Interview mit MDR-Intendantin Prof. Dr. Karola Wille und MDR-Programmdirektorin Jana Brandt
Die ARD Kultur ist eine der umstrittensten Gemeinschaftseinrichtungen innerhalb des Senderverbundes der letzten Jahre. Die Plattform ist am 26. Oktober vergangenen Jahres mit einer Beta-Version online gegangen. Die Federführung hat der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Für das Kulturportal wurde auf eigene technische Entwicklungen verzichtet und der vorhandenen ARD-Modul-Baukasten, wie etwa die Player aus der Audiothek oder Mediathek, für dieses neue Projekt genutzt. Karola Wille verweist im Gespräch auf den Beitrag von ARD Kultur für ein regional verankertes Inhalte-Netzwerk des Senderverbundes. Die neue Gemeinschaftseinrichtung in Weimar sei „ein wichtiger Knotenpunkt, mit digitaler Kompetenz im Kulturellen, ein Netzwerkort mit vitalisierender Kraft, um Kultur für alle zu befördern und erlebbar zu machen.“ Die erste Kraftanstrengung war für ARD Kultur die Leipziger Buchmesse Ende April. Mit einem großen Literatur-Special auf ardkultur.de sowie einem „Best-of-Programm“ vom ARD-Forum wurde vom mitteldeutschen Literaturtreffpunkt berichtet. Zudem veranstaltete ARD Kultur zusammen mit den Kulturwellen der ARD eine dreistündige Buchmesse-Nacht. Eine erste Bilanz nach sieben Monaten ziehen Karaola Wille und Jana Brandt im Gespräch.
medienpolitik.net: Am 26. Oktober 2022 ist die Kulturplattform ARD Kultur gestartet. Was würde dem beitragszahlenden Bürger fehlen, wenn es dieses Portal nicht gäbe?
Wille: Auf dem Portal zeigt sich eine „neue“ Kulturwelt, indem die kulturelle Vielfalt in den Regionen mit den regionalen Angeboten der ARD-Anstalten stärker bundesweit sichtbar gemacht wird. Zudem entwickelt sich ein Netzwerk für eine Branche, für die der kreative Austausch über Ideen und Anregungen von großem Wert ist. Allerdings ist das Portal als ein Bestandteil der neuen Gemeinschaftseinrichtung ARD Kultur noch im Drei-Stufen-Test. Wir sind davon überzeugt, dass wir bereits seit dem Start mit der Beta-Version gezeigt haben, dass hier gesellschaftlich Relevantes entsteht. Wir bieten mehr innovative und inspirierende Angebote aus dem Kulturbereich. Und wir wollen ARD Kultur zu einer Heimat der Kultur und ihrem Blick auf gesellschaftliche Perspektiven weiterentwickeln.
medienpolitik.net: Inzwischen sind die Angebote nahezu aller neun ARD-Anstalten auch in der Mediathek zu finden. Warum reicht Ihnen das nicht?
Wille: ARD Kultur enthält deutlich mehr und stärkt unseren Kulturauftrag im Digitalen: Gemeinsam mit den anderen ARD-Häusern werden neue Inhalte insbesondere für Menschen zwischen 30 und 50 Jahren entwickelt, die auch in der ARD-Mediathek und der Audiothek auffindbar sind. Das Portal bündelt und kuratiert nicht nur, sondern es führt die Audio- und Videowelt zusammen. Wenn Sie z.B. etwas zu einem bestimmten Thema suchen, finden Sie hier an einem Ort alles gebündelt, zum Anschauen und zum Anhören. Damit bietet ARD Kultur für kulturaffine Nutzer einen digitalen Zugang zu kulturellen Inhalten, ist zugleich ein Experimentierraum, und soll zudem auch die Neugier auf Kultur-Inhalte verschiedenster Art wecken.
medienpolitik.net: Die ARD-Anstalten verweisen immer wieder auf ihre innovativen regionalen Inhalte. Warum müssen von Weimar aus zusätzliche Angebote produziert und zentral gesteuert werden?
