKW-Radio als meistgenutzte Empfangsart an, der Trend ist aber mit minus 13 Prozentpunkten in fünf Jahren deutlich rückläufig", heißt es in der "Audio Trends 2022 der Medienanstalten". Fasst man die gesamte Audio-Nutzung zusammen, wie es heute zumeist geschieht, also die linearen und non-linearen Angebote inklusive die der Streaming-Plattformen wie Spotify oder YouTube, ist Audio wichtigster Tagesbegleiter der Deutschen. Im zurückliegenden Jahr hörten zuletzt 75,7 Prozent (2021: 75,6%) der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren werktäglich Audio. Innerhalb von vier Wochen erreicht Audio sogar 94,1 Prozent der Bevölkerung (2021: 93,7%).

Private Radios mit wirtschaftlichen Problemen

Diese Konkurrenz verschlechtert die wirtschaftliche Lage des privaten Hörfunks, auch wenn immer mehr Podcasts von ihm produziert werden und die Zahl der Webradioangebote kontinuierlich wächst. Nach wie vor sind die über UKW verbreiteten Programme die wichtigste Finanzierungsquelle der kommerziellen Anbieter. Nach Angaben des Verbandes privater Medien, erzielten die rund 350 privaten Radioveranstalter in Deutschland 2022 Einnahmen von rund 500 Millionen Euro. Dem stehen 70 öffentlich-rechtliche Hörfunkprogramme gegenüber, deren Einnahmen auf rund 3,5 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt werden, einschließlich ihres Anteils von knapp 30 Prozent am Radiowerbemarkt. Die problematische Situation für die privaten Radios verdeutlichen auch folgende Zahlen: 2019 lagen die Netto-Werbeumsätze der Gattung Radio noch bei 784 Millionen Euro. Ab dem Jahr 2020 sind die Umsätze stark eingebrochen und lagen im Jahr 2022 bei geschätzten 686 Millionen Euro und damit rund 100 Millionen Euro unter Vorkrisenniveau. Die konjunkturellen Aussichten für 2023 versprechen keine Besserung. Wie Kai Fischer, Vorsitzender der Geschäftsführung der Audiotainment Südwest, eine der größten deutschen Radiogruppen, resümiert, „liegt Radio im 1. Halbjahr 2023 bei den Brutto-Werbeumsätzen bei ca. minus 3 Prozent. Insbesondere in den lokalen/regionalen Werbemärkten spürt man die Auswirkungen der mittlerweile mehrjährigen schwierigen konjunkturellen Lage deutlich. Diese Marktentwicklung verstärkt bestehende Nachteile privater Radio- und Audioanbieter im Wettbewerb mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dazu kommen stetig neue Audioformate der ARD-Anstalten. Über 170 öffentlich-rechtliche Webchannels (inkl. Simulcast) und eine nicht mehr nachvollziehbare und stetig steigende Zahl öffentlich-rechtlicher Podcast- und Audio-on-Demand-Angebote verstärken im Digitalen den Druck auf die privaten Anbieter.“ Der Vaunet fordert deshalb auch im Bereich der digitalen Angebote wirksame quantitative und qualitative Grenzen.

Wichtiger Beitrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks für die Kultur

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seit seiner Gründung mit seinen Programmen einen wichtigen Beitrag für die Kultur in Deutschland geleistet. Die Berichterstattung über kulturelle Ereignisse, Entwicklungen und deren Rezeption zählen zu den Kernaufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ein Beispiel, wie dieser Programmauftrag in hoher Qualität umgesetzt wird, ist das Deutschlandradio, mit seinen drei Sendern. Mit seiner neuen Digitalstrategie wolle das Deutschlandradio innerhalb von fünf Jahren zum wichtigsten Anbieter hochwertiger journalistischer und künstlerischer Audioformate im deutschsprachigen Raum werden, heißt es in einer Pressemeldung. Zu den populären Sendungen zählen das künstlerische Hörspiel, neue Musik oder Literatur. „Das sind alles Bereiche, mit denen jeweils kein Massenpublikum gewonnen werden kann. Aber es existieren viele Interessenten für diese Spezialangebote und so erreichen wir täglich über 3 Millionen Hörer. Wir versuchen mit diesen sehr scharf profilierten und spezialisierten Angeboten unseren öffentlich-rechtlichen Auftrag zu erfüllen“, sagt Intendant Stefan Raue.

