Von Joscha F. Westerkamp, Student der Journalistik in Dortmund.
Non-Governmental Organizations (NGOs) besitzen eine wichtige Funktion bei der öffentlichen Willensbildung – auch zu den Themen „Medien“ und „digitale Plattformen“. Studenten des Instituts für Journalistik der TU Dortmund, stellen in den nächsten Wochen einige vor. Als zivilgesellschaftliche Organisationen werden NGOs zu öffentlichen Anhörungen eingeladen und beteiligen sich durch Eingaben an Gesetzgebungsverfahren. Sie bewerben sich um öffentliche Forschungsgelder im Kampf gegen Desinformation, unterstützen strategische Klagen bei Verletzungen der Pressefreiheit oder sollen selbst gesellschaftliche Anliegen in Gremien vertreten, etwa im Beirat des Digital Services Coordinators. Immer wieder kommen sie herausgehoben zu Wort, sei es in Experten-Funktion oder mit selbst gesetzten Themen. Ziel dieser Serie „NGOs als Gestalter digitaler Öffentlichkeit“ soll daher sein, zivilgesellschaftliche Organisationen zu den Themen „Medien“ und „digitaler Plattformen“ in Porträts näher vorzustellen. Oftmals sind sie allein ihrem Namen nach bekannt. Leitfragen für die Porträts waren dabei zum Beispiel: Wie ist Reporter ohne Grenzen entstanden? Welche Finanzierungsgrundlage hat der Deutsche Journalistenverband? Welches Selbstverständnis hat die Stiftung Neue Verantwortung? Wie organisiert sich der Chaos Computer Club?
Seit 40 Jahren setzt sich der Chaos Computer Club für Datenschutz, Informationsfreiheit und sichere Kommunikation im Netz ein. Aus dem kleinen Hackerkollektiv ist eine viel beachtete NGO geworden. Die Entwicklung des Internets bringt sie dazu, ihre bisherige Agenda infrage zu stellen. Zum Videointerview lädt Jochim Selzer per Senfcall, einer datenschutzfreundlicheren Zoom-Alternative. Selzer setzt als einer der Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) auf zahlreiche Alternativen großer Kommunikationsdienste: Mastodon statt Twitter/X, PeerTube statt YouTube, Signal und Threema statt WhatsApp. Er ist für weniger zentrale Verwaltung der Kommunikation, für weniger Einfluss von großen Playern wie Elon Musk oder Mark Zuckerberg.Selzer ist Diplom-Mathematiker und hat im Nebenfach Informatik studiert. Er komme noch aus der „C64-Zeit“, sagt er, den Achtzigerjahren. So richtig in die Nerd-Szene eingestiegen sei er aber erst mit den Zweitausendern. Vor gut zehn Jahren ist er dem CCC beigetreten, mit über 8.000 Mitgliedern die größte Hackervereinigung Europas.
Der CCC ist eine der wohl ungewöhnlichsten NGOs im Medienumfeld. Mittlerweile weit bekannt für sein Engagement für ungehinderte Kommunikation und Informationsfreiheit, liegen seine Ursprünge in geradezu rebellischem Auftreten. Den Anfang nahm der CCC zu Beginn der Achtzigerjahre, einer Zeit mit einem „zutiefst analogen Staat“, wie Selzer es beschreibt: einer Zeit, in der die Medien noch deutlich begrenzter waren als heute, sämtliche Massenkommunikation durch die Hände von Redaktionen, Verlagen, Sendeanstalten lief. Die ersten Computer standen in abgesperrten Räumen, waren nur Fachpersonal zugänglich und wurden von vielen eher als bedrohlich denn als hilfreich eingeschätzt. „Auf einmal kamen da aus Hamburg so ein paar Leute, die sagten: Computer sind total interessant, wir haben einen riesengroßen Spaß daran“, erzählt Selzer. „Und gleichzeitig wussten die natürlich, dass von Computern auch gewisse Risiken ausgehen.“
Von aufsehenerregenden Hacks zu politischen Gutachten
Bekannt wurden diese Leute dann im Jahr 1984: Über den von der Bundespost bereitgestellten und als sicher dargestellten Onlinedienst BTX gelangten sie an die Daten eines Benutzerkontos der Hamburger Sparkasse – und erbeuteten so knapp 135.000 D-Mark. Das Geld gab es kurz später zurück, die Bekanntheit des Clubs blieb. „Der CCC verstand sich dann am Anfang so als der kleine, lustige, freche Hackerverein, der den Bösen und Mächtigen die lange Nase zeigt und technisch stark überlegen ist“, sagt Selzer. Mittlerweile ist der CCC nicht nur um Tausende Mitglieder gewachsen, sondern hat auch eine – wie Selzer es nennt – geradezu „staatstragende“ Rolle eingenommen. Der CCC wird mehrfach im Jahr politisch angehört, auch auf Anfrage des Bundesverfassungsgerichts geben sie Stellungnahmen ab. Medien zitieren sie und ihre Empfehlungen werden gehört. Während der Corona-Pandemie hat der CCC beispielsweise einen Zehnpunktekatalog für eine datenschutzfreundliche Corona-Warn-App veröffentlicht. Nach Einschätzung von Selzer hat dieser ihre Entwicklung entscheidend verändert. Unter viel Beachtung gekämpft haben sie in den vergangenen Jahren auch gegen die von der EU geplante Chatkontrolle, die vorsieht, zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch weitreichend digitale Kommunikation zu durchscannen – mit drastischen Kosten für den Datenschutz. Der CCC bezeichnete das als „realitätsferne Überwachungsfantasie“, viele schlossen sich in der Kritik an.
Wie entwickelte sich dieser ursprünglich kleine Hackerzusammenschluss zur politisch einflussreichen NGO? Auch in den Achtzigerjahren gab es schon erste politische Stellungnahmen und Gutachten. Das beim CCC vorhandene Fachwissen wurde früh anerkannt. Dagegen erntete der CCC für seine Hacks auch Misstrauen: 1987 drangen Hacker aus dem CCC-Umfeld in Systeme der NASA ein. Ermittlungen wurden eingeleitet. Parallel lief der sogenannte KGB-Hack, bei dem mehrere CCC-Angehörige für die Sowjetunion in westlichen Computersystemen spionierten. Am Ende, 1989, starb der hauptbeteiligte Hacker Karl Koch aus nicht vollständig geklärten Gründen.
Das Chaos im Namen ist Programm
Was möchte der CCC heute bewirken? Und wer von den Tausenden Mitgliedern stimmt zu, wenn der CCC öffentlich eine Empfehlung ausspricht? Bei Selzers Antwort auf diese Fragen wird klar: „Das Chaos im Namen kommt auch heute noch nicht von ungefähr.“ Beim CCC gilt für seine Mitglieder prinzipiell: „Leute machen einfach, und wenn sie keiner mit Händen und Füßen davon abhält, dann machen sie halt weiter.“
Dass das – abgesehen von ein bisschen Chaos – nicht zu größeren Schwierigkeiten führt, hat auch einen entscheidenden Grund: Nicht jeder kann kurzerhand CCC-Mitglied werden. Wer sich den Hackern anschließen will, muss erst mal bei ein paar Probetreffen einen guten Eindruck machen. Der CCC ist dezentral organisiert, aufgeteilt in viele Regionalgruppen. Diese stimmen selbst über ihre neuen Mitglieder ab. Dann begegnen sie sich in kleineren „Chaostreffs“ oder den größeren sogenannten Erfa-Kreisen (Erfahrungsaustauschkreisen), um die Themen zu bereden, die sie gerade bewegen.
Um auf sich aufmerksam zu machen, wird der CC selbst aktiv. Mitglieder gehen in Schulen und veranstalten Events, etwas das Chaos Communication Camp als „europäische Hackerparty“ oder den Chaos Communication Congress. Hier kommen jährlich über 15.000 Menschen zusammen, um an Vorträgen und Workshops teilzunehmen. Die konkreten Themen werden dabei erst kurzfristig angekündigt, um so aktuell wie möglich zu sein. Finanziert wird der CCC vor allem über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Die eingenommenen Mittel beliefen sich 2023 auf knapp 470.000 Euro. Sponsoren, etwa für ihre Veranstaltungen, werden dagegen bewusst abgelehnt, um so unabhängig wie möglich zu sein. Umso wichtiger ist ehrenamtliches Engagement im Tagesgeschäft.
Ordnung im Chaos: die Hackerethik
Was alle Vereinsmitglieder über regionale Verbände hinaus verbindet: die Hackerethik. Seine Ursprünge hat diese im Eisenbahnerclub der US-Elite-Universität MIT, verbreitet durch Steven Levys Buch „Hackers“. Die Hackerethik besteht aus Grundsätzen, die im Computer- und Hackerumfeld beachtet werden sollen. Dazu gehört: „Computer können dein Leben zum Besseren verändern.“ Aber auch: Der Zugang zu Computern soll unbegrenzt sein, alle Informationen frei. Autoritäten ist zu misstrauen und Dezentralisierung zu fördern. Oder: „Mülle nicht in den Daten anderer Leute“ und „Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen“.
Ergänzend führt der CCC eine generelle Unvereinbarkeitsliste. Unter anderem Rassismus und Gewalt werden dort ausgeschlossen. Stattdessen befürwortet die NGO eine „galaktische Gemeinschaft von Lebewesen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Abstammung sowie gesellschaftlicher Stellung, offen für alle mit neuen Ideen“.
Diese Grundprinzipien sind es, auf die sich auch Sprecher wie Selzer in ihren öffentlichen Empfehlungen stützen, wenn sie für den Gesamtverein sprechen. Ansonsten könnte der Selzer angesichts der Vielfalt der Mitglieder keine gemeinsame Vereinsposition entwickeln. Wenn es beispielsweise um die Einstellung des CCC zum Umgang mit Hassrede geht, könne er da nur relativ allgemein sprechen: „Wir sind dafür, dass menschenfeindliche Äußerungen in irgendeiner Form sanktioniert werden. Aber so sehr wir uns wünschen, dass die aus dem Netz verschwinden, wissen wir auch: Wenn wir jetzt anfangen, die entsprechende Infrastruktur aufzubauen, die solche Äußerungen weitgehend unterbindet, dann schaffen wir eine Zensurinfrastruktur, die sich sehr leicht missbrauchen lässt.“ Wie genau technisch letztlich also Hassrede umgegangen werden sollte, werde auch von den Vereinsmitgliedern nicht einheitlich beantwortet.
Die Fragen der Zukunft
Welche Themen werden den CCC in nächster Zeit beschäftigen? Da wäre natürlich die künstliche Intelligenz, sagt Selzer. Aktuell ein „wahnsinniges Hype-Thema“. Mit der Zeit werde es aber wohl noch der ein oder anderen reflektierteren Einschätzung bedürfen. Und es interessiere den CCC die Frage: „Wie kriegen wir eine grüne IT?“ Wie also können Computer in Herstellung und Betrieb CO₂-sparsamer sein? Nicht nur die häufige Anschaffung eines neuen Handys oder Laptops, sondern auch die meisten Server, über die digitale Kommunikation läuft, sind alles andere als umweltfreundlich.
Und auch wenn der CCC bisher noch keine perfekte Empfehlung dafür aussprechen kann, wird Hatespeech wohl noch länger ein wichtiges Thema bleiben. Denn, das ist den CCC-Mitgliedern längst klar geworden: „Dieses Netz, das wir uns Ende der Achtziger erträumt haben als dieser große Marktplatz der freien Ideen, hat sich dahin entwickelt, dass sich jeder Idiot ans Netz klemmen und von sich geben kann, was er will.“
Zum Autor:
Joscha F. Westerkamp studiert Journalistik in Dortmund. Hat als Werkstudent bei Zeit Online gearbeitet und nebenher unter anderem für Spiegel, taz und die Ruhr Nachrichten geschrieben. Jetzt Volontär der Süddeutschen Zeitung.