Wille: Die ARD ist auf dem Weg zu einem regional verankerten Inhalte-Netzwerk. Die neue Gemeinschaftseinrichtung in Weimar ist in diesem Netzwerk ein wichtiger Knotenpunkt, mit digitaler Kompetenz im Kulturellen, ein Netzwerkort mit vitalisierender Kraft, um Kultur für alle zu befördern und erlebbar zu machen.
Brandt: Zu Beginn betrachteten die Landesrundfunkanstalten ARD Kultur durchaus skeptisch. Durch das gemeinsame Entwickeln und Produzieren von Programmen ist die Akzeptanz deutlich gewachsen und ARD Kultur stellt heute eine Erweiterung des regionalen Kulturkosmos dar. Es sind für die ARD Mediathek und Audiothek gemeinsam neue Produkte entstanden, die es ohne ARD Kultur nicht gegeben hätte.
„Das nationale Portal soll ein Navigator sein durch die deutsche Kulturlandschaft – von der Ostsee bis zum Breisgau, vom Ruhrpott bis in die Lausitz.“ Karola Wille
medienpolitik.net: Also führt eine „Zentralisierung“ von Kompetenz und Verantwortung innerhalb der ARD zu mehr Innovationen und Relevanz?
Wille: Die Stärke der ARD sind die föderale Struktur und Verwurzelung. ARD Kultur ist ohne die Kompetenz und den Ideenreichtum in den Landesfunkhäusern so nicht denkbar. Die Innovationen entstehen häufig aus der Wechselwirkung von regionaler und nationaler Sicht. Eine Redaktion von elf Kolleginnen und Kollegen in Weimar kann nicht ersetzen, was von Journalistinnen und Journalisten zwischen Kiel und bis Konstanz gesehen, gehört, erlebt und gedacht wird. Das nationale Portal soll schließlich ein Navigator sein durch die deutsche Kulturlandschaft – von der Ostsee bis zum Breisgau, vom Ruhrpott bis in die Lausitz. Im Zusammenspiel von ARD Kultur und der ARD-Kulturkoordination beim MDR sowie der Kuratierung der Themenwelt Kultur in der ARD Mediathek werden Innovationen gefördert und Relevanz gestärkt.
medienpolitik.net: Ist ARD Kultur auch repräsentativ für das Kulturangebot der Landesrundfunkanstalten?
Brandt: Ja, das bestätigen Ihnen auch die Rundfunkanstalten. Die Kuratierung erfolgt gemeinsam zwischen der Redaktion von ARD Kultur und den Häusern. Wöchentlich findet eine Abstimmung über die Themen und Beiträge statt und die Anstalten möchten inzwischen, dass viel von ihnen bei ARD Kultur gezeigt wird. Die regionale Vielfalt, die die ARD auszeichnet, findet sich auch auf dem Portal. Wir haben uns aber auch verständigt, dass sich auf ARD Kultur keine Beiträge befinden, die kürzer als sieben Minuten sind. Also Kulturnachrichten entdeckt man bei uns nicht, die Magazine aller ARD-Häuser, von 3sat und ARTE sowie ttt aber schon. ARD Kultur ist aktives Mitglied der ARD Kulturkoordination, die von mir geleitet wird. Eine bessere Vernetzung untereinander und eine größere Sichtbarkeit der vielfältigen ARD-Kulturthemen sind unser gemeinsames Ziel.
medienpolitik.net: Was hat zum Bewusstseinswandel in den Landesrundfunkanstalten geführt?
Brandt: Die Redaktion von ARD Kultur hat von Anfang an mit ihren Kolleginnen und Kollegen in den Sendern sehr vertrauensvoll und partnerschaftlich zusammengearbeitet, das hat Vorbehalte schnell abgebaut. So basieren die Eigenproduktionen überwiegend auf Kooperationen. Die Kulturredaktionen in den ARD-Anstalten entscheiden mit der Weimarer Redaktion gemeinsam, welche Themenfelder besetzt werden sollen und wie sich ARD Kultur entwickeln soll.
Wille: Die Entscheidung der Intendanten, mit ARD Kultur eine weitere inhaltliche Gemeinschaftseinrichtung mit dem Schwerpunkt Kultur zu schaffen, hat natürlich auch den Stellenwert der Kulturverantwortlichen innerhalb des Senderverbundes und damit der Kultur innerhalb der ARD gestärkt.
medienpolitik.net: Die Startseite des Portals und auch die Übersichten sind anscheinend sehr stark auf junge Nutzer ausgerichtet. Müssen und wollen Sie Ältere mit Ihren Kulturthemen nicht mehr erreichen?
Wille: Wer sagt, dass wir Ältere damit nicht erreichen? Wir denken generationenübergreifend. Das Portal ist bislang ganz bewusst mit einem breiten Kulturbegriff für alle gesellschaftlichen Gruppen offen angelegt.Wirbündeln auch nach Themenschwerpunkten und wissen, dass sich auch ältere Nutzerinnen und Nutzer durchaus für bestimmte Genres interessieren, die vordergründig vermeintlich die Jüngeren ansprechen. Bei der Musik hat Techno beispielsweise sehr viele Anhänger auch unter 40- und 50-Jährigen. Maßgebend ist für uns aber auch, dass sich das Mediennutzungsverhalten ausdifferenziert hat und wir die Online-Affinen schon besonders berücksichtigen. Ein Schwerpunkt liegt bei den 30-50-Jährigen, die mit 21 Millionen eine sehr große Gruppe in unserer Gesellschaft sind. Wir wissen aus der Medienforschung, dass hier ein Potenzial von 12 Millionen Menschen in Deutschland besteht, die Interesse an einem digitalen Kulturangebot haben. Aber natürlich findet das Publikum auf dem Portal auch klassische Musik oder die traditionelle Oper.
„Die Kulturredaktionen in den ARD-Anstalten entscheiden mit der Weimarer Redaktion gemeinsam, welche Themenfelder besetzt werden sollen und wie sich ARD Kultur entwickeln soll.“ Jana Brandt
medienpolitik.net: Bei 21 Millionen erreichen Sie aber einen großen Teil der Bevölkerung nicht…
Wille: Neben ARD Kultur bestehen selbstverständlich weiterhin die Kulturwellen der ARD, die Kulturformate im Fernsehen oder auch die Übertragungen kultureller Events, die weiterhin linear genutzt werden können und ebenfalls vielfältige kulturelle Inhalte bieten. In Summe reden wir also davon, ein noch größeres Publikum erreichen zu wollen als bisher. Und in der heutigen Zeit, in der die Menschen individuell ganz unterschiedlich Medien nutzen, ist es zur Erfüllung unseres gesellschaftlichen Auftrags erforderlich, Angebote weiterhin noch linear und eben auch zunehmend non-linear zu verbreiten.
medienpolitik.net: Gibt man beispielsweise in der Suchmaske „Wagner“ ein, kommen 14 Audio- und Video-Beiträge mit Titeln wie: „Warum Hitler Richard Wagner vergötterte“ oder „Der Ring des Nibelungen als Fantasy-Hörspiel“ oder den „Podcast über Techno: 2 On The Floor – Westbam+1“, aber nicht einen einzigen Bericht über eine Wagner-Premiere oder ein Konzert. Ist das Absicht?
Wille: Wir stehen erst am Anfang des Aufbaus des Portals und wir wissen, dass die Reflektion verschiedener Themen und Genres breiter werden muss. Wie wollen aber ganz bewusst auch überraschende und spannende Perspektiven bieten und nicht nur zeigen, was schon bekannt ist. Auch „Wagner“ hat verschiedene Seiten und Aspekte. Aber natürlich sollte der „klassische Wagner“ auch vorkommen. Doch ein solcher Inhalt findet sich eben auch in der Mediathek und Audiothek. Das wollen und können wir nicht ersetzen. Und wenn ein Angebot zu „Wagner“ in der Mediathek oder Audiothek ist, dann ist es auch auf dem Portal kuratiert. Was auf das Portal kommt, geschieht in Absprache mit den ARD-Häusern. Und außerdem wäre es sicherlich auch ein Thema in den linearen Kulturmagazinen, die wiederum auf dem Portal zu finden sind.
medienpolitik.net: Viele eigenproduzierte Beiträge sind ein Resultat des Creators-Wettbewerbs. Wie ist der Stand der Umsetzung?
Brandt: Es sind inzwischen alle neun Produktionen entstanden, die aus dem Wettbewerb hervorgingen. Wir wollten damit nicht nur Programm produzieren, sondern verschiedene Kunstformen verknüpfen. So verbindet das Multimediaprojekt „Wie Weimar wohnt“, welches aus Anlass des 100. Jahrestages des ersten Bauhaus-Hauses – dem Haus am Horn – in Kooperation mit der Klassik Stiftung Weimar entstanden ist, die Kunst der Fotografie mit dokumentarischem Erzählen. Die Fotos des Projektes sind noch das gesamte Jahr 2023 in der ganzen Stadt zu sehen. Zusätzlich sind 2022 insgesamt elf Eigenproduktionen, zumeist in Kooperation mit den Landesrundfunkanstalten, entstanden.
medienpolitik.net: Wie steht es um die angekündigten Partner. Wer ist heute bereits Partner von ARD Kultur?
Wille: Wille: Unser lebendiges kreatives Netzwerk besteht heute bereits aus zahlreichen unterschiedlichen Partnerinnen und Partnern, die auch auf dem Portal sichtbar sind. Das reicht von der Kulturstiftung des Bundes, über die Klassik-Stiftung Weimar, die Bauhaus Universität Weimar, Kunsthochschulen bis zu Literaturhäusern. Natürlich gehören alle ARD-Häuser, aber auch das ZDF, Deutschlandradio, 3Sat und die Deutsche Welle zum Netzwerk. Wir bauen das Netzwerk Stück für Stück weiter aus und wollen beispielsweise auch das Goethe-Institut und die Bundeszentrale für politische Bildung einbeziehen. Wer Vielfalt will, muss einbinden. Dieses künstlerische Kompetenz-Geflecht soll auch auf dem Portal noch stärker gespiegelt werden und die Kulturlandschaft inspirieren. Zum Thema „Wie Weimar wohnt“ planen wir beispielsweise mit ZDF Kultur einen Workshop zum Thema „Wohnen“, aus dem Ideen für ein YouTube-Angebot entwickelt werden sollen. In einem ersten Netzwerktreffen kürzlich am Rande der Leipziger Buchmesse sind wir auch mit vielen Produzentinnen und Produzenten zusammenkommen, um den kreativen Diskurs zu kulturellen Inhalten im Digitalen zu befördern. Auch die Kulturstiftung des Bundes hat z.B. zu Beobachtungen und aktuellen Trends Impulse gegeben.
medienpolitik.net: Wie wird sich das Portal in den nächsten Monaten weiter verändern?
Wille: Das hängt auch vom Ergebnis des Drei-Stufen-Tests ab. Da das ein ARD-Angebot ist, müssen das auch die Gremien des Senderverbunds entscheiden. Wir rechnen im Herbst mit dem Abschluss des Drei-Stufen-Tests. Mit Hilfe des Portals möchten wir das Netzwerk ausbauen und ARD Kultur auch als Dialograum weiterentwickeln.
medienpolitik.net: Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des deutschen Kulturrates hat kürzlich geschrieben: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seinen Kernauftrag, die Information und die Kulturberichterstattung, immer mehr aus den Augen verloren und damit selbst die Argumente geliefert, die jetzt gegen ihn verwandt werden.“ Ist ARD Kultur ein Alibi für eine mögliche Verringerung der Kulturberichterstattung der ARD?
Wille: Nein. Im Gegenteil: ARD Kultur soll ein neues, zusätzliches Kulturangebot sein und damit den Kulturauftrag und den Markenkern der ARD stärken. Kunst und Kultur sind gerade jetzt elementar, wenn große Zukunftsfragen für unsere demokratische Gesellschaft zu diskutieren sind. Ihr Stellenwert als Brückenbauer, als Bindegewebe, als Reibungsfläche oder als kritisches Korrektiv ist von hohem gesellschaftlichen Wert, um auch Veränderungen in der Gesellschaft aufzuspüren, Vielfalt sichtbar zu machen und Diskursräume nicht zu verengen. Das Portal ist somit auch ein Experimentier- und Erfahrungsraum, er soll auch Nutzerinnen und Nutzer erreichen und anregen, die sich bisher nicht so sehr für Kultur interessiert haben. Wir wollen Impulse geben – mit Leidenschaft, Entdeckergeist und Exzellenz.