Trotz des eindeutigen Programmauftrages für die Kulturberichterstattung gibt es immer wieder Meldungen über strukturelle Veränderungen und auch finanzielle Kürzungen in den Landesrundfunkanstalten bei kulturellen Formaten. Die Sender begründen diese „Umschichtungen“ mit der Notwendigkeit mehr jüngere Nutzer zu erreichen. Erst kürzlich gab es Kritik an entsprechenden Plänen des Bayerischen Rundfunks. Dazu sagte die Intendantin Katja Wildermuth am 25. Oktober der FAZ: „Hier hilft ein nüchterner Blick auf die Fakten: Wir werden nicht einen Cent aus der Kulturberichterstattung nehmen. Es werden den Redaktionen im Gegenteil sogar 250.000 Euro zusätzlich für die Entwicklung neuer Formate für jüngere Zielgruppen zur Verfügung gestellt. An diesem mehrmonatigen Reformprozess bei Bayern 2 waren 18 Redaktionen mit über 50 Redakteurinnen und Redakteuren beteiligt, die ihre langjährige Erfahrung und Kompetenz mit eingebracht haben. Im Radio wollen wir wertvolle Inhalte, die bisher am späten Abend oder am Wochenende in so genannten Randzeiten gesendet worden sind, in die Primetime verlegen. In diesen Kernsendezeiten können die Kulturangebote von einem viel größeren, interessierten Publikum wahrgenommen werden, nach den Erkenntnissen unserer Medienforschung derzeit ein siebenmal größerer Hörerkreis.“

Der Einfluss öffentlich-rechtlicher Kulturaktivitäten geht darüber hinaus. Dazu zählen unter anderem Orchester und Chöre, die wesentlich über den Rundfunkbeitrag finanziert werden. Das ist verfassungsrechtlich möglich, wenn dieses Engagement direkt oder indirekt dem Programm zugutekommt. In seiner Hamburger Rede hatte der WDR-Intendant Tom Buhrow 2022 dennoch nach der Notwendigkeit eigener ARD-Orchester gefragt: „Die ARD unterhält 16 Ensembles: Orchester, Big Bands, Chöre. Etwa 2000 Menschen, fast alle fest angestellt. Obwohl die zu den Besten ihrer Zunft gehören – wir können auch hier der Frage nicht ausweichen: Wollen die Beitragszahler das? Wollen sie es in dieser Größenordnung? Oder wollen sie ein Best-of? Das beste Sinfonieorchester, den besten Chor, die beste Big Band, das beste Funkhausorchester?“ Es ist eine Tatsache, dass diese Orchester, Chöre und Big Bands hohe Qualität bieten und mit zu den führenden Musikkörpern in unserem Land zählen. Für die Musikkultur Deutschlands wäre es ein Verlust, wenn es sie nicht mehr gäbe. Von den momentan monatlich 18,36 Euro pro Haushalt werden jeweils 36 Cent zu diesem Zweck verwendet. Damit stellt sich auch bei diesem Reizthema medienpolitisch die Frage nach der sachgerechten Verwendung des Beitrages. Die Organisation kultureller Events ist nicht Teil des Auftrages. Wenn die Länder die Finanzierung und Verantwortung der nicht programmbezogenen Kulturaktivitäten weiterhin bei den Anstalten sehen, muss sich das auch im Auftrag wiederspiegeln und es muss sich sowohl bei der Bedarfsanmeldung als auch im Bericht der Beitragskommission KEF wiederfinden. Nur so kann es eine ehrliche Debatte über den Auftrag und die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geben. Auch im Kulturbereich.

Dieser Text ist in modifizierter Form in „Politik und Kultur“, der Zeitschrift des Deutschen Kulturrates, Heft 11/2023 erschienen.

 

 

 

 

 

 